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20

Ja, er war verrückt, er war verrückt. Das mußte er wohl sein; denn Sara bot ihm Kaffee, Milch, Tee an, bot ihm Bier an, bot ihm alles an, was es nur gab, aber trotzdem stand er, nachdem er sich kaum gesetzt hatte, sofort wieder vom Frühstückstisch auf und ließ das Essen stehen. Ihm war plötzlich eingefallen, daß eben die Zeit war, zu der Martha mit ihren Eiern auf den Markt zu gehen pflegte. Vielleicht war sie jetzt zurückgekommen. Das wäre ein glücklicher Zufall, wenn er auch sie heute, gerade heute, sehen sollte. Er geht in sein Zimmer hinauf und setzt sich ans Fenster.

Der ganze Marktplatz liegt vor ihm; Martha aber kann er nicht sehen. Er wartet eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, behält alle Ecken scharf im Auge, aber vergebens. Schließlich wird sein Interesse von einer Szene in Anspruch genommen, die sich an der Treppe des Postgebäudes abspielt und viele Neugierige anzieht: In einem Ring von Menschen, mitten auf der sandigen Straße, sieht er Minute auf und nieder hüpfen und tanzen. Er hat keinen Rock an und hat auch seine Schuhe ausgezogen; er tanzt und wischt sich unaufhörlich den Schweiß ab, und wenn er fertig ist, nimmt er seine Öre von den Zuschauern entgegen. Ja, Minute hatte seine alte Tätigkeit wiederaufgenommen, hatte wieder angefangen zu tanzen. Nagel wartet, bis er fertig ist und die Leute sich zerstreut haben, dann schickt er einen Boten nach ihm. Minute kommt, ehrerbietig wie immer, mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen.

Ich habe einen Brief für Sie, sagt Nagel. Und er reicht ihm den Brief, steckt ihn tief in Minutes Rocktasche und beginnt mit ihm zu sprechen. Sie haben mich in eine große Verlegenheit gebracht, mein Freund, Sie haben mich genarrt, mich mit einer Hinterlist, die ich bewundern muß, obwohl sie mich auch erbittert hat, an der Nase herumgeführt. Haben Sie Zeit? Erinnern Sie sich, daß ich einmal versprach, Ihnen etwas zu erklären? Nun wohl, ich will Ihnen jetzt diese Erklärung geben, der Augenblick ist gekommen. Darf ich Sie übrigens fragen: Haben Sie gehört, daß man in der Stadt über mich spricht und sagt, ich sei verrückt? Ich will Sie beruhigen, ich bin nicht verrückt, das können Sie auch selbst hören, nicht wahr? Ich gebe zu, in der letzten Zeit ein wenig verwirrt gewesen zu sein, es ist mir eine ganze Reihe Dinge begegnet, die mir nicht immer günstig waren, das Schicksal hat es so gewollt. Aber jetzt bin ich wieder ganz gesund, es fehlt mir nichts mehr. Ich bitte Sie, sich das zu merken … Es hat wohl keinen Sinn, Ihnen etwas anzubieten?

Nein, Minute wollte nichts genießen.

Das wußte ich schon … Kurz und gut: ich bin voller Mißtrauen, Grögaard. Sie verstehen vielleicht, worauf ich abziele. Sie haben mich so großartig betrogen, daß ich nicht mehr versuche, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie haben mich in einer sehr ernsten Angelegenheit einfach hinters Licht geführt, alles aus Uneigennützigkeit Ihrerseits, aus Herzensgüte, wenn Sie wollen, aber Sie haben es eben doch getan. Haben Sie nicht diese kleine Flasche hier in Ihren Händen gehabt?

Minute schielt auf die Flasche hin und antwortet nicht.

Es war Gift darin, sie ist ausgeleert und wieder halb mit Wasser gefüllt worden; heute nacht war nur Wasser darin.

Minute sagt noch immer nichts.

Sehen Sie, eigentlich ist das kein böses Werk. Der das getan hat, hat es aus reinem Herzen getan, gerade um Böses zu verhindern. Aber Sie haben es also getan?

Nach kurzem Schweigen:

Nicht wahr?

Ja, antwortet Minute endlich.

Ja. Und in Ihren Augen war das recht getan, aber in meinen nimmt sich das anders aus. Warum taten Sie das?

Ich dachte, Sie könnten vielleicht …

Er unterbrach sich:

Ja, sehen Sie! Aber da haben Sie sich geirrt, Grögaard, Ihr gutes Herz hat Sie irregeführt. Sagte ich nicht in jener Nacht, als Sie das Gift mitnahmen, ausdrücklich, daß ich nicht den Mut finden würde, es selbst zu trinken?

Aber ich fürchtete trotzdem, daß Sie es tun könnten. Und jetzt haben Sie es ja getan.

Habe ich es getan? Was sagen Sie? Hehe, Sie haben sich selbst zum Narren gehalten, guter Mann. Allerdings habe ich die Flasche heute nacht ausgeleert; aber merken Sie sich: ich selbst habe nicht davon gekostet.

Minute sieht ihn erstaunt an.

Ja, sehen Sie, jetzt haben Sie eine lange Nase bekommen! Man geht im Lauf der Nacht spazieren, kommt zu den Speichern hinunter, stößt auf eine Katze, die sich in den fürchterlichsten Qualen über den ganzen Kai hinwindet. Man bleibt stehen, besieht sich die Katze, es ist ihr etwas in den Hals geraten, eine Fischangel, und sie hustet und windet sich und bringt sie weder herauf noch hinunter; aber aus ihrem Maul fließt Blut. Gut, man ergreift die Katze und versucht die Fischangel herauszuziehen; vor Schmerz aber kann sich die Katze nicht stillhalten, sie wälzt sich auf dem Rücken, in ihrer Raserei schlägt sie mit den Krallen um sich, und eins, zwei, drei zerreißt sie einem die Backe so, wie Sie sehen, daß zum Beispiel meine Backe zerfetzt ist. Jetzt aber ist die Katze nahe am Ersticken und blutet beständig aus dem Halse. Was soll man da machen? Während man dasitzt und überlegt, schlägt die Kirchenuhr zwei. Es ist also zu spät, um bei irgend jemand Hilfe zu holen; denn es ist zwei Uhr nachts. Da erinnert man sich plötzlich daran, daß man eine kleine wohltätige Giftflasche in der Westentasche trägt, man möchte den Qualen des Tieres ein Ende machen und schüttet ihm den Inhalt des Glases in den Schlund. Das Tier glaubt, etwas furchtbar Gefährliches eingeflößt bekommen zu haben, es krümmt sich zusammen und starrt mit entsetzten Augen um sich, macht plötzlich einen himmelhohen Satz, reißt sich los, macht wieder einen himmelhohen Satz und beginnt, sich auf dem Kai entlangzuwinden. Was nun? Ja, im Glas war nur Wasser, das konnte nicht töten, das konnte nur noch stärker peinigen, und die Katze hat immer noch den Angelhaken im Hals und blutet und keucht nach Luft. Früher oder später verblutet sie sich, oder sie erstickt stumm und qualvoll allein in einem Winkel.

Es ist in guter Absicht geschehen, sagt Minute.

Natürlich! Sie tun immer nur, was gut und ehrlich ist. Man kann Sie einfach nicht auf einem Abweg ertappen, und insofern ist dieser feine und rechtschaffene Schwindel mit meinem Gift nichts Neues für Sie. Zum Beispiel jetzt, als Sie unten auf dem Marktplatz tanzten. Ich stand hier am Fenster und sah zu. Ich will Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie es taten, ich will nur fragen: warum zogen Sie Ihre Stiefel aus? Sie haben doch jetzt Stiefel an, warum hatten Sie sie also ausgezogen, als Sie tanzten?

Um sie nicht abzunützen.

Genau, was ich erwartete! Ich wußte, daß Sie so antworten würden, deshalb frage ich. Sie sind die peinlichst durchgeführte Reinheit in zwei Stiefeln, die unangreifbarste Seele der Stadt. Alles ist gut und uneigennützig an Ihnen, Sie sind ohne Flecken und ohne Falte. Ich wollte Sie einmal auf die Probe stellen und Sie überreden, gegen Bezahlung die Vaterschaft an einem fremden Kind zu übernehmen. Obwohl Sie arm sind und dieses Geld wahrhaftig gut brauchen könnten, schlugen Sie doch dieses Angebot sofort aus. Ihr Gemüt kam schon bei dem bloßen Gedanken an einen unreinen Handel in Aufruhr, und ich konnte nichts bei Ihnen erreichen, trotzdem ich sogar zweihundert Kronen bot. Hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, würde ich Sie nicht so grob beleidigt haben. Ich hatte noch keinen klaren Eindruck von Ihnen, jetzt dagegen weiß ich, daß man bei Ihnen seinen Gaul gut in der Gewalt haben muß. Na, gut! Aber bleiben wir bei dem, was wir sprachen … daß Sie die Schuhe ausziehen und barfuß tanzen, ohne die Leute darauf aufmerksam zu machen, ohne der Schmerzen zu achten und ohne zu klagen. Das eben ist ein Charakterzug an Ihnen. Sie jammern nicht, Sie sagen nicht ungefähr so: Seht, ich ziehe die Stiefel aus, um sie nicht abzunützen, ich bin dazu gezwungen, so arm bin ich! Nein, Sie wirken, wenn ich so sagen darf, stillschweigend. Sie führen das Prinzip durch, niemals jemand um etwas anzugehen, erreichen trotzdem alles, was Sie erreichen wollen, und haben selbst den Mund dabei nicht geöffnet. Sie sind absolut unangreifbar, sowohl den anderen wie sich selbst und Ihrem eigenen Bewußtsein gegenüber. Ich stelle diesen Charakterzug bei Ihnen fest und gehe weiter; Sie dürfen nicht ungeduldig werden, ich komme am Schluß schon noch zu meiner Erklärung … Sie sagten einmal etwas über Fräulein Gude, worüber ich oft nachgedacht habe, Sie sagten, daß sie vielleicht nicht so vollkommen unzugänglich sei, wenn man sich nur ein wenig fein betrage, zum mindesten hätten Sie verschiedenes bei ihr erreicht …

Nein, aber …

Sie sehen, ich habe es mir gemerkt. Es war an dem Abend, an dem wir beide hier beisammensaßen und tranken, das heißt: ich trank, und Sie sahen zu. Sie sagten, daß Martha – ja, Sie nannten sie nur Martha und erzählten auch, sie nenne Sie immer Johannes, nicht wahr, ich lüge nicht, sie nennt Sie doch Johannes? Sehen Sie, auch daran erinnere ich mich. Na, Sie sagten, daß Martha sogar so weit gegangen sei, Ihnen alles mögliche zu erlauben, und Sie machten sogar eine wirklich ekelhafte Bewegung mit dem Zeigefinger, als Sie das sagten …

Minute fährt auf, er ist rot im Gesicht und unterbricht ihn laut:

Das habe ich niemals gesagt! Niemals habe ich das gesagt!

Wie? Nicht? Haben Sie es wirklich nicht gesagt? Wenn ich nun Sara riefe und sie bäte zu bezeugen, daß sie sich während unseres Gespräches im Zimmer nebenan befunden und durch diese dünnen Wände jedes Wort gehört habe? So etwas habe ich auch noch nicht erlebt! Na, jetzt wird also durch Ihr Leugnen das Ganze umgestürzt. Ich hätte Sie gerne ein wenig darüber ausgeforscht, es interessiert mich, und ich habe oft daran gedacht; wenn Sie es jetzt aber abstreiten, das gesagt zu haben, dann! Ich bitte Sie übrigens, setzen Sie sich wieder, gehen Sie nicht wie das letztemal Hals über Kopf fort. Die Türe ist außerdem abgeschlossen, ich habe sie abgeschlossen.

Nagel zündet sich eine Zigarre an, und während er das tut, hält er plötzlich inne.

Nein, aber du großer Gott! sagt er. Gott behüte mich, ich habe mich ja furchtbar geirrt! Herr Grögaard, ich bitte Sie wirklich um Verzeihung; es ist wahr, Sie haben es nicht gesagt! Vergessen Sie es, lieber Freund, ein anderer, und nicht Sie, hat das gesagt, ich entsinne mich jetzt, ich hörte es vor ein paar Wochen. Wie konnte ich einen einzigen Augenblick glauben, daß Sie eine Dame bloßstellen würden – und vor allen Dingen sich selbst bloßstellen – auf solche Weise! Ich verstehe nicht, wie mir das einfallen konnte, ich muß doch ziemlich verrückt sein … Hören Sie übrigens: ich merke es, wenn ich mich geirrt habe, und bitte sofort um Entschuldigung, also bin ich doch nicht verrückt; nicht wahr? Wenn ich trotzdem etwas ungeordnet, etwas wild rede, dann dürfen Sie nicht glauben, daß ich das mit Absicht tue, ich will nicht versuchen, Sie blind und taub zu schwätzen, das dürfen Sie nicht glauben. Das wäre ja um so unmöglicher, als Sie selbst beinahe kein Wort sagen. Nein, ich rede also in dieser seltsamen, unüberlegten Art und Weise, weil meine Stimmung augenblicklich so ist, das ist der ganze Grund. Entschuldigen Sie, daß ich von der Sache abgekommen bin. Sie werden vielleicht ungeduldig und sehnen sich nach der Erklärung?

Minute schweigt. Nagel steht auf und beginnt erregt zwischen Türe und Fenster auf und ab zu gehen. Plötzlich bleibt er stehen und sagt, des Ganzen müde und gelangweilt:

Es ist mir wirklich nicht der Mühe wert, noch länger mit Ihnen zu spielen, ich will Ihnen meine aufrichtige Meinung sagen! Doch, ich habe verwirrend mit Ihnen gesprochen, und ich habe es bis zu diesem Augenblick mit Absicht getan, um etwas aus Ihnen herauszubekommen. Ich habe es auf alle möglichen Arten versucht, aber es hilft alles nichts, und ich bin dessen müde. Nun wohl, ich will Ihnen die Erklärung geben, Grögaard: Ich glaube im stillen, daß Sie ein heimlicher Gauner sind. Ein heimlicher Gauner.

Als Minute wieder zu zittern anfing und seine Augen angstvoll nach allen Seiten blickten, fährt Nagel fort:

Sie sagen kein Wort. Sie fallen nicht aus der Rolle. Ich kann Ihnen nicht beikommen. Sie sind unbeweglich, sind eine stumme Kraft von ganz seltener Art; ich bewundere Sie und interessiere mich ungeheuer für Sie. Wissen Sie noch, wie ich damals einen ganzen Abend mit Ihnen sprach und Sie unter anderem scharf ins Auge faßte und behauptete, daß Sie zusammenzuckten? Das tat ich, um mich vorzutasten. Ich habe Sie im Auge behalten und auf verschiedenen Wegen vorwärtszukommen versucht, beinahe immer ohne Glück, das gestehe ich ein, denn Sie sind ein unangreifbarer Mensch. Aber ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß Sie im geheimen ein stiller und frommer Sünder irgendeiner Art sind. Ich habe keine Beweise gegen Sie, die fehlen mir leider, Sie können also ganz ruhig sein, es bleibt alles unter uns. Können Sie aber verstehen, daß ich mich meiner Sache so sicher fühle, trotzdem ich keine Beweise habe? Sehen Sie, das fassen Sie nicht. Und doch haben Sie, wenn wir über etwas sprechen, so eine besondere Art, den Kopf zurückzuwerfen! Sie haben ein paar Augen, die den und den Ausdruck annehmen, Augen, die blinken, wenn Sie bestimmte Worte sagen oder wenn wir uns gewissen Fragen nähern, außerdem haben Sie ein Summen in der Stimme – oh, diese Stimme! Endlich aber wirkt Ihre Person antipathisch auf mich, ich spüre es in der Luft, wenn Sie in die Nähe kommen, meine Seele beginnt sofort vor Mißbehagen in mir zu zittern. Das verstehen Sie nicht? Ich auch nicht; aber es ist so. Bei Gott, in diesem Augenblick bin ich überzeugter denn je, daß ich auf der richtigen Spur bin; nur kann ich Sie nicht fassen, denn ich habe keine Beweise. Als Sie das letztemal hier oben waren, fragte ich Sie, wo Sie sich am 6. Juni aufgehalten hätten – wollen Sie wissen, warum ich danach fragte? Nun wohl, der 6. Juni war Karlsens Todestag, und ich glaubte bis dahin, daß Sie Karlsen ermordet hätten.

Minute wiederholt, wie aus den Wolken gefallen: Daß ich Karlsen ermordet hätte! und schweigt.

Ja, das hatte ich bis dahin geglaubt. Ich hatte Sie in diesem Verdacht, ja, so weit hatte mich mein Gefühl, Sie seien irgendein Schlingel, getrieben. Nun bin ich nicht mehr dieser Ansicht, ich gebe zu, daß ich mich hierin geirrt habe, ich bin zu weit gegangen und bitte um Verzeihung. Ob Sie es mir nun glauben oder nicht, es hat mich tief betrübt, daß ich Ihnen dieses große Unrecht zugefügt habe, an manchem Abend, wenn ich allein war, habe ich Sie dafür um Verzeihung gebeten. Obwohl ich aber in diesem Punkte mich so geirrt habe, bin ich trotzdem ganz sicher, daß Sie eine unreine und heuchlerische Seele sind, Gott strafe mich, das sind Sie! Während ich hier stehe und Sie ansehe, fühle ich das in meinem innersten Herzen, bei Gottes heiligem Namen, das sind Sie! Warum ich dessen so sicher bin? Beachten Sie: von Anfang an hatte ich keinen Grund, etwas anderes als nur das Beste von Ihnen zu glauben, und alles, was Sie später gesagt und getan haben, war gut und recht, ja edel. Noch dazu habe ich etwas ganz besonders Schönes von Ihnen geträumt: Sie waren auf einem offenen Moor und litten grauenhaft unter meinen Quälereien, trotzdem aber dankten Sie mir, warfen sich auf die Erde und dankten mir, weil ich Sie nicht noch mehr gequält und Ihnen nicht noch weher getan hatte. Das habe ich von Ihnen geträumt, und das ist sehr schön. Es gibt auch in der ganzen Stadt keinen Menschen, der Ihnen irgend etwas Schlechtes zutraute, alle geben Ihnen das beste Zeugnis, Sie haben aller Sympathie, so heimlich gehen Sie vor. Und doch stehen Sie vor dem Auge meiner Seele als ein feiger und kriechender Engel Gottes da, der über alle ein gutes Wort hat und jeden Tag eine gute Handlung begeht. Aber haben Sie denn etwa schlecht von mir gesprochen, mir Böses zugefügt, Geheimnisse, die mich betreffen, verraten? Nein, nein, das haben Sie nicht, und das eben gehört zu Ihrer Art und Weise, sich durchzuschlängeln, Sie geben allen recht, Sie tun niemals etwas Böses, Sie sind heilig und unangreifbar und vor den Menschen ohne Fehl. Und das ist genug für die Welt, aber für mich ist es nicht genug, ich mißtraue Ihnen beständig. Das erstemal, als ich Sie sah, widerfuhr mir etwas Merkwürdiges. Das war ein paar Tage, nachdem ich in die Stadt hierher gekommen war, eines Nachts um zwei Uhr. Ich sah Sie vor Martha Gudes Haus unten am Kai, Sie standen plötzlich mitten in der Straße, ohne daß ich gesehen hatte, woher Sie kamen; Sie warteten, ließen mich vorbei, und als ich vorüberging, schielten Sie zu mir her. Ich hatte damals noch nicht mit Ihnen gesprochen, aber in mir war eine Stimme, die mich auf Sie aufmerksam machte, und diese Stimme sagte mir, daß Sie Johannes heißen. Und wenn es auch mein letztes Wort hier auf Erden wäre: durch mein Herz klang, daß Sie Johannes heißen und daß ich mir Ihre Erscheinung einprägen solle. Erst viel später hörte ich, daß es mit dem Namen Johannes seine Richtigkeit habe. Von dieser Nacht an aber richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Sie. Sie aber sind mir beständig ausgewichen, ich habe Sie nicht stellen können. Zu guter Letzt gingen Sie sogar noch hin und verfälschten mir einen Schluck Gift, nur in der guten und edlen Furcht, ich könnte es möglicherweise trinken wollen. Wie soll ich Ihnen erklären, was ich bei all diesem empfinde? Ihre Reinheit vergewaltigt mich, all Ihre schönen Worte und Handlungen führen mich nur weiter vom Ziel, Sie zu Fall zu bringen, ab. Ich will Ihnen die Maske abreißen und Sie so weit treiben, daß Sie Ihr wahres Wesen verraten; so oft ich Ihre blauen, verlogenen Augen sehe, bäumt sich mein Blut in mir vor Abneigung, und ich krümme mich vor Ihnen zusammen und fühle nur, daß Sie in Ihrem Innersten ein Heuchler sind. Ich glaube sogar, daß Sie in diesem Augenblick, da Sie hier vor mir sitzen, innerlich heimlich lachen, trotz Ihrer verzweifelten und zerknirschten Miene heimlich und gemein darüber lachen, daß ich Ihnen nichts anhaben kann, weil ich keine Beweise habe.

Und Minute sagt auch jetzt kein Wort. Nagel fährt fort:

Sie finden natürlich, daß ich ein grober Bandit und Tölpel bin, weil ich Ihnen diese Beschuldigungen mitten ins Gesicht schleudere? Schon recht, darauf nehme ich keinerlei Rücksicht, Sie können über mich denken, was Sie wollen. Im Innersten wissen Sie in diesem Augenblick, daß ich Sie aufs Korn genommen habe, das ist mir genug. Warum aber dulden Sie es, daß ich mich so gegen Sie benehme? Warum stehen Sie nicht auf, spucken mir ins Gesicht und gehen Ihres Weges?

Minute schien sich zu fassen, er sah auf und sagte:

Sie haben ja die Türe verschlossen.

Sehen Sie, sehen Sie, antwortet Nagel, Sie wachen auf! Und Sie wollen mir weismachen, daß Sie glaubten, die Türe sei zugesperrt? Die Türe ist offen, sehen Sie her, sie ist jetzt weit offen! Ich sagte, sie sei zugesperrt, um Sie auf die Probe zu stellen, das war eine Falle von mir. Die Sache ist die: Sie haben die ganze Zeit gewußt, daß die Tür offen war, aber Sie taten so, als wüßten Sie es nicht, nur um hier wie immer rein und unschuldig dasitzen zu können und sich von mir Unrecht tun zu lassen. Sie gingen nicht aus dem Zimmer, nein, Sie rührten sich nicht. Sowie ich Sie verstehen ließ, daß ich Sie wegen verschiedener Sachen im Verdacht habe, spitzten Sie die Ohren, Sie wollten hören, wieviel ich wüßte, wie gefährlich ich Ihnen sein könnte. Bei Gott, ich weiß, daß es sich so verhält, und Sie können es meinetwegen leugnen, wenn Sie wollen, das ist mir gleich … Und warum halte ich nun diese Abrechnung mit Ihnen? Sie haben ein gutes Recht, mir diese Frage zu stellen, denn das Ganze scheint mich nichts anzugehen. Mein Freund, es geht mich doch etwas an, erstens will ich Sie gerne warnen. Glauben Sie mir, in diesem Augenblick meine ich es ehrlich, was ich sage. Sie leben irgendein heimliches Spitzbubenleben, und das geht nur eine gewisse Zeit lang. Eines schönen Tages liegen Sie offen vor der Welt da, und jedermann kann auf Ihnen herumtreten. Das war nun das eine. Zweitens habe ich eine Ahnung, daß Sie trotz all Ihrem Leugnen Fräulein Gude näher stehen, als Sie wahr haben wollen. Nun, was geht mich Fräulein Gude an? Wieder haben Sie recht, auf eine Frage wie diese muß ich verstummen, Fräulein Gude geht mich gar nichts an. Aber ganz im allgemeinen habe ich das Recht, betrübt zu sein, wenn Sie mit ihr verkehren und sie möglicherweise mit Ihrer heiligen Lasterhaftigkeit anstecken. Deshalb habe ich diese Abrechnung mit Ihnen gehalten.

Nagel zündet seine Zigarre wieder an und sagt:

Und jetzt bin ich fertig, und die Tür ist nicht abgesperrt. Ist Ihnen nun Unrecht geschehen? Schweigen Sie oder antworten Sie, tun Sie, was Sie wollen: wenn Sie aber antworten, dann lassen Sie Ihre innere Stimme für Sie antworten. Lieber Freund, lassen Sie mich Ihnen, ehe Sie gehen, auch noch sagen: Ich führe nichts Böses gegen Sie im Schilde.

Pause.

Minute steht auf, steckt die Hand in die Tasche und zieht den Brief wieder heraus. Er sagt:

Das kann ich nun nicht annehmen.

Dies kam Nagel unerwartet, er hatte an den Brief nicht mehr gedacht und sagte:

Was? Sie wollen das nicht annehmen? Warum nicht?

Ich kann es nicht annehmen.

Minute legt den Brief auf den Tisch und geht zur Türe. Nagel kommt ihm mit dem Brief in der Hand nach, seine Augen sind naß, und seine Stimme zittert plötzlich.

Nehmen Sie es, Grögaard, trotzdem! sagt er.

Nein! antwortet Minute. Und er öffnet die Türe.

Nagel drückt die Türe wieder zu und sagt noch einmal:

Nehmen Sie es, nehmen Sie es! Wir wollen lieber sagen, ich sei verrückt, Sie sollen nicht daran denken, was ich heute geredet habe. Ich bin sehr verrückt, Sie dürfen sich nicht darum kümmern, daß ich eine ganze Stunde lang ohne alle Vernunft geschwätzt und gefaselt habe. Nicht wahr, Sie verstehen schon, daß man mir nicht glauben darf, wenn ich doch nicht bei Sinnen bin? Nehmen Sie den Brief, ich habe keine schlechten Absichten, obwohl ich so aufgeregt bin. Nehmen Sie es um Gottes willen, es ist nicht viel darin, glauben Sie mir, es ist fast nichts darin, und ich wollte Ihnen so gerne zum Schluß einen Brief geben, die ganze Zeit habe ich daran gedacht, daß ich Ihnen einen Brief geben möchte, der beinahe gar nichts enthält, nur damit es ein Brief sei. Nur einen Gruß. So, ich bin Ihnen so aufrichtig dankbar.

Damit schob er den Brief in Minutes Hand und lief zum Fenster, um ihn nicht zurücknehmen zu müssen. Minute gab nicht nach, er legte den Brief wieder auf den Tisch und schüttelte den Kopf.

Er ging.


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