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8

Ältere Leute erinnern sich deutlich an Tage und Daten aus der Vergangenheit; sie finden es so herrlich, allerlei Kleinigkeiten im Kopfe zu behalten, als sei das etwas Wertvolles, etwas, das ihnen einmal nützlich sein könnte. Sie heben auch Zeitungsausschnitte auf.

Jetzt hören die Leute eine fremde Dampfpfeife in der Bucht ertönen. Das ist keiner der Postdampfer, und es ist auch nicht das kleine Frachtboot, das jede Woche einmal an jede Haustür kommt, deshalb steigen die Leute auf ihre Hausdächer und halten Ausschau.

Es ist die Fia! sagen sie. Seht, wie sie geflaggt hat!

Und in demselben Augenblick denken sie unwillkürlich an die große Volksmenge, die an jenem längstvergangenen Sonntag ans Bollwerk hinuntergewandert war; sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und wissen am Alter ihrer Kinder, in welchem Jahr das gewesen ist. Es war eine wahre Völkerwanderung, dessen entsinnen sie sich wohl, und damals sollte die Fia nach dem Mittelmeer fahren. Nun kehrt sie zurück nach den langen Fahrten auf den weiten Meeren, an Bord ist alles festlich geschmückt, und die Herzen sind wohl von Stolz geschwellt. Auch der Matrose Oliver Andersen war damals an Bord gewesen.

Jetzt humpelt Oliver ans Bollwerk hinunter, er wirft sich mit dem Stelzfuß vorwärts, strengt sich an; er ist so unschuldig, zu glauben, die Kameraden werden nach ihm ausschauen, sie würden ihn als den ersten am Bollwerk erwarten. Nein, sie erwarten ihn nicht, er ist vergessen. Sie betrachten von der Reling aus diesen Krüppel und erkennen ihn; aber sie bezeugen keine Freude, er muß sie zuerst grüßen und zu den alten Freunden hintreten. Da steht nun Oliver; er ist etwas ergraut, und sein Haar ist dünn, obgleich er noch ein junger Mann ist, dagegen ist er merkwürdig dick geworden, mit wahren Hängebacken. Hat er es auf der lieben Gotteserde so gut bekommen? Ist sein Unglück ein verkapptes Glück gewesen?

Von der Reling aus werden einige teilnehmende Worte mit ihm gewechselt, weil er ein Krüppel geworden ist, aber die Matrosen halten sich nicht mit ihm auf; sie haben wohl keine Zeit, ihre Augen laufen suchend den Weg hinauf – gerade jetzt kommt ihr Mädchen, ihre Mutter oder ihre Frau mit den Kindern, sie müssen sich nun in aller Eile noch ein wenig putzen, ehe sie da sind. Natürlich ist auch Olaus vom Anger mit seiner Pfeife da, und er ist so, wie er immer war, betrunken und großsprecherisch. Wenn die Mannschaft der Fia beabsichtigt hatte, sich bei ihrer Heimkehr aus unglaublich fernen Landen etwas aufzuspielen, so verdarb ihnen Olaus das gründlich, er bewies ihnen auch nicht das kleinste bißchen Hochachtung.

Woher kommt ihr? fragte er.

Von einem Lande, das China heißt.

Das bedeutete für Olaus gar nichts. Ach so, von China. Ja, die Welt ist nicht mehr groß, sagte er, in alten Tagen, da konnte ein Seemann sagen, er komme von weit her. In der vorigen Woche liefen hier im Ort zwei Männer herum und bettelten um Geld und Essen. Ich fragte sie, woher sie kämen. Von Persien, sagten sie. Ja, aus Persien, von dem wir in der biblischen Geschichte gehört haben und von dem niemand weiß, wo es liegt. Hast du Tabak für meine Pfeife?

Man reicht ihm Tabak, er bedankt sich nicht, aber er erkennt den Tabak an, indem er äußert: Ich habe schon schlechteren geraucht. Und während er eine Landungstreppe mit seinen anderthalb Armen aufs Schiff wirft, kommandiert er: Da, faßt an und vertäut sie!

Das war Olaus. Das Schicksal hatte auch ihn verfolgt, den Einhändigen mit dem ewig blauen Gesicht, aber ob er dabei dick und ruhig geworden ist? Zum Kuckuck nein! Er war nicht dick und tot wie ein Tier, und ebensowenig hatte er ein feines und blasses Gesicht wie ein Adliger, sondern er war betrunken und großsprecherisch. Er zehrte von seinen Reserven. Ja, wozu hat man denn sonst Reserven, als um von ihnen zu zehren?

Oliver steigt an Bord. Das hätte er nicht tun sollen, nein, sie begrüßten ihn nicht mit Jubel, sie nahmen nur seine ausgestreckte Hand und sagten das Notwendigste. Alle waren von ihrem Eigenen in Anspruch genommen. Sollte sich Oliver über Menschen verwundern, die es möglich machten aus China zurückzukommen? Der weitgereiste Matrose war ja selbst dort gewesen, für ihn war nichts neu. Nein, Oliver hätte nicht an Bord gehen sollen, jetzt hatte er überdies sein Englisch vergessen und konnte nicht mehr so recht in der Matrosensprache reden. Das Mannschaftslogis war genau wie früher, ein dunkler, übelriechender Schacht, obgleich da gespült worden war wie zum Sonntag. Er setzte sich an den wohlbekannten Tisch und schwatzte und schwatzte da immerfort von sich; im Anfang hörte man ihm zu, aber sie wollten ihn lieber nach den Ihrigen am Lande und nach den Honoratioren des Ortes fragen; so gingen sie wieder auf Deck und schauten nach ihren Angehörigen aus.

Oliver sagt: Ja, nehmt nun an, daß ich ganz marode bin.

Ja du, dir ist wohl der Unterleib ordentlich kaputt geschlagen worden?

Was, mir, der Unterleib? Ich bin ein verheirateter Mann mit vielen Kindern. Eine Trantonne kann einem Mann nicht den Leib zerschlagen.

Was für eine Trantonne? fragt Kaspar.

Oliver denkt nach und wird verwirrt.

Bist du nicht heruntergefallen und hast einen Querbalken zwischen die Beine bekommen?

Nein.

So lange hatte Oliver nun von dieser Trantonne geredet, daß er vielleicht selbst an sie glaubte, aber dann war es also keine Trantonne gewesen. Was hatte er mit dieser Lüge erreichen wollen? Wollte er etwas verbergen? Oliver faßt sich und schwatzt weiter. Vom Kapitän sah er gar nichts, und die Matrosen waren zurückhaltend, o, sie hatten wohl in den Briefen von zu Hause von seinem ganzen späteren Lebenslauf Kunde bekommen; er hatte sich schlecht gemacht, es war genug Klatsch über ihn und sein Haus im Umlauf. Armer Oliver jetzt, selbst als er aus der Tasche die Zeitung mit der Seemannstat hervorzog und vorzeigte, machte das keinen größeren Eindruck. Nein, denn jetzt kamen die Angehörigen heran.

In Olivers Augen glimmte es auf. Jawohl, er war dick und wie etwas geistesschwach, aber bisweilen brach eine rohe Verschlagenheit bei ihm durch. Er trat zu Kaspar, seinem Freund und früheren Altersgenossen, und sagte: Kommt deine Frau nicht, Kaspar?

Doch, das wird sie schon, sagt Kaspar.

Ja, denn sie ist wohl wieder daheim.

Wo ist sie gewesen?

Das weiß ich nicht. Sie ist ein Jahr lang fort gewesen. Es hieß, sie sei im Ausland.

Was erzählst du da? fragt Kaspar unbehaglich berührt.

Ich? Ach, es ist einerlei, was so ein armer Tropf wie ich sagt. Aber für dich und die andern kann es doch ganz einerlei sein, ob eine Trantonne oder ein Balken mich kaputt gemacht hat.

Ja, das ist wahrhaftig einerlei, sagt jetzt auch Kaspar. Was hat sie denn im Ausland getan?

Es heißt, sie sei Kajütjungfer auf einem Schiff gewesen.

Nein, denn ich habe jedes Jahr von hier aus Briefe von ihr bekommen.

Ja ja, sagt Oliver.

Auf dem Heimwege begegnet er Kaspars Frau; sie ist im Staatsgewand, sieht unschuldig aus und ist auf dem Wege ihren Mann abzuholen. Im Vorbeigehen sagt Oliver zu ihr, daß ihr Mann auf sie warte; aber ob die Frau nun zu geputzt und zu unschuldig war, um Oliver etwas zu erwidern – sie eilt an ihm vorüber.

Oliver geht heim in sein Haus und zu seiner Familie. Der Besuch an Bord der Fia war entschieden ein Mißgriff gewesen. O, Glück auf die Reise, er würde nicht öfters hingehen. Und was Kaspar und seine Frau betraf, so erwartete er nicht viel, von dieser Seite: hier war ein ganzer Ort Mitwisser. Überdies war ein Krüppel durch seine eigene Elendigkeit geschützt, selbst wenn er ein paar Eheleute aufeinanderhetzte.

Er setzt sich an den Tisch und fängt an, über die Mannschaft auf der Fia zu schimpfen, sie sei lauter Pack, er hätte jeden einzelnen durchprügeln sollen, damals, als er noch seine volle Körperkraft besaß.

Petra erwidert nichts, sieht nicht nach der Seite, wo er sitzt, so überdrüssig ist sie seines Geschwätzes und seiner Person. O, dieser Fettklumpen auf dem Stuhl dort, er schnauft, er hat einen regelrechten Anzug an, er hat Knöpfe am Anzug, auf dem oberen Ende sitzt ein Hut schräg auf dem Ohr. Sie kannte alles in- und auswendig, seinen Stelzfuß, der absteht und das kleine Zimmer versperrt, seine Reden, seine Lügen, seine Großmäuligkeit, seine Stimme, die einer Frauenstimme immer ähnlicher wird, die matten wasserblauen Augen, den allzeit feuchten Mund! Mit jedem Jahr verfiel er sozusagen mehr, nur sein Appetit war immer derselbe. Und es gab nicht immer Essen genug.

Merkwürdig! Das Leben in der Stadt ging seinen Gang, und es war sogar stark im Aufschwung begriffen. Als die Tanzlehrerin ihre Arbeit getan hatte und abgereist war, wurde jeden Samstagabend im Rathaussaal getanzt, und ebenso deutlich zeigte sich der Aufschwung in den Kleidern und in der Lebensweise der Leute. Aber bei Oliver und Petra ging nichts aufwärts, nein, nur abwärts ging's, ganz herunter ging's. Hatte nicht der verrückte Mann die Zieraten auf der Kommode verkaufen wollen, den weißen Engel und das Sparschweinchen vom Ausland? Dann eines Tages im Winter ging Oliver in die Stadt und verkaufte das Haus, in dem er wohnte. Es war ein gewissenloses Tun.

Schon mehr als einmal hatte er das Haus verkaufen wollen, der Rechtsanwalt Fredriksen, dem es gehörte, würde einem Krüppel gegenüber doch wohl ein Mensch sein. Aber Rechtsanwalt Fredriksen dachte wohl, er habe Oliver schon genug geholfen, als er ihn mit seiner Bemerkung über die Seemannstat berühmt gemacht hatte; warum tat er nicht noch mehr Großtaten? Das Haus verkaufen, das Haus eines andern –

Oliver wurde einfach verklagt.

Seht, dieser Oliver Andersen hätte ja von Rechts wegen längst hinausgeworfen werden müssen, aber die Stadt beschützte den Krüppel. Jetzt hatte er sich endlich selbst durch ein Verbrechen jegliches Schutzes verlustig gemacht.

Oliver stapfte zum Rechtsanwalt und bat um Gnade, der Handel solle rückgängig gemacht werden, das Ganze sei also fast ungeschehen. Es half aber nichts, der Rechtsanwalt wollte die Gelegenheit benützen, das Haus leer zu bekommen. Nein, es half nichts, bis Petra zum Rechtsanwalt ging und recht hübsch bat; aber auch Petra gelang es nicht gleich beim ersten Male.

Das war ein Zustand, die Heimat dicht vor dem Abgrund. Was war dabei, wenn sich Petra da von daheim fortschlich und sich auf die Treppe des Tanzsaales setzte, um in einer Abendstunde ein wenig selig zu träumen! Oliver, der Mann, krepierte nicht vor Scham und Not, im Gegenteil, er tat noch groß und schimpfte über den Rechtsanwalt, über den Leuteschinder, der sich einem Krüppel gegenüber nicht als Mensch zeige. Na, einerlei, wenn Oliver um das Geld für das Haus betrogen werde, dann sei er dadurch nicht mehr ruiniert als vorher; es fehlte ihm durchaus nicht an Auswegen, wenn er daheim saß und mit seiner Familie redete. Den Platz beim Leuchtturm, nein, den hatte er aufgegeben, aber wer könne ihn daran hindern, sich einen Rollstuhl anzuschaffen und in den Gemeinden herumzufahren? Oder wie, wenn er in eine große Stadt führe und auf der Drehorgel spielte?

Ja, sagte Petra, das solltest du nur tun!

So. Und wovon solltest dann du und die Familie leben?

Ja, wovon sollten sie leben? Vielleicht konnte er so viel verdienen, daß er etwas Geld heimschickte. Aber da hatte Petra ihre Zweifel. Auch die Großmutter zweifelte daran, ja, sie sagte gerade heraus, Oliver werde wohl den ganzen Verdienst aufessen.

So wurde nichts aus der Reise des Versorgers, und der Fuß, auf dem die Familie lebte, blieb derselbe wie vorher. Aber sie lebten von einem Tag zum andern, sie lebten es auch durch, sie überlebten es.

Warum sollte es auch so schlecht gehen? Der Versorger war körperlich unvollkommen, was dann? Hannibal war einäugig, Alexander hinkte. Oliver war von guten Eigenschaften nicht ganz entblößt, was wollte man denn? Er war eigentlich friedlich von Natur, er ging nicht mit blutunterlaufenen Augen und furchtbar gebleckten Zähnen umher und wartete darauf, bis die kleinen Kinder fürs Schlachten reif wären, nein, er war freundlich gegen Kinder. Mißgestaltet? Jawohl, da war das leere Hosenbein, das so jämmerlich hin und her schlug, wenn er ging. Aber er war zum Beispiel nicht wie die Buckligen, die, wenn sie gehen, aussehen, als trügen sie sich selbst auf dem Rücken. Entblößt von guten Eigenschaften? Er trank nicht, o nein, niemals, er rauchte nicht einmal mehr Tabak, nein, in dieser Beziehung war er wie ein Frauenzimmer geworden.

Natürlich wurde es nicht ein bißchen besser, sondern eher schlimmer, als das dritte Kind kam, ein Mädelchen, das bei Nacht schrie und den müden Versorger aufweckte. Nun konnte Oliver seiner Lust zum Umherschweifen wieder nachgehen, von zu Hause verschwinden, in seinem Boot weit hinausfahren und tage- und nächtelang fortbleiben. Gott mochte wissen, was er da suchte und was er fand. Besonders nach einem Sturm auf dem Meere machte er diese Ausflüge, er war vielleicht so kindlich, auf ein neues, havariertes Schiff zu hoffen. Einmal fand er übrigens einen umhertreibenden Handkoffer; er enthielt nur etwas Leibwäsche, etwas weiblichen Staat, aber Oliver trug ihn heim und tat groß damit, und es fiel ihm nicht ein, an diesem Tag noch irgendwie Hand an eine Arbeit zu legen. Ein andermal fand er eine leere, aber verkorkte Paraffinkanne, ab und zu kam er mit einem Häuschen Eiderdaunen an, das er von den Nestern auf den Brutinseln geraubt hatte. Er wußte, daß dieser Flaum sehr wertvoll war, aber er wagte nicht, ihn in der Stadt zu verkaufen, er mußte ihn aufheben.

Das Ärgerliche war, daß Petra seine Fundstücke so wenig schätzte, o, sie pfiff darauf. Er konnte sich vom Bollwerk aus heimschleichen, um von niemand gesehen zu werden, mit geschwellter Brust in die Stube treten und seine Beute auf den Tisch legen. Hier, da ist etwas zum Verwundern, bitte! Aber Petra murrte dann: Das ist der Verdienst von drei Tagen! Was sollen wir mit Eiderdaunen! Und was sollen wir mit einer leeren Paraffinkanne?

Da fiel Oliver kopfüber wieder auf die Erde herunter, und er antwortete wohl: Jetzt hast du wieder deinen Koller!

Doch Petra entgegnete auffahrend: Was habe ich, einen Koller? Sieh die Kleine dort in der Wiege an, liegt sie etwa auf Eiderdaunen?

Oliver richtet seine Augen auf das Kind; es liegt in Lumpen, aber es fehlt ihm nichts, es schreit nur, weil es zahnt. Doch plötzlich steht Oliver auf und sieht näher hin, zum erstenmal betrachtet er das Kind genau.

Was zum Kuckuck, hat sie blaue Augen! fragt er.

Petra zuckt zusammen und antwortet: Das siehst du doch!

Woher kommt das?

Woher es kommt? Kann ich das wissen? Wie du nur fragen kannst!

Oliver bleibt wie angewurzelt stehen und starrt und starrt. Wie verwirrt er ist und wie dumm: sollte ein Kind von blauäugigen Eltern nicht blaue Augen haben? Aber die andern, die Jungen, sie hatten braune Augen. Da steckte etwas Neues dahinter. O, Oliver hatte wohl in all diesen Jahren seine eigenen Gedanken gehabt und sie in stumpfer Gleichgültigkeit mit sich herumgetragen; jetzt stand er vor einem Rätsel. Wo war Petra gewesen? Daheim. Daheim. Eine Frau, die Scheldrup Johnsen Backpfeifen gab, lief nicht draußen herum.

Lief sie nicht draußen herum – tat sie das nicht?

Eine ungeheuere, unnatürliche Eifersucht lodert in dem Krüppel auf, zum erstenmal kennt er diesen fremden, brennenden Schmerz, er ist so heftig, daß sich sein Gesicht verzerrt und Petra Angst bekommt; sie deckt das Kind zu. Oliver schwankt ans Fenster hin und sieht hinaus. Wenn nun braune Augen die richtigen Familienaugen waren, wie konnten dann blaue Augen dasselbe sein? Er kennt all den Klatsch über sich und sein Haus recht wohl, der ist nicht so zart und unschuldig gewesen, daß er ihn nicht verstanden hätte, das letzte, was er gehört hatte, war: Petra werde wohl Scheldrup Johnsen nicht immer Backpfeifen versetzt haben! Und wenn auch – Scheldrup Johnsen hatte braune Augen, die Kleine in der Wiege aber blaue.

Eine Schlange fraß sich in sein Herz hinein. Bis jetzt war es ihm gut gegangen, nun würde es ihm nicht mehr beschieden sein, sich die Unruhe fernzuhalten. Unruhe? Not drang auf ihn ein, sie wurde zur Qual. Er fing an, an den Straßenecken aufzulauern, dann sprang er plötzlich vor, packte Petra an der Brust und fragte, wohin sie wolle. Nacht und Tag war er auf der Wacht, und er fand nie mehr Ruhe, sein Haar ergraute. Der einzige Ort, wohin Petra ungehindert gehen konnte, war auch jetzt noch das Haus Johnsen am Landungsplatz, dahin, ins Haus und in den Laden, durfte sie jedesmal ohne Einwand gehen. Aber er ging ihr nach und gab acht, daß sie auch wirklich dahin ging.

Seine Verrücktheit dauerte an; er versäumte das Meer, um im Hinterhalt zu stehen und Petra aufzulauern, er bettelte Fische bei den andern Fischern, um etwas nach Hause bringen zu können. Und Petra, die dumme Person, verstand es nicht, seine Eifersucht zu dämpfen, sie stachelte sie eher noch auf. Als diese eine Zeitlang gedauert hatte und sie merkte, daß sie ihr für Leib und Leben ungefährlich war, stachelte sie Oliver bis zur Raserei auf. Die blauen Augen können von dem Schreiner Mattis stammen, dachte er wohl, und erfand keine Worte, die für diesen Mann verächtlich genug waren, dieses Nashorn, diesen Schürzenjäger!

Petra verteidigte ihn.

Na, hat er jetzt nicht einmal mehr eine schreckliche Nase?

Nein. Diese Nase steht ihm gerade.

Schweig! Er ist ja Schreiner, da sollte er sich einen Stall für seine Nase bauen.

Und sonderbar: es war, als gebe es noch andere, die der blauen Augen wegen, sozusagen, eifersüchtig wurden; aber Konsul Johnsen scherzte ja und tat nur so, wie wenn er eifersüchtig wäre, als er mit Petra darüber sprach.

Du hast eine kleine Tochter bekommen, Petra, wie ich höre?

Ja.

Und mit himmelblauen Augen diesmal.

Petra sah zu Boden und schwieg.

Nicht alle können himmelblaue Augen haben, sagte der spaßhafte Mann. Nein! tat er dann plötzlich kund, ich habe keinen Platz für deinen Mann, hörst du? Probier es beim Grütze-Olsen!

Wieder mußte Petra unverrichteter Sache heimgehen, heim zu ihrer Familie und dem Elend. Es war ein Zustand, niemand wurde so hart geprüft. Ab und zu weinte sie und hatte aufrichtig Mitleid mit sich selbst; aber sie war zu jung und zu gesund, um ganz mutlos zu werden, nicht so sehr selten stand sie unter ihrer Tür, lachte und schwatzte mit den auf der Straße Vorübergehenden – tiefer war sie nicht getroffen.

Die Jahreszeiten wechselten, und die Zeit verging, Olivers Buben waren nun beide in der Schule; Frank hatte die besten Gaben, er hatte einen Freiplatz und glänzende Zeugnisse, aber das Eichhörnchen Abel war auch nicht dumm, nur ein unglaublicher Bandit war er, mit ganz anderen Neigungen. Es ging und ging, die Gewohnheit half dazu, und Gott verlieh der Familie zur Stärkung einen gewissen zähen Willen, nicht unterzugehen. Der kleine Abel zum Beispiel kleidete und ernährte sich meist selbst ringsum in der Stadt. Übrigens war es für ihn selbst oft am schmählichsten, so ein kleines Eichhörnchen zu sein: als er eines Tages draußen auf dem Lande war, plagte ihn der Hunger über die Maßen. Da er aber weder etwas zu essen noch ein Wams, das er auf einem Waschseil »fand«, geschenkt bekommen konnte, fragte er ganz einfach, ob er nicht eine Tasse Kaffee kaufen könne. Aber da wurden die Leute auf dem Hofe schändlich gegen das Eichhörnchen, sie erwiderten, ob er denn überhaupt Kaffee trinken dürfe. Was, dürfe? Diesem Hof wollte er nie mehr nahe kommen, ehe er erwachsen war!

Bruder Frank ging nicht auf Erlebnisse aus, dazu war er zu klug. Auch er bekam manche Mahlzeit und manches Kleidungsstück im Städtchen, ja, einmal im Jahre bekam er einen vollständigen Anzug in Konsul Johnsens Geschäft und kam vom Scheitel bis zur Sohle erneuert heim. Ein solcher Mann war Johnsen am Landungsplatz, herrlich dazu geeignet, zu leben und andere leben zu lassen.

Es ging und ging. Bisweilen zog auch die Großmutter wieder hinaus und kehrte dann mit guten Sachen heim, mit Kartoffeln, Speck, einer Tüte Mehl, einem Käslaib. O, die Großmutter war nicht zu verachten; wenn sie nur die Unterstützungskasse nicht in Anspruch zu nehmen brauchte und die andern Weiber am Brunnen sie nicht schmähten, dann konnte sie mehrere Kirchspiele durchwandern, und ihre Vorräte aus den Dörfern waren eine gute Hilfe. Wahrlich, sehr oft war es nur der Großmutter zu verdanken, wenn die Familie etwas zum Beißen und in den Ofen zu legen hatte, so fleißig war die Großmutter geworden.

Oliver selbst ging es am schlechtesten. Seine Krankheit wollte nicht weichen. Jetzt war er wieder kurze Zeit auf dem Fischfang gewesen, und das kam daher, weil er ein neues Boot bekommen hatte. Seht, er hatte ja eine Fahrt aufs Meer hinaus gemacht, und da hatte er das Boot herrenlos umhertreibend gefunden; das war ausgezeichnet, das Boot hatte wohl irgendwo vertäut gelegen und war abgetrieben worden, es konnte von weit her sein, vielleicht vom Ausland. Nun hätte er allerdings das Boot anmelden sollen, wer zweifelte daran; aber wie es nun ging oder nicht ging, Oliver behielt das Boot und kam auch nicht in Verlegenheit dadurch. Niemand machte ihm einen Vorhalt, der Krüppel brauchte das Boot, er konnte in seinem eigenen elenden Fahrzeug sonst eines Tages untergehen. Zuerst hatte Oliver ja gedacht, er könnte das Boot verkaufen und Geld dafür bekommen, aber das verbot ihm die Stadt, das wäre zu weit gegangen. Nein, sagten die Leute im Ort, wenn du es gefunden hast, dann sollst du es haben! Also fischte Oliver in allen Freistunden und gebrauchte sein neues Boot.

In allen Freistunden.

Er hatte durchaus nicht oft frei, seine Krankheit fesselte ihn ans Land, fesselte ihn ans Haus. Petra zeigte ja wieder leichten Widerwillen gegen den Kaffee, und jetzt war Oliver beinahe ganz erschöpft von seiner Wachsamkeit. War er nicht monatelang in Winkeln und Gassen auf der Lauer gestanden, hatte spioniert und gehorcht! Er war schlecht gekleidet und schlecht ernährt, aber die Eifersucht hielt ihn stundenlang auf seinem Posten fest; er stand da mit klopfenden Pulsen und litt wahre Höllenqualen, der Wind zerrte an seinem Hosenbein wie an einer Flagge, die sich um eine Stange gewickelt hat. Er hatte ja eigentlich niemals frei, er war bei Nacht nicht sicherer als am Tage, er machte Überstunden, er schindete sich ab. Wenn ihn das wenigstens aufs Krankenlager gebracht und getötet hätte, aber nein! Ein Frauenzimmer hüten zu müssen! Warum sie nicht lieber laufen lassen und das Haus zuschließen! Was war bei dieser Frechheit zu tun, eine Frechheit, die ganz unschuldige Augen hat und niemals des Lügens überdrüssig wird? Er konnte sie von der einen Seite her erwarten, und dann kam sie von einer andern, wo war sie da gewesen? Sie konnte, ein Liedchen trällernd, einherkommen, da war gar nichts, was sie bedrückte; was für Gedanken hatte sie wohl, warum schmunzelte sie vor sich hin und wiegte sich in den Hüften?

Was stehst du hier und lauerst? sagt Petra nur und versinkt durchaus nicht in den Boden.

Woher kommst du? Jetzt ist es Nacht.

Bin ich nicht beim Konsul gewesen? Was hast du da in der Hand; das Messer?

Das siehst du wohl.

Das Fischmesser! Warum stehst du mit dem Messer da?

Ich hab es am Bollwerk gebraucht.

Nein, aber du meinst, du könnest mir Angst machen.

Schweig!

Ach, gib dir keine Mühe!

Nein, Petra war sicher; er war feig und widerlich, er war nichts, sie scherte sich den Kuckuck um ihn. Dann geht sie nur an ihm vorbei und hinein, der Mann kommt hinterher. Sie bleibt einen Augenblick im Flur stehen, um ihn zu beschämen, ja, um ihm zu zeigen, daß sie, die Nachtwandlerin, die ordentliche und zuverlässige ist: Seht jetzt nur, ist nicht sie es, die die Haustür hinter sich und ihm zuschließt!

So, du willst zuschließen, sagt Oliver. Abel ist sicher noch nicht daheim.

Dann muß er draußen übernachten.

Er soll nicht draußen übernachten! schreit Oliver erregt, er dreht rasch seinen schweren Oberkörper im Kreise herum und schiebt Petra auf die Seite. Sie fährt auf und sagt: Warum schlägst du mich nicht lieber auf einmal tot!

Ein heftiger Streit entspinnt sich; sie gehen hinein und werfen sich Schimpfworte an den Kopf. Die Großmutter liegt in der alten Stube mit der Kleinen und Frank. Sie richtet sich auf den Ellbogen auf und lauscht, dann legt sie sich wieder nieder, es ist nichts Neues, sie kennt das. Olivers Eifersucht ist für den Augenblick vorbei, und er fühlt sich außerdem befriedigt von seinem Auftreten; leicht wie ein Kind war sie an die Wand geflogen, er ist der Mann, hoho, er wiegt den Oberkörper hin und her.

Das nächtliche Scharmützel zwischen den Eltern kommt Abel zugute: er trampelt so leise wie möglich von der Straße herein und hört, als er zu Bett geht, von keiner Seite irgendein böses Wort.


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