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23

Oliver begibt sich halb betäubt nach Hause. Konnte er so wenig vertragen, daß ein gutes Essen und eine alte Schiffskiste seine Gedanken in Verwirrung brachten? Hatte denn er, Oliver, dann einen verschlageneren Kopf und bessere Überlegung, als der Mann dort unter der Persenning?

Er trifft einige von der Mannschaft des Engländers, die jetzt wieder an Bord gehen, sie kommen vom Gasthaus und sind recht luftig, Oliver kennt die Sache von früher her.

Vor Grütze-Olsens Haus sieht er Leute stehen mit Regenschirmen und Laternen, es sind die Herren, die bei der Abendgesellschaft gewesen sind und die jetzt Abschied voneinander nehmen und heimgehen. Der Doppelkonsul ist nicht dabei, auch nicht Konsul Heiberg, der auch etwas großartig tut und nicht mit Grütze-Olsen verkehrt. Oliver sieht den Rechtsanwalt Fredriksen und vernimmt auch dessen Donnerstimme, er erkennt die beiden Engländer, den Kapitän und den Steuermann, er erkennt Konsul Davidsen, den Postmeister, den Stadtingenieur, den Zollverwalter. Dies war die Gesellschaft. Es fällt ihm ein, er könnte sich sein Geld für die Daunen noch etwas mehr sichern, wenn er Genaueres über den Abgang des Schiffes erführe, darum will er hinter den beiden Seemännern hergehen. Olivers Überlegung ist zurückgekehrt.

Gut Nacht, gut Nacht!

Der Postmeister hat keinen Regenschirm zum Verleihen, aber er fragt ins allgemeine: Darf ich nicht jemand meine Laterne anbieten? Ich habe nicht weit nach Hause. Ihnen, Herr Kapitän?

Nein, vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.

Der Postmeister teilt den Regenschirm mit Herrn Davidsen, der denselben Weg hat, und hält seine Laterne so, daß er selbst das wenigste Licht davon genießt; sie reden nicht viel bei dem starken Wind und über lauter gleichgültige Dinge. Davidsen, der Kleinkaufmann und Konsul ist, hat nun heut abend doch etwas gemerkt, und als sie vor seiner Tür stehen, fragt er geheimnisvoll: Haben Sie gesehen, wie hingenommen der Rechtsanwalt in der Gesellschaft gewesen ist?

Hingenommen?

Von der Dame, von der Tochter, wie heißt sie gleich, Olsens Tochter, die älteste?

Nein, der Postmeister hatte es nicht bemerkt.

Das hat vielleicht etwas zu bedeuten, meint Davidsen.

Das ist wohl möglich, Konsul Olsen hat schöne Kinder, schöne Mädchen; die den Maler geheiratet hat und die noch zu haben ist, sind beide liebenswürdige Damen. Ich sinniere über das nach, was Sie gesagt haben, was sollte das wohl bedeuten? Sie ist so jung und hübsch, der Rechtsanwalt ist ja mindestens doppelt so alt.

Man hat schon mehr so Verrücktes erlebt.

Ach ja, wir arbeiten und mühen uns, freien und kämpfen und quälen uns ab und richten uns darauf ein, spät zu sterben. Entschuldigen Sie, Sie wollten etwas sagen?

Der Kleinkaufmann und Konsul Davidsen hatte wohl gar nichts sagen wollen, aber er hatte vielleicht eine Bewegung gemacht, war ein wenig zusammengefahren, er hatte gewiß Angst, der Postmeister könnte wieder mit einer seiner langweiligen Auseinandersetzungen anfangen, und antwortete darum: Ich wollte nur sagen, daß Sie meinen Regenschirm gerne mit nach Hause nehmen dürfen.

Der Postmeister lehnte ab, nein, danke, es seien ja nur noch wenige Schritte, er habe zu Hause einen Schirm. Doch was er habe sagen wollen: ach ja, zum Unterschied von dem Hasen im Wald und der Möwe auf der See –

Der Rechtsanwalt denkt ja nur an die Mitgift, fährt Davidsen fort.

Und der Postmeister seinerseits fährt auch fort: Ach, was sind wir Menschen doch in endloser Unruhe, Tag und Nacht! Wir kommen nie zur Ruhe. Es gilt nicht, genug zu bekommen, man will mehr als genug bekommen. Unsere Seele steigt in die Höhe und fällt wieder herunter, kriecht auf allen vieren, versucht andere Aufstiege und fällt wieder zurück. Und eines Tages sterben wir. Der englische Kapitän will heute nacht die Anker lichten, das Wetter ist nicht dazu angetan, aber er will trotzdem die Anker lichten. In einer Stadt, zwölf Meilen von hier, soll er eine Ladung einnehmen, er will bereit sein, von morgen früh um sieben Uhr an Holz zu laden. Dann fährt er über die Nordsee und versucht einen neuen Aufstieg. Wenn er schon heute nacht abfährt, gewinnt er einen Tag. Aber gewinnt er einen Tag für sein Leben? O nein, er schindet sich ab, aber er gewinnt einen Tag Verdienst. Die Tiere und die Vögel schlafen bei Nacht.

Wollen Sie nicht meinen Schirm nehmen?

Nein, ich danke, es regnet ja kaum mehr. Ja, nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Der englische Kapitän sprach von Gott –

Ja, er sei fromm, habe ich gehört. Aber jetzt müssen wir zu Bett, Herr Postmeister.

Fromm, ja. Ich verstand vielleicht nicht alles, der Engländer hat seine eigene Religion hier auf der Welt und rechtfertigt sie auf ganz englische Weise. Er unterjocht Volk um Volk, nimmt ihnen die Selbständigkeit, kastriert sie und macht sie dick und still. Dann sagt der Engländer eines Tages: Laßt uns nun der heiligen Schrift gemäß gerecht sein! Und dann gewährt er den Kastraten etwas, das er Selbstverwaltung nennt.

Es ist genau so, wie Sie sagen, Herr Postmeister. Gute Nacht!

Gute Nacht! So, Sie wollen zu Bett? Da war übrigens noch eine andere Sache. Ich frage mich, ob nicht vielleicht die Engländer ihren eigenen Gott haben, einen englischen Gott, wie sie auch ihr eigenes Gepräge haben. Könnten Sie sich sonst erklären, daß sie unablässig auf der ganzen Welt Eroberungskriege führen, und nachher, wenn sie gesiegt haben, meinen, sie hätten eine gute und hochherzige Tat vollbracht? Sie verlangen von allen Menschen, daß sie es so auffassen, sie danken ihrem englischen Gott dafür, daß die Untat gelungen ist, sie werden fromm davon. Und nun erlebt man den merkwürdigen Zug an den Engländern, daß sie voraussetzen, auch andere Völker werden sich dessen freuen, was sie getan haben: Nun müssen doch die Menschen gut werden, sagen sie, laßt nun die Gerechtigkeit walten, werdet fromm! Andern Völkern kommt es merkwürdig vor, daß die Engländer nicht ihre Augen niederschlagen; sie müssen unbedingt ihren eigenen Gott haben, der mit ihnen zufrieden ist und ihnen Rechtfertigung erteilt. Sie schreiben in die Zeitungen, jetzt sei der Augenblick gekommen, jetzt müsse die Menschheit anders werden, sie machen es zu ihrem Programme. Kommt jetzt, wir wollen uns hinsetzen und fromm werden, sagen sie, was haben wir denn sonst zu tun? O, wie ganz anders müssen die Menschen nun werden, alle müssen anders werden als zuvor, andere Bilder müssen an die Wände, andere Bücher auf die Bücherbretter, andere Prediger in die Kirchen, wir müssen ein anderes Volksgewissen bekommen. Und ein anderes Zusammenleben unter den Menschen, andere Einrichtungen in den Häusern, eine andere Wissenschaft, eine andere Liebe, eine andere Gottesfurcht – kurz gesagt, jetzt soll es ein anderes Paar Stiefel werden! Warum? Weil die Engländer selbst anders geworden sind? Die Engländer werden niemals anders. Weil die Menschheit sich plötzlich gegen früher verändert hat? Die Menschheit wird nur ungeheuer langsam und nach vielen, vielen Erdenleben anders, als sie gewesen ist –

Der Postmeister schaut auf, es ist niemand bei ihm, Davidsen ist fort. Wahrscheinlich ist Davidsen so lange stehen geblieben, als er vermochte, und hat sich dann gerettet. Es ist nicht das erstemal, daß jemand diesem Prediger aus der Kirche gelaufen ist, seine Gemeinde läßt ihn oftmals im Stich. Eine Gemeinde zieht die Verkündigung vor, die sie erwartet; der Postmeister verkündigt das Unerwartete, er ist einer gegen die ganze Gemeinde. Gesenkten Hauptes geht der Postmeister nach Hause, die Hintertür steht offen wie gewöhnlich, und er tritt in den Gang. An der andern Wand bewegt sich etwas, er hebt die Laterne und sieht einen Mann.

Einen Mann. Einen Fremden in den dreißiger Jahren, einen Unbekannten mit dünnem dunklem Vollbart, er hat einen Gummimantel an, der mit einem Lederriemen um den Leib zusammengehalten ist.

Einige Sekunden starren sie einander an, ihr Zusammentreffen überrascht wohl beide; dann greift der Mann zu dem Ausweg, nach einem Regenschirm zu schauen, der an der Wand hängt, sieht dann den Postmeister an und dann wieder den Regenschirm. Er macht einen ganz jämmerlich verwirrten Eindruck. Dieser Regenschirm – es ist gerade, als ob er sich nicht erinnern könne, wann er ihn hier aufgehängt habe.

Bekommt er denn nicht ein wenig Hilfe von dem Postmeister? Wieso denn – von dem Postmeister, der sich selbst nicht mehr helfen kann; er ist mit dem Rücken an die Wand gesunken und steht da und hält die Laterne in die Höhe.

Jetzt nimmt der Fremde den Regenschirm herab und fängt, in einer Art von Verzweiflung eine Erklärung an, die sonderbar lautet, unheimlich lautet: war der Mensch rasend oder betrunken? Er spricht englisch, die Worte sind da, aber der Mann ist verrückt, er versucht, ob sich der Regenschirm aufspannen läßt und spricht mit ihm: Zahnarzt! sagt er. Das mein ich. Wie sagt man denn weiter? Haben Sie verstanden?

Der Postmeister ist starr und blaß wie eine Leiche. Gleich zu Anfang war ein frohes Leuchten über sein Gesicht geglitten; es war, als ob er den Mann kannte und mit ihm sprechen wollte, dann hielt er inne und überlegte, er mußte wohl seinen Irrtum eingesehen haben und wurde wieder ganz starr.

Versteht er denn die Sprache nicht? Doch, gewiß, er hat an diesem Abend schon mit dem englischen Kapitän und mit dem Steuermann in deren Sprache geradebrecht. Hat er nichts zu sagen? Vielleicht hat er zu viel zu sagen! Als der Fremde der Türe zugleitet, flüstert der Postmeister: Warten Sie ein wenig!

Der Zahnarzt! sagt der Mann. Begreifen Sie nicht? Ich bin verrückt vor Zahnweh. Wohnt er nicht hier? Ich sah ein Schild –

Der Postmeister flüstert: Ich hatte einen Sohn –

Der bin ich nicht, antwortet der Mann und will weiter.

Wo sind Sie her?

Weg da! befiehlt der Mann.

Der Postmeister sagt mit niedergeschlagenen Augen: Haben Sie einen Regenschirm gehabt, als Sie herkamen?

Der Mann scheint zu überlegen: Hab' ich keinen gehabt? Dann –

Aber plötzlich denkt nun wohl der Postmeister an die Tür zum inneren Kontor, wo die Wertbriefe sind, das Wichtigste von allem; die Tür ist nicht mehr verschlossen, sie steht ein Spältchen auf. Der Postmeister eilt hinein, und gleich darauf ist ein Stöhnen zu hören.

Nachdem der Fremde in den Hof hinausgetreten war; blieb er plötzlich stehen, wartete einen Augenblick und kehrte dann zurück. Er trat wieder in den Gang und hängte den Regenschirm an seinen Platz. Durch die offne Tür sah er den Postmeister drinnen. Er lag zurückgelehnt in seinem Sessel. Die brennende Laterne stand neben ihm.

Da geht der Fremde wieder auf die Straße hinaus und fängt an zu laufen. Es stürmt und regnet. Oliver ist vom Bollwerk hinaufgekommen und sieht diesen Mann an sich vorbeijagen. Das ist ja der zweite Steuermann, denkt er. Der muß ja entsetzliches Zahnweh haben. Hallo! ruft er und will ihn an sein Geld erinnern. Aber der Mann läuft nur immer weiter.

Was – das wird Oliver doch verdächtig. Was hatte der zweite Steuermann jetzt an Land zu schaffen? Zur Flutzeit heut nacht würde sich wahrscheinlich der Wind drehen und der Sturm sich legen, dann würde sein Schiff abfahren, wußte er das noch nicht? Oliver ruft ihm noch einmal nach, aber vergebens. Da läuft er wahrhaftig dem zweiten Steuermann auf der Landstraße nach, und es ist unglaublich, was für Sprünge er macht mit Hilfe seiner Krücke. Wenn es gilt, kann Oliver mehr als Schritt halten. Und jetzt gilt es sein Geld.

Er holt den Läufer ein und sieht, wie er stehen bleibt und eine Art von Signal gibt – es ist gerade da, wo das freie Feld aufhört und der Weg in den Wald hineinführt, in den dichten Wald hinein, und gerade daher ist ein Signal zu hören. Oliver hört auch eine Antwort darauf. Für Schürzenjägerei ist jetzt nicht das richtige Wetter, denkt Oliver; es muß etwas anderes vorgehen, was kann es sein? Er hüpft weiter bis zu den ersten Bäumen und versteckt sich dort.

Da sieht er ein paar Gestalten zu dem zweiten Steuermann auf den Weg heraustreten, nun bleiben sie stehen und stecken mit dem Steuermann die Köpfe zusammen. Das ist sehr geheimnisvoll, sehr merkwürdig. Da der Wind zu ihm hersteht, könnte er wohl einen Ton ihres Gespräches hören, aber er versteht nichts, sie reden also nichts oder sie flüstern. Die dort sind wie Gespenster, sie bewegen sich, sehen einander vielleicht an, handeln und wandeln, aber sie schweigen. Oliver findet das Ganze recht unheimlich, er wäre gerne fortgegangen, wenn ihn nicht die Sorge um sein Geld festgehalten hätte.

Die Zeit vergeht, Mitternacht ist vorbei, die Flut ist da, der Wind schlägt um, und plötzlich macht sich Unruhe und Eile in der Schar dort bemerkbar, die Gespenster kommen auf Oliver zu, und er hört, daß sie dennoch sprechen. Zwei sind es außer dem zweiten Steuermann, ein Frauenzimmer und eine langbärtige Mannsperson. Als sie dicht bei ihm sind, macht Oliver einen Satz auf den Weg heraus. Aus der Gruppe schallt ihm ein Aufschrei entgegen. Der zweite Steuermann scheint weitereilen zu wollen, aber Oliver spricht ihn an und verlangt sein Geld.

Komm an Bord! antwortet ihm der zweite Steuermann, besinnt sich aber im nächsten Augenblick, greift ungeduldig in seinen waterproof und zieht Geld heraus, Scheine, viele Banknoten. Weil es finster ist, streicht der Langbart ein Streichholz an und leuchtet ihm.

Da ertönen von der See her drei kurze Stöße einer Sirene, das ist der Engländer, der seiner Mannschaft pfeift. Der zweite Steuermann fängt an zu laufen.

Merkwürdig in diesem Augenblick ist Oliver weniger von seinen Geldscheinen hingenommen als von seiner Gesellschaft. Natürlich verliert er nicht den Kopf, er steckt das Geld in die Tasche und verwahrt es wohl, aber dann ist er aufs äußerste erstaunt über die Frau, die hier mit dabei ist. Gehst du aus an solch einen Abend? fragt er sie und nennt ihren Namen.

Ja erwidert sie verwirrt.

Ach, sie hatte wohl in der Finsternis sicher zu sein geglaubt, allein ein Streichholz hatte sie verraten; jetzt schwankt sie wie völlig ratlos und antwortet dieses Ja gezwungenermaßen.

Was folgt weiter? Oliver ist Oliver. Sein Kopf fängt an zu arbeiten, die Stunde ist gerade die richtige für einen Mann wie ihn: die finstere Nacht, das Geheimnis dieses vielen Geldes in einem waterproof, diese geheime Zusammenkunft an einem abgelegenen Orte, endlich das Frauenzimmer – ja, sie war's, Schmied Carlsens Tochter, die Witfrau, die ihrem Vater haushält. Oliver hatte übrigens bis jetzt nie etwas Schlimmes von ihr gehört, aber sie schlug doch vielleicht ihrer Schwester und ihrem Bruder, dem Landstreicher, nach, Schmied Carlsen hatte Unglück mit seinen Kindern. Was hatte die Tochter an diesen Abend hier draußen zu suchen?

Ich hab dich gesehen, sagt Oliver.

Er bekommt keine Antwort darauf. Und wenn Oliver gehofft hatte, es werde ein Vorteil für ihn sein, daß er an diesem Abend zum Mitwisser eines Geheimnisses geworden war, so hatte er sich getäuscht.

Was wolltest du hier? fragt er.

Doch nun greift der langbärtige Mann ein und sagt: Wir haben Duette gesungen. Und was tust du selbst hier?

Ich? Du hast es ja gesehen; ich hab mein Geld in Empfang genommen.

Dein Geld? Ja. War es nicht für Eiderdaunen?

Ach so, das weißt du?

Ja, das weiß ich.

Oliver wandte sich an die Witwe. Wen hast du da bei dir? Ist es dein Liebster?

Und wenn es so wäre? versetzt der Mann auf eine sehr deutliche Art, indem er einen Schritt näher auf Oliver zutritt.

Oliver weicht zurück und sagt: Ich wollte nur hören, wo du her bist. Ich kenn dich wohl kaum, oder wie? Kenn ich dich?

Wo ich her bin? Ich bin ungefähr daher, wo auch deine Daunen her sind, haha!

Jetzt begreift Oliver wohl, daß er hier nichts ausrichten kann, und da wird er wie ein Lamm: Ich habe keine Daunennester. Diese Daunen habe ich mir in mehr als zwanzig Jahren allmählich zusammengekauft, das kann ich dir sagen. Nein, leider bin ich kein Mann, der Daunennester haben kann, ich bin ein Krüppel, wie du siehst.

Der langbärtige Mann muß sich sehr sicher fühlen, oder er tut wenigstens so, wenn er es nicht ist; er kümmert sich überhaupt nicht mehr um Oliver, sondern wendet sich an die Witwe und plauderte ganz unbekümmert mit ihr: Es hätte gar nicht besser gehen können! Jetzt hat es aufgehört zu regnen! Er muß nun bald bei seinem Boot sein.

Ja.

Sie können ohne ihn nicht abfahren, sonst sind sie aufgeschmissen. Nein, es hätte wirklich kein Tüpfelchen besser gehen können. Jetzt wäre er schon an Bord, wenn er nicht aufgehalten worden wäre, das Geld abzuzählen. Hat man schon so etwas erlebt! Eiderdaunen! Gestohlenes Gut! Aber es hätte nicht besser gehen können. Friert dich?

Nein.

So sei doch nicht so verzagt, was fehlt dir denn? Er fährt ab, und wir bleiben zurück, das ist alles. Ein kecker Kerl?

Er hatte schlimmes Zahnweh heut abend, bemerkte Oliver, um sich einzuschmeicheln.

Der Mann kümmert sich nicht um ihn und fährt fort:

Aber was wir für ein Schweinewetter gehabt haben, als wir in aller Unschuld hier draußen mit ihm zusammentreffen wollten! Warum hast du seinen Gummimantel nicht angenommen, als er ihn dir anbot?

Ich wollte ihn nicht.

Nein, du wolltest ihn nicht. Aber von seiner Seite war es jedenfalls harmlos gemeint.

Ich will nichts von ihm annehmen, sagt sie.

Schweigen. Plötzlich sagt der Mann lachend: Ist er denn nicht dein Liebster? Was redest du denn?

O schweig!

Ich denke, es steht dir frei, mit deinem Liebsten zusammenzutreffen! Übrigens hat keines von uns etwas dabei zu sagen, wir sind harmlos unseres Weges dahergekommen und haben ihn zufällig getroffen. Mehr ist nicht dabei. Aber wollen wir hier auf dem Wege stehen bleiben?

Wenn ich alles gewußt hätte – sagt sie.

Jetzt tut der langbärtige Mann etwas Unerwartetes und Lustiges, er zieht eine Mundharmonika aus der Tasche und fängt an, eine Weise zu spielen. Er tut das vielleicht, um sie aufzumuntern, vielleicht auch, um seine eigene Sorglosigkeit anzudeuten, um die Harmlosigkeit seiner Gegenwart auf der Straße mitten in der Nacht zu betonen. Es ist unglaublich, daß er jetzt spielt, aber es ist kein Irrtum möglich, Oliver hört die Musik mit seinen eigenen Ohren. Und wieder, um sich einzuschmeicheln und mit dem Mann gut Freund zu werden, ruft Oliver: Das ist großartig, Gott steh mir bei! Er beugt sich zu der Witwe und spricht: Ich bin zu meiner Zeit in der ganzen Welt herumgekommen, aber so etwas wie dieses Spiel –

Der Mann hält inne, wendet sich an Oliver und fragt: Worauf wartest du?

Der Krüppel merkt deutlich, daß er von diesem Manne nicht geliebt wird, und erwidert darum: Auf nichts. Ich glaube, ich geh jetzt hinunter und seh zu, wie das Schiff ausfährt.

Der Mann fängt wieder an zu spielen.

Aber damit hatte er einen Fehler gemacht, er war zu dreist gewesen, sein Spiel weckt in Oliver einen Verdacht. Natürlich kannte er jetzt diesen Landstreicher; wenn er es sich näher überlegte, erinnerte er sich an dieses Spiel von seinen Jugendtagen her, außerdem erinnerte er sich an die Legenden über diesen Spielmann. Er war ein Kind der Stadt, Schmied Carlsens Sohn, der Künstler auf der Mundharmonika, der Landstreicher, der bei allen Weg- und Eisenbahnarbeiten im Lande zu finden war. Was führte er nur jetzt im Schilde? Er hatte seine Schwester bei sich, sein Bruder Adolf war an Bord des Engländers, der mit der Schiffskiste – o, eine Bande von Geschwistern, alle beieinander! Es ärgerte Oliver, daß er ihnen nicht ins Gesicht hatte sagen können, was er von ihnen wußte.

In tiefen Gedanken ging er nach Hause. Da hatte er einen großen Wirrwarr aufzulösen, und Gott mochte wissen, ob er, im ganzen genommen, einen Vorteil davon hatte, sich noch weiter um die Sache zu kümmern. Den zweiten Steuermann kannte er durchaus nicht, und vielleicht war dieser überhaupt die wichtigste Person von allen. Außerdem hatte sich Oliver über sein eigenes Geschäft zu freuen; seine Tasche strotzte von Geld, es war der Lohn für sein fleißiges Hinausrudern zu den Vogelnestern Jahr um Jahr.

Er war beinahe zu Hause, als der Engländer eine lange Weile in die Sirene blies und vom Bollwerk abfuhr.

Alles in allem ein Tag reich an Erlebnissen; beinahe konnte er sich mit jenem denkwürdigen Tage messen, an dem Oliver mit dem Wrack vom Meere hereinkam. Oliver hätte auch nichts dagegen gehabt, jetzt zu Hause etwas großsprecherisch und verdienstvoll aufzutreten. Hier war er also, der Teufelskerl, der Spürhund mit dem verteufelt guten Kopf. Er kam mit Geld, Geheimnissen, Wissen. Aber hier war nichts zu machen, das Haus schlief, Petra schlief. Na ja, gewöhnlich war sie doch auch nicht seine Vertraute, das sollte ihm einfallen! Aber in diesem Augenblick hätte er sich gern ihr gegenüber mit Geheimnissen dick getan und ihr ein bißchen etwas zugeflüstert, worüber sie hätte nachsinnen können, bis sie blau wurde. Jawohl, aber Petra schlief. Sie war wohl müde, die arme Haut, es war einer von den Abenden, wo sie wieder zu Rechtsanwalt Fredriksen hatte gehen müssen, um wegen des Hauses zu verhandeln, sie war wohl noch gar nicht lange heimgekommen und eben erst sanft und selig eingeschlafen.

Oliver weckt sie, indem er absichtlich seine Krücke auf den Boden fallen läßt. Und im Gedanken daran, was er in dieser Stunde alles zu bedeuten habe, sagt er in unzufriedenem Tone: Du hättest wohl etwas Warmes für mich in Bereitschaft haben können, wenn ich nach einem wichtigen Geschäft nach Hause komme; ich bin ganz durchfroren.

Petra ist wohl seiner Aufschneiderei und Prahlerei über wichtige Geschäfte herzlich überdrüssig, sie erwidert ärgerlich: Etwas Warmes? Ich hab auch nichts Warmes vorgefunden, als ich nach Hause kam.

So, du bist aus gewesen?

Ich hab doch wieder zum Rechtsanwalt gehen müssen!

Wirst du denn niemals fertig mit dem Rechtsanwalt? ruft er hitzig.

Keine Antwort.

Und was, um Himmels willen, habt ihr denn noch immer zu besprechen? Eine Woche um die andere vergeht, und es kommt nichts zustande. Zum Henker noch einmal! Aber jetzt soll er nur zusehen! Wenn er mich einmal fuchtig macht, dann stopf ich sein Maul mit Geld! Das glaubst du nicht? Es ist mir einerlei, was du glaubst, du kennst mich noch lange nicht, und so kahl, wie ihr beide meint, bin ich auch nicht –

Keine Antwort.

Da war nichts zu machen. Aber Oliver will es nun auch noch mit etwas mehr Freundlichkeit versuchen und sagt als Einleitung: Ja, ja, jetzt ist also der Engländer abgefahren!

Petra schläft.

Nein, die Stunde war völlig verdorben, ihre Größe und die Feierlichkeit zunichte gemacht. Na, das war ja eine Freude, auf diese Weise mit einem Vermögen in der Tasche zu seiner Familie nach Hause zu kommen!

Er zog seine nassen Kleider aus, schnallte den Stelzfuß ab und legte sich neben seine Frau – wie eine Insel neben einer Insel. Anders ist das gar nicht zu sagen. Sie ist ohne jede Schwachheit, und ihr in Ruhe befindlicher Körper atmet schwer und ruhig, es ist finster, und er kann sie nicht sehen, aber sie ist warm und riecht behaglich, sie liegt freundlich an der Seite, um ihm Platz zu lassen. Seine nächtlichen Abenteuer beschäftigen Oliver andauernd, die Stunden vergehen, und als es soweit Tag geworden ist, daß er zur Not sehen kann, greift er nach seinem Geld und zählt, den Rücken nach dem Bett gewendet, heimlich seine Scheine.

Am Morgen will er vor lauter Kränkung gegen Petra keinen Ton verlauten lassen; eine Frau, die die große Gelegenheit, etwas zu erfahren, verschlafen hat, ist nichts Besseres wert. Aber er hatte gar nichts davon, denn es ging wahrhaftig so, daß Petra selbst von einem unerhörten Ereignis Kunde brachte: sie kam vom Brunnen und hatte den Eimer noch nicht abgestellt, als sie schon erzählte, das Posthaus sei heute nacht ausgeraubt worden; den Postmeister habe man auf einer Haustreppe weit draußen in der Stadt gefunden. Er habe da ohne Hut gesessen und sei nicht recht bei Verstand.

Zu jeder andern Zeit hätte Oliver da augenblicklich zu seiner Krücke gegriffen und wäre in die Stadt gehumpelt; aber der Ärger darüber, daß ihn Petra in der Nacht um seinen Triumph gebracht hatte, hielt ihn zurück. Er wollte jetzt lieber auch keine Spur von Überraschung über ihre Erzählung, über ihre Räubergeschichte an den Tag legen, nein, nein, weit entfernt! Er frühstückt weiter, und Petra ist in tausend Qualen, weil er sie nicht ausfragt. Wie sie rasend und immer rasender wird! Es scheint, daß sie sich selbst gelobt hat, ihm keinen Kaffee mehr einzuschenken, obgleich seine Tasse leer ist; mag er doch für sich selbst sorgen! Endlich sagt sie: Na, hast du heut nacht die Sprache verloren?

Die Sprache verloren? erwidert er sehr verwundert.

Mach, was du willst!

Wovon sollte ich denn reden? fragt er. Was meinst du denn?

Dann hast du wohl nicht gehört, was ich erzählt habe?

Was – der Dreck? Ich weiß viel mehr als das!

Sie schaut ihn an, und es kommt ihr ein Gedanke: Du bist doch wohl nicht selbst dabei gewesen und bist mit darein verwickelt?

Das war ja nett, hier saß er und sah so unschuldig aus wie ein Kind, und hatte reine Hände und dennoch sollte sich ein solcher Verdacht an ihn heften! Er räusperte sich mit Würde und sagte: Willst du wohl das Maul halten?

Ich hab ja nur gefragt. Es war nicht schlimm gemeint.

Du, nimm dein Maul in acht! wiederholt er und steht auf.

Allerdings, Petra war sehr ergrimmt darüber, daß er ihrer großen Neuigkeit so gar nicht achtete, ihrer gewaltigen Neuigkeit; aber da er seine Krücke in greifbarer Nähe hat, findet sie es geratener, zu gehen, als zu bleiben. Sie wirft den Kopf in den Nacken und begibt sich mit ihrer Neuigkeit in die Stube zur Großmutter.

Oliver ißt sich satt und geht dann von zu Hause fort.

Da die ganze Stadt wegen der Ereignisse der letzten Stunden vollständig verstört ist, kommt im Lagerhaus kein Betrieb in Gang und Oliver hat die beste Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Es war ein Glück, daß er in der Nacht nicht dazugekommen war, etwas zu offenbaren, eine Fügung Gottes, Petra hätte es wichtig gehabt, jedes Wort weiterzutragen, und hätte ihn in den Postraub mit hineinverwickelt. Und es hätte vielleicht wegen des Eiderdaunengeldes trotz seiner Unschuld gespukt. Jetzt hieß es vorsichtig sein, vorerst keine großen Ausgaben zu machen, keine allzuschönen Kleider anzuschaffen, gar keinen Putz, der hellrote Schlips im Schaufenster des Stickereigeschäfts durfte also nicht seinen Hals zieren.

Oliver überlegte sich alles ganz genau: einen Teil des geraubten Geldes hatte er in der Tasche, daran konnte er nicht zweifeln, aber er hatte es nicht geraubt, Gott war sein Zeuge. Schmied Carlsens Kinder konnten vielleicht einige Aufklärung in der Sache geben, wenn sie angezeigt wurden, aber Oliver hatte nicht im Sinn, sie anzuzeigen, das fehlte gerade noch! Alle Umstände sprachen dagegen, erstens schon der, daß Abel bei dem Schmied in der Lehre war und die Witwe dort dem Haushalt vorstand. Und war nicht der Schmied selbst sein Meister? Oliver hatte Vatergefühl genug, daß er seinen Sohn nicht ins Unglück stürzen wollte. Übrigens konnten die Schmiedskinder leicht auch unschuldig sein, wer konnte das sagen, vielleicht wußte der fremde zweite Steuermann am meisten von der Sache, und wer kannte den?

O, dieser zweite Steuermann und dieser Adolf mit der Schiffskiste waren vielleicht die schlimmsten Verbrecher! Hatten sie denn nicht auch Oliver gebeten, seine Frau mit auf den Engländer zu bringen, sie würden sie nicht fressen! Aber Oliver hatte glücklicherweise Petra nicht mitgenommen und sie, wer weiß was, ausgesetzt, er gehörte nicht zu denen, die ihre Frau zu einem andern mitnehmen. Und nun zeigte es sich, daß ihn sein Schicklichkeitsgefühl ganz richtig geleitet hatte, sie hätte in eine wahre Räuberhöhle geraten können. –

In der Stadt schwirrten die unglaublichsten Gerüchte durcheinander, die Zeitung brachte einen Artikel, der von einem Manne, dem das Wort zu Gebot stand, geschrieben sein mußte, der Polizei-Carlsen war an allen Ecken und Enden und untersuchte, denn aus dem Postmeister war keine richtige Aufklärung herauszubringen; er saß niedergeschlagen und völlig fassungslos da und starrte zu Boden. Zuerst gab er eine Art Beschreibung eines fremden Mannes, den er auf dem Flur des Postkontors gegen zwölf Uhr in der Nacht getroffen habe! der Mann sei alt gewesen, habe einen langen grauen Bart gehabt, vielleicht auch eine Maske getragen; er habe englisch gesprochen. Bei einem späteren Verhör ändert der Postmeister seine Aussage: Der Fremde sei vielleicht gar nicht alt gewesen, sondern im Gegenteil jung, er wäre nicht imstande gewesen, ihn zu überwältigen. Der Mann habe keinen Regenschirm gehabt. Kurzum, der Postmeister redete nur Unsinn und verwirrte alle. Er war blödsinnig geworden, vom Schlag getroffen, der Doktor war bei ihm und stellte eine Gehirnblutung und geistige Schwäche fest. Herrgott, ein Mann, der vorher Türme und Häuser mit Säulen hatte zeichnen können!

Und in der Stadt schwirrten die Gerüchte umher. Es wäre Unrecht gewesen, zu behaupten, daß die Leute dem Polizei-Carlsen und den Behörden nicht mit Nachforschungen an die Hand gegangen wären, in den ersten Tagen ließen sie sogar so gut wie alles liegen und stehen und opferten sich dieser Sache völlig auf. Und in diesem großen Aufruhr ertrank eine andere Neuigkeit vollständig, die sonst wohl die allgemeine Aufmerksamkeit verdient hätte, die nämlich, daß Konsul C. A. Johnsen das Ritterkreuz des Danebrogs bekommen hatte. Wer war von dieser Ehre ganz hingenommen, wer erwähnte sie? Ein Bericht von ein paar Zeilen in der Zeitung, ein zufälliger Glückwunsch von dem einen und andern Bewohner der Stadt, der gerade daran dachte. Frau Konsul Johnsen aber, ja, sie legte mehr Wert auf die Auszeichnung, und sie telegraphierte sowohl an Scheldrup, der jetzt in Neu-Orleans war, als an Fia, die sich in Paris befand.


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