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14

Früh am nächsten Morgen kam Minute wieder ins Hotel. Still ging er in Nagels Zimmer, legte dessen Uhr, einige Papiere, ein Bleistiftstückchen und die kleine Giftflasche auf den Tisch und wollte sich wieder entfernen. Da jedoch Nagel sofort erwachte, war er genötigt zu erklären, warum er hereingekommen sei.

Ich habe diese Sachen in der Westentasche gefunden, sagte er.

In der Westentasche? Ja, Tod und Teufel, das ist ja wahr! Und wieviel Uhr ist es?

Acht Uhr. Aber Ihre Uhr steht, ich wollte sie nicht aufziehen.

Sie haben doch wohl die Blausäure nicht ausgetrunken?

Minute lächelte und schüttelte den Kopf.

Nein, antwortete er.

Nicht einmal versucht? Das Glas muß halb voll sein; lassen Sie mich sehen.

Und Minute zeigte ihm, daß das Glas noch halb voll war.

Gut! Und es ist acht Uhr? Dann ist es Zeit aufzustehen … Weil ich eben daran denke, Grögaard, können Sie mir eine Geige verschaffen, leihweise? Ich möchte versuchen, ob ich lernen könnte … Na, Unsinn! In Wahrheit: ich will eine Geige kaufen, ich will sie einem Bekannten schenken; ich will sie also nicht zu meinem eigenen Gebrauch. Sie müssen mir wirklich eine Geige verschaffen, wo Sie sie auch hernehmen.

Minute wollte sein möglichstes tun.

Tausend Dank. Sie sehen wohl wieder einmal zu mir herein, wenn Sie Lust haben; Sie wissen ja den Weg. Guten Morgen!

Eine Stunde später befand sich Nagel bereits im Wald beim Pfarrhof. Der Boden war noch naß vom Regen am Abend vorher, und die Sonne schien nicht sehr warm. Er setzte sich auf einen Stein und behielt den Weg scharf im Auge. In dem weichen Kies hatte er ein paar bekannte Fußspuren gesehen und war überzeugt, daß es Dagnys Fußspuren waren und daß sie in die Stadt gegangen sei. Er wartete ziemlich lange vergebens, entschloß sich endlich, ihr entgegenzugehen, und erhob sich.

Und er hatte sich wirklich nicht getäuscht, schon am Waldrand begegnete er ihr. Sie trug ein Buch, es war Skrams »Gertrude Colbjörnsen«.

Sie sprachen zuerst eine Weile von diesem Buch, dann sagte sie:

Können Sie es begreifen … unser Hund ist tot.

Tot? antwortete er.

Seit einigen Tagen. Wir fanden ihn mausetot. Ich verstehe nicht, wie das zugegangen sein kann.

Denken Sie, dieser Hund machte immer einen so ekelhaften Eindruck auf mich; ja, entschuldigen Sie, aber es war eine von diesen Doggen, mit Stumpfnase und einem unverschämten Menschenantlitz! Wenn er einen ansah, hingen ihm die Mundwinkel tief herunter, als trüge er den Kummer der ganzen Welt. Eigentlich bin ich wirklich froh, daß er tot ist.

Pfui, schämen Sie sich …

Aber er unterbrach sie nervös und wollte aus irgendeinem Grund sofort von diesem Gespräch über den Hund ablenken. Er begann von einem Mann zu erzählen, den er einmal getroffen hatte und der wirklich das Lächerlichste gewesen sei, was man treffen konnte. Der Mann s – stotterte ein wenig, und das verheimlichte er nicht; o nein, er s – stotterte sogar noch mehr, als nötig war, um seine Unvollkommenheit so recht an den Tag zu legen. Er hatte die sonderbarsten Ideen über die Frau. Übrigens pflegte er eine Geschichte aus Mexiko zu erzählen, die in seinem Mund unsäglich lustig klang. Es war in einem Winter mit wütender Kälte, die Thermometer zersprangen, und die Menschen hielten sich Tag und Nacht innerhalb ihrer vier Wände. Eines Tages aber mußte er in die Nachbarstadt, er ging durch eine kahle Landschaft, in der nur da und dort eine Hütte stand, und ein kalter Wind brannte ihm schmerzhaft ins Gesicht. Wie er so dahinging, kommt in dieser verzweifelten Kälte eine halbnackte Frau aus einer der Hütten gelaufen und springt ihm nach; sie schreit die ganze Zeit: Sie haben eine Beule auf der Nase! Hüten Sie sich, Sie haben eine Beule auf der Nase! Die Frau hielt eine Schöpfkelle in der Hand und trug die Ärmel aufgestülpt. Sie hatte diesen fremden Mann mit einer Frostbeule auf der Nase vorbeigehen sehen und war von ihrer Arbeit weggelaufen, um ihn zu warnen. Hehe, hat man so etwas gehört! Und da steht sie selbst mit aufgestülpten Ärmeln im Wind, während ihre ganze rechte Wange nach und nach weiß anläuft und zu einer einzigen ungeheuren Beule wird! Hehe, das ist doch unglaublich! … Aber trotz dieser und vieler anderer Beispiele von weiblicher Aufopferung war dieser stotternde Mann in diesem Kapitel höchst unzugänglich. Die Frau ist ein kurioses und unersättliches Geschöpf, sagte er zu mir, ohne zu erklären, weshalb sie gerade kurios und unersättlich sei. Es ist ganz unfaßbar, was sie sich einbilden kann, sagte er. Und er erzählte: Ich hatte einen Freund, der sich in eine junge Dame verliebte; sie hieß Klara. Er gab sich alle Mühe, diese Dame zu gewinnen, aber nichts half. Klara wollte durchaus nichts von ihm wissen, obwohl er ein hübscher und wohlangesehener junger Mann war. Diese selbe Klara hatte jedoch eine Schwester, ein ganz schief gewachsenes und buckliges Geschöpf, das geradezu häßlich war; um sie freite nun mein Freund eines Tages. Gottvater weiß, warum er das tat, vielleicht aber war es Berechnung, vielleicht hatte er sich auch wirklich in sie verliebt, obwohl sie so häßlich war. Was aber tut nun Klara? Ja, hier zeigte das Weibliche auf einmal seine Krallen; Klara schreit, Klara stellt das Haus auf den Kopf. Mich hat er haben wollen! mich hat er haben wollen! sagt sie; aber mich bekommt er nicht, ich will nicht, nicht um alles in der Welt will ich. Na, aber meinen Sie etwa, er hätte die Schwester bekommen, in die er nun stark verliebt war? Nein, das ist ja gerade das Durchtriebene an der Sache, Klara wollte ihn der Schwester erst recht nicht gönnen. Hehehe. Nein, wenn er doch sie eigentlich hatte haben wollen, dann durfte er jetzt auch nicht ihre bucklige Schwester bekommen, obgleich sonst niemand für sie in Betracht kommen konnte. Und so bekam mein Freund keine von beiden … Das war eine der vielen Geschichten des stotternden Mannes. Er erzählte so lustig, gerade weil er stotterte. Er war übrigens ein großes Rätsel von einem Mann … Langweile ich Sie?

Nein, erwiderte Dagny.

Also ein großes Rätsel von einem Mann. Er war so geizig und so diebisch zugleich, daß er es fertigbrachte, sich die Lederriemen an den Eisenbahnfenstern anzueignen und sie mit nach Hause zu nehmen, um sie zu irgend etwas zu verwenden. Ja, da kannte er keine Hemmungen; er soll sogar einmal bei einem solchen Diebstahl ertappt worden sein. Aber auf der anderen Seite achtete er das Geld gar nicht, wenn ihn die Laune packte. Einmal kam es ihm in den Sinn, eine riesige Wagenfahrt zu veranstalten. Er kannte niemand, deshalb mietete er für sich allein vierundzwanzig Wagen, die er einen nach dem andern abfahren ließ. Die dreiundzwanzig fahren vollkommen leer, und im vierundzwanzigsten – dem letzten – da sitzt er selbst, schaut auf die Spaziergänger herab, stolz wie ein Gott auf den kolossalen Aufzug, den er da zustande gebracht hat …

Doch Nagel sprach ohne Erfolg von einer Sache nach der anderen; Dagny hörte kaum auf das, was er sagte. Er wurde stumm und überlegte. Es war doch auch zu blöd, so dumm zu schwätzen und sich immer zum Narren zu machen! Da überfiel er eine junge Dame, noch dazu seine Herzensdame, mit Erzählungen von Frostbeulen und vierundzwanzig Wagen! Und er erinnerte sich plötzlich, daß er sich schon früher einmal mit einer Plattheit über einen Eskimo und eine Briefmappe gründlich verrannt hatte. Bei dieser Erinnerung wurden ihm die Wangen auf einmal heiß, unwillkürlich gab er sich einen Ruck und wäre beinahe stehengeblieben. Warum, zum Satan, nahm er sich nicht in acht! Oh, wie mußte er sich schämen! Diese Augenblicke, in denen er so dumm schwätzte, machten ihn komisch, demütigten ihn und warfen ihn um Wochen und Monate zurück. Was mußte sie doch von ihm denken!

Er sagte:

Und wie lange dauert es noch bis zum Basar?

Sie antwortete lächelnd:

Warum geben Sie sich solche Mühe, in einem fort zu sprechen? Warum sind Sie nervös?

Diese Frage kam ihm so unerwartet, daß er Dagny einen Augenblick verwirrt ansah. Gedämpft und pochenden Herzens entgegnete er:

Fräulein Kielland, als ich das letztemal mit Ihnen zusammen war, versprach ich, wenn ich die Erlaubnis bekommen sollte, Sie noch einmal zu treffen, über alles andere zu sprechen, nicht aber über das, wovon zu sprechen mir verboten ist. Ich versuche, mein Versprechen zu halten. Noch habe ich es gehalten.

Ja, sagte sie, man soll seine Versprechen halten, man soll seine Gelöbnisse nicht brechen. Und das sagte sie gleichsam mehr zu sich selbst als zu ihm.

Ich war schon hier im Wald, ehe Sie kamen, und beschloß da, es zu versuchen; ich wußte, daß ich Ihnen begegnen würde.

Wie konnten Sie das wissen?

Ich sah Ihre Spur hier auf dem Weg.

Sie warf ihm einen Blick zu und schwieg.

Kurz darauf sagte sie:

Sie haben einen Verband an der Hand, sind Sie verwundet?

Ja, antwortete er, Ihr Hund hat mich gebissen.

Sie blieben beide stehen und sahen einander an. Er preßte die Hände zusammen und fuhr ganz gepeinigt fort:

Ich bin jede Nacht hier im Wald gewesen, jede Nacht habe ich Ihre Fenster gesehen, bevor ich ins Bett gegangen bin. Verzeihen Sie mir, das ist doch kein Unrecht! Sie haben mir verboten, es zu tun, aber ich tat es doch immer wieder, daran ist nun nichts mehr zu ändern. Ja, Ihr Hund biß mich, er kämpfte um sein Leben; ich tötete ihn, ich gab ihm Gift, weil er immer bellte, wenn ich kam und zu Ihren Fenstern hinauf gute Nacht sagen wollte.

Dann haben also Sie den Hund getötet!

Ja, antwortete er.

Sie sahen einander schweigend an, seine Brust ging gewaltsam auf und nieder.

Und ich wäre imstande, viel schlimmere Dinge zu tun, um Sie sehen zu können, sprach er weiter. Sie haben keine Ahnung, wie ich leide und wie ich Tag und Nacht mit Ihnen beschäftigt bin, nein, davon haben Sie keine Ahnung. Ich spreche mit den Leuten, ich lache, ich halte sogar lustige Saufgelage ab – heute nacht hatte ich Gesellschaft bis vier Uhr, wir zerbrachen zum Schluß alle Gläser, – na, aber auch während ich trinke und singe, denke ich unaufhörlich an Sie und werde dadurch verwirrt. Ich lege auf gar nichts mehr Wert und weiß nicht, wie es mir weiterhin gehen wird. Haben Sie doch zwei Minuten Mitleid mit mir, ich muß Ihnen etwas sagen. Aber haben Sie jetzt keine Angst, ich will Sie weder erschrecken noch locken, ich muß nur mit Ihnen sprechen, weil es mich qualvoll dazu drängt …

Aber wollen Sie denn gar nicht vernünftig werden? sagte sie unvermittelt. Sie versprachen es doch.

Ja, das tat ich wohl; ich weiß nicht, vielleicht versprach ich, vernünftig zu sein. Aber es fällt mir so schwer. Na, ich werde vernünftig sein, vertrauen Sie darauf. Aber wie soll ich es anfangen, können Sie mir das sagen? Lehren Sie es mich. Wissen Sie, daß ich eines Tages nahe daran war, in den Pfarrhof einzudringen, die Türen zu öffnen und einfach zu Ihnen zu gehen, selbst wenn andere dabei gewesen wären? Aber ich habe mit aller Gewalt zu widerstehen versucht, das dürfen Sie mir glauben; ja, ich habe sogar schlecht von Ihnen gesprochen und versucht, Ihre Macht über mich zu zerstören, indem ich Sie in den Augen anderer heruntersetzte. Ich habe es nicht aus Rache getan, nein, Sie verstehen, daß ich wirklich nahe daran bin zu unterliegen. Ich habe es getan, um mich selbst zu strafen, um zu lernen, die Zähne zusammenzubeißen, um nicht in meinem eigenen Bewußtsein den Rücken zu sehr zu beugen. Deshalb habe ich es getan. Aber ich weiß nicht, ob es etwas nützt. Ich habe auch versucht abzureisen, ich habe es versucht, ich begann alle meine Sachen zusammenzupacken; aber ich machte mich doch nicht ganz fertig und reiste auch nicht ab. Wie könnte ich reisen! Weit eher möchte ich Ihnen nachreisen, wenn Sie nicht hier wären. Und wenn ich Sie auch niemals fände, ich würde Ihnen trotzdem nachreisen und Sie unaufhörlich suchen und hoffen, Sie doch schließlich einmal zu finden. Wenn ich aber sähe, daß es doch vergeblich wäre, würde ich meine Hoffnungen zurückschrauben und zurückschrauben und wäre zuletzt innig dafür dankbar, wenn ich möglicherweise nur einen Menschen sehen könnte, der Ihnen einmal nahegestanden hat, eine Freundin, die Ihre Hand gedrückt oder in den guten Tagen ein Lächeln von Ihnen gesehen hat. So würde ich es machen. Kann ich also von hier abreisen? Jetzt ist es außerdem Sommer, der ganze Wald hier ist meine Kirche, und die Vögel kennen mich; sie sehen mich jeden Morgen an, wenn ich komme, legen den Kopf schief und sehen mich an, und gleich darauf singen sie los. Ich vergesse auch niemals, wie die Stadt an dem ersten Abend, an dem ich ankam, für Sie flaggte; das machte den stärksten Eindruck auf mich, ich wurde geradezu von einer eigentümlichen Sympathie erfaßt, und halb betäubt ging ich auf dem Schiff umher und sah die Fahnen an, ehe ich an Land ging. Ja, das war an jenem Abend! … Aber auch später ist es mir oftmals herrlich ergangen; täglich gehe ich die gleichen Wege wie Sie, und mitunter bin ich so glücklich, Ihre Spur auf dem Weg zu sehen, wie heute, und da warte ich auf Sie, bis Sie wieder vorbeikommen. Ich verkrieche mich im Wald, lege mich flach hinter einen Stein und warte auf Sie. Zweimal habe ich Sie gesehen, seit ich zum letztenmal mit Ihnen sprach, und einmal wartete ich sechs Stunden, bis Sie kamen. Diese ganzen sechs Stunden habe ich hinter dem Stein gelegen und stand nicht auf, aus lauter Furcht, Sie könnten kommen und mich erblicken. Gott weiß, wo Sie an diesem Tag so lange waren …

Ich war bei Andresens, sagte sie unvermittelt.

Ja, das waren Sie vielleicht, ich sah Sie schließlich kommen. Sie waren nicht allein; aber ich sah Sie ganz deutlich und grüßte Sie leise hinter dem Stein. Gott weiß, was für ein Gedanke Sie da plötzlich durchfuhr, denn Sie wandten den Kopf und sahen einen Augenblick nach dem Stein hin …

Ja, hören Sie jetzt … Nein, Sie zucken zusammen, als sei es Ihr Todesurteil, das ich verlesen sollte …

Das ist es auch, ich verstehe es gut, Ihre Augen wurden eiskalt.

Ja, aber es muß wirklich ein Ende haben, Herr Nagel! Wenn Sie das Ganze überlegen, dann müssen Sie doch selbst zugeben, daß Sie auch gegen den Abwesenden nicht sehr schön handeln. Nicht wahr? Wenn Sie sich an seine Stelle denken … und außerdem machen Sie es auch für mich so peinlich. Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich Ihnen ein für allemal sagen: ich breche mein Versprechen nicht, ich liebe ihn. So, das muß Ihnen deutlich genug sein. Seien Sie nun etwas vorsichtig; ich will wirklich nicht länger hier mit Ihnen gehen, wenn Sie mir nicht ein wenig Rücksicht erweisen können. Das sage ich Ihnen offen.

Sie war bewegt, ihr Mund zitterte, und sie zwang sich sehr, nicht in Tränen auszubrechen. Als Nagel schwieg, fügte sie noch hinzu:

Sie dürfen mich gerne heimbegleiten, ganz heim, wenn Ihnen etwas daran liegt und Sie es nicht für uns beide unangenehm machen wollen. Wenn Sie mir etwas erzählen wollen, bin ich dankbar; ich höre Sie gerne reden.

Ja, sagte er auf einmal laut, mit jubelnder Stimme, wie irgendein Schwätzer, der nun drauflosreden durfte, ja, wenn ich nur mitgehen darf! Ich werde schon … Oh, wie kalt Sie mich übergießen, wie Sie mich förmlich straff machen, wenn Sie böse auf mich sind …

Eine Zeitlang sprachen sie von ganz gleichgültigen Dingen. Sie gingen mit kleinen Schritten und so langsam, daß sie beinahe nicht vom Fleck kamen.

Wie es duftet, wie es duftet! sagte er. Nein, wie jetzt nach dem Regen Gras und Blumen wachsen! Ich weiß nicht, ob Sie sich sehr für Bäume interessieren. Es ist sonderbar, aber ich fühle mich jedem Baum im Walde geheimnisvoll verwandt. Es ist, als habe ich einmal dem Walde angehört; wenn ich hier stehe und um mich blicke, zieht gleichsam eine Erinnerung durch meinen ganzen Menschen. Oh, bleiben Sie einen Augenblick stehen! Hören Sie! Hören Sie, wie die Vögel jetzt in wilder Begeisterung der Sonne entgegensingen? Sie sind vollkommen dumm und verrückt, sie fliegen uns beinahe ins Gesicht, ehe Sie sich's versehen.

Und sie gingen weiter.

Immer noch, sagte sie, trage ich die hübsche Vorstellung mit mir herum, die Sie mir einmal von dem Boot und dem blauen Seidensegel, das als Halbmond geschnitten war, gaben. Das war so schön. Wenn der Himmel so ganz fern und hoch ist, glaube ich mich selbst dort oben zu wiegen und mit einer Silberangel zu fischen.

Er war glücklich darüber, daß sie sich noch an diese Stimmung von der Johannisnacht erinnerte, seine Augen wurden feucht, und er antwortete warm:

Ja, das ist richtig, es würde auch am besten passen, wenn Sie in einem solchen Boot säßen.

Als sie ungefähr mitten in den Wald gekommen waren, war sie so unvorsichtig zu fragen:

Wie lange bleiben Sie hier?

Sie bereute es sofort, wollte es ungesagt haben, wurde aber bald ganz beruhigt, denn er lächelte und vermied, direkt zu antworten. Sie war ihm für sein Taktgefühl dankbar, sicher hatte er ihre Verlegenheit gesehen.

Ich bleibe ja hier, wo Sie sind, antwortete er … Ich bleibe so lange hier, als ich Geld habe, meinte er dann. Und er fügte hinzu: Aber das wird nicht so schrecklich lange dauern.

Sie sah ihn an, lächelte auch und fragte:

Wird das nicht so schrecklich lange dauern? Sie sind doch reich, wie ich gehört habe?

Da legte sich der alte geheimnisvolle Ausdruck über sein Gesicht, und er erwiderte: Bin ich reich? Hören Sie, es soll hier in der Stadt das Gerücht gehen, daß ich ein Geldmensch sei, daß ich unter anderem einen Landbesitz von bedeutendem Wert habe, – das ist nicht wahr, ich bitte Sie, glauben Sie es nicht, es ist Humbug. Ich habe keinen Landbesitz, auf jeden Fall ist er nur winzig klein, und ich besitze ihn nicht einmal allein, sondern zusammen mit meiner Schwester; außerdem ist er fast ganz verschuldet und mit allerhand Haftungen belastet. Das ist die Wahrheit.

Sie lachte ungläubig.

Sie pflegen ja stets die Wahrheit zu sagen, wenn Sie von sich sprechen, erwiderte sie.

Sie glauben mir nicht? Sie zweifeln? Aber ich will es Ihnen erklären. Obwohl es für mich demütigend ist, will ich Ihnen den Zusammenhang klarlegen: Sie müssen wissen, daß ich bereits am ersten Tag, an dem ich hier in der Stadt war, fünf Meilen zu Fuß bis zu der nächsten Stadt ging und von dort drei Telegramme über eine große Geldsumme und einen Hof in Finnland an mich sandte. Darauf ließ ich diese drei Telegramme mehrere Tage lang offen auf dem Tisch in meinem Zimmer liegen, damit jeder im Hotel sie lesen konnte. Glauben Sie mir jetzt? Ist es also kein Humbug mit meinem Geld?

Vorausgesetzt, daß Sie nicht wieder über sich lügen.

Wieder? Sie irren sich, gnädiges Fräulein. Bei Gott im höchsten Himmel, ich lüge nicht! So!

Pause.

Aber warum taten Sie das, warum sandten Sie Telegramme an sich selbst?

Ja, sehen Sie, das würde nun eine ziemlich lange Geschichte werden, wenn ich den Zusammenhang erklären sollte … Na, übrigens tat ich es einzig und allein, um zu prahlen, um Aufsehen in der Stadt zu erregen. Hehehe, rein herausgesagt.

Jetzt lügen Sie!

Hol mich der Teufel, wenn ich das tue!

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

Sie sind ein sonderbarer Mensch. Gott mag wissen, was Sie erreichen wollen. In dem einen Augenblick gehen Sie her und … ja, Sie scheuen sich nicht einmal, mir die heißesten Geständnisse zu machen; wenn ich dann aber mit einigen wenigen Worten Ihnen zur Vernunft zurede, schlagen Sie sofort um und stellen sich selbst als den übelsten Scharlatan, als Lügner, als Betrüger hin. Die Mühe könnten Sie sich vielleicht sparen; das eine macht sowenig Eindruck auf mich wie das andere. Ich bin ein zu schlichter Mensch; all diese Genialität geht über meinen Verstand.

Sie war auf einmal gekränkt.

Ich wollte gerade jetzt keine besondere Genialität zeigen. Es ist ja doch alles verloren, warum soll ich mich da noch anstrengen?

Aber warum erzählen Sie mir dann all dies Peinliche von sich, sobald Sie nur irgendwelche Gelegenheit dazu finden? rief sie heftig.

Und langsam, vollständig beherrscht, erwiderte er:

Um Eindruck auf Sie zu machen, gnädiges Fräulein.

Da blieben die beiden wieder stehen und starrten einander an. Er fuhr fort:

Ich habe schon früher einmal das Vergnügen gehabt, Ihnen ein paar Worte über meine Methode zu sagen. Sie fragten, warum ich sogar jene Geheimnisse ausplappere, die mir schaden und die ich verborgen halten könnte. Ich antwortete: Aus Politik, aus Berechnung. Ich glaube nämlich an die Möglichkeit, daß meine Offenherzigkeit trotz Ihres Leugnens ein wenig Eindruck auf Sie macht. Auf jeden Fall kann ich mir denken, daß Sie vor dieser schonungslosen Gleichgültigkeit, mit der ich mich selbst ausliefere, einen gewissen Respekt bekommen. Vielleicht verrechne ich mich, das ist schon möglich, dann ist es eben nicht zu ändern. Aber selbst wenn ich mich verrechne, – Sie sind ja doch für mich verloren und ich setze nichts mehr aufs Spiel. Auf diesem Punkt kann man anlangen, das ist die Verzweiflung, das Hasard. Ich selbst verhelfe Ihnen dazu, Anklagen gegen mich vorzubringen, und stärke Sie dadurch noch nach Kräften in Ihrem Vorsatz, mich abzuweisen, einfach abzuweisen. Warum tue ich das? Weil es meiner armen Seele widerstrebt, zu meinem eigenen Vorteil zu sprechen und durch eine solche Erbärmlichkeit etwas zu gewinnen, ich könnte es nicht über meine Lippen bringen. Aber – können Sie sagen – ich suche durch List und auf Umwegen zu dem gleichen Ziel zu gelangen, das andere durch eine dürftige Offenheit erreichen. Ach … Übrigens will ich mich nicht verteidigen. Nennen Sie es Humbug, warum nicht, das ist richtig, das ist treffend, ich will selbst hinzufügen, daß alles die armseligste Fälschung ist. Gut, es ist also Humbug, und ich verteidige mich nicht. Sie haben recht, mein ganzes Wesen ist Humbug. Nun aber hält der Humbug alle Menschen mehr oder minder gefangen, kann da nicht die eine Art Humbug ebenso gut sein wie eine andere, wenn das Ganze im Innersten doch nur Humbug ist? … Ich fühle, daß ich in Eifer gerate, und hätte Lust, einen Augenblick eines meiner Steckenpferde zu reiten … Nein, das will ich übrigens nicht; Herrgott und Himmel, wie müde bin ich von dem allem! Ich sage: Laß es laufen, laß es nur laufen: Punktum … Wer sollte etwa glauben, daß zum Beispiel in Doktor Stenersens Haus nicht alles ganz in Ordnung ist? Ich sage auch nicht, daß etwas nicht in Ordnung sei, deshalb frage ich nur, ob es einem Menschen einfallen könnte, von dieser achtbaren Familie etwas Schlimmes zu glauben. Es sind nur zwei Personen, Mann und Frau, keine Kinder, keine ernstlichen Sorgen, und trotzdem gibt es da vielleicht eine dritte Person, Gott allein weiß das, aber vielleicht ist da, alles in allem gerechnet, noch eine Person, außer dem Mann und der Frau, ein junger Mensch, ein allzu warmer Freund des Hauses, der Bevollmächtigte Reinert. Was soll man sagen? Vielleicht werden auf beiden Seiten Fehler gemacht. Es ist sogar möglich, daß der Doktor von all dem weiß und trotzdem nichts dagegen tun kann, wenigstens trank er heute nacht ungeheuer viel, und alles, die ganze Welt, war ihm so gleichgültig, daß er die vollständige Vernichtung der Menschheit durch Blausäure vorschlug und meinte, die Kugel könne dann weiter rollen. Armer Mann! … Aber er ist schwerlich der einzige, der bis an die Knie im Humbug steht, selbst wenn ich von mir – Nagel – absehe, der ich bis an den Gürtel im Humbug stehe. Nehmen wir zum Beispiel Minute! Eine gute Seele, ein Gerechter, ein Märtyrer! Alles Gute ist auf seiner Seite; aber ich behalte ihn im Auge. Ich sage Ihnen, ich lasse ihn nicht aus den Augen! Das scheint Sie zu erstaunen? Habe ich Sie erschreckt? Das war nicht meine Absicht. Ich möchte Sie gleich mit der Bemerkung beruhigen, daß Minute nicht ins Wanken zu bringen ist, er ist wahrlich rechtfertig. Und warum lasse ich ihn nicht aus den Augen, warum beobachte ich ihn nachts um zwei Uhr, von einer Straßenecke aus, wenn er von einem unschuldigen Spaziergang heimkommt – um zwei Uhr nachts? Warum spioniere ich ihn nach allen Richtungen hin aus, wenn er seine Säcke austrägt und die Leute in den Straßen grüßt? Ohne jeden Grund, meine Liebe, ohne jeden Grund! Er interessiert mich nur, ich halte etwas auf ihn, und es freut mich in diesem Augenblick, ihn mitten in all dem übrigen Humbug als den reinen Menschen und den Gerechten hinstellen zu können. Deshalb erwähne ich ihn ja, und Sie verstehen mich ganz gewiß. Hehehe … Um aber zu mir zurückzukommen … O nein, ich will gar nicht zu mir zurückkommen, alles andere lieber als das!

Dieser letzte Ausruf war so echt, so traurig, daß er ihr Mitleid mit ihm einflößte. Sie wußte in diesem Augenblick, daß sie es mit einer sehr gepeinigten und zerrissenen Seele zu tun hatte. Da er jedoch sofort dafür sorgte, diesen Eindruck bei ihr zu verwischen, indem er plötzlich kalt und gerade hinauslachte und noch einmal darauf schwor, daß alles nur der reine Humbug sei, verließen sie ihre freundschaftlichen Gefühle mit einemmal. Scharf sagte sie:

Sie ließen über Frau Stenersen einige Andeutungen fallen, die nicht halb so dreist hätten zu sein brauchen, um doch schon gemein zu sein. Auch an Minute, einem armen Krüppel, wollten Sie sich Lorbeeren holen. Das war wirklich übel gehandelt – niedrig!

Sie begann wieder zu gehen, und er folgte. Er antwortete nicht, ging mit gesenktem Kopf. Es zuckte einige Male in seinen Schultern, und zu ihrer Überraschung sah sie ein paar große Tränen über sein Gesicht rollen. Er wandte sich ab und pfiff einem kleinen Vogel, um es zu verbergen.

Zwei Minuten gingen sie, ohne etwas zu sagen. Sie war gerührt und bereute ihre harten Worte bitter. Vielleicht hatte er noch dazu recht mit allem, was er sagte; was wußte sie? Gott weiß, ob dieser Mensch nicht in Wochen mehr gesehen hatte als sie in Jahren.

Sie gingen immer noch schweigend. Er war wieder vollkommen ruhig und spielte gleichgültig mit seinem Taschentuch. In einigen Minuten mußten sie an den Pfarrhof kommen.

Da sagte sie:

Ist Ihre Hand sehr verletzt? Darf ich sehen?

Ob sie das nun tat, um ihm damit eine Freude zu machen, oder ob sie ihm wirklich für einen Augenblick nachgab, – sie sagte das mit einer innigen, beinahe bewegten Stimme und blieb auch stehen.

Jetzt kochte seine ganze Leidenschaft über. In diesem Augenblick, in dem sie ihm so nahe stand, den Kopf über seine Hand gebeugt, so daß er den Duft ihres Haares und Halses spürte, und in dem kein Wort gesprochen wurde, stieg seine Liebe bis zur Verrücktheit, bis zum Wahnsinn. Er drückte sie zuerst mit dem einen Arm an sich und dann, als sie sich dagegen wehrte, auch mit dem anderen Arm, preßte sie warm und lange an seine Brust und hob sie beinahe von der Erde auf. Er fühlte, daß sich ihr Rücken bog und daß sie sich ergab. Schwer und köstlich ruhte sie in seiner Umarmung, und ihre Augen sahen halb verschleiert in die seinen. Er sprach zu ihr, sagte, daß sie herrlich, herrlich sei und daß sie bis ans Ende seines Lebens die Liebe seiner Liebe sein werde. Schon früher sei ein Mann für sie in den Tod gegangen, ja, das würde auch er tun, auf den kleinsten Wink, auf ein Wort hin. Oh, wie er sie liebe! Und während er sie zärtlicher und zärtlicher an sich drückte, sagte er ein um das andere Mal: Ich liebe dich, ich liebe dich!

Sie leistete keinen Widerstand mehr, ihr Kopf sank ein wenig auf seinen linken Arm hinüber, und er küßte sie brennend, in kurzen Zwischenräumen, nur von den zärtlichsten Worten unterbrochen. Er merkte deutlich, daß sie selbst sich an ihn schmiegte, und wenn er sie küßte, schloß sie die Augen noch fester.

Komm morgen zum Baum, du weißt den Baum, die Espe. Komm, ich liebe dich, Dagny! Willst du kommen? Komm, wann du willst, komme um sieben Uhr.

Sie antwortete darauf nicht, sondern sagte nur:

Lassen Sie mich jetzt los.

Und langsam löste sie sich aus seinen Armen.

Sie blieb einen Augenblick stehen und sah um sich, ihr Gesicht bekam einen immer verwirrteren Ausdruck, schließlich zitterte ein hilfloses Zucken um ihren Mund, und sie ging zu einem Stein am Wegrand und setzte sich. Sie weinte.

Er beugte sich über sie und sprach leise. Das dauerte ein paar Minuten. Plötzlich springt sie auf, mit geballten Händen, bleich vor Zorn, sie preßt die Hände gegen die Brust und sagt rasend:

Sie sind ein erbärmlicher Mensch, o Gott, wie erbärmlich Sie sind! Aber Sie selbst finden das vielleicht gar nicht. Nein, wie konnten Sie, wie konnten Sie das tun?

Dann begann sie wieder zu weinen.

Wieder versuchte er sie zu beruhigen, doch ohne Erfolg; eine halbe Stunde lang standen sie bei dem Stein am Wegrand und kamen nicht weiter.

Sie wollen sogar, daß ich Sie wieder treffe, sagte sie; aber ich treffe Sie nicht, ich will Sie nicht mehr vor meinen Augen sehen, Sie sind ein Schurke!

Er bat, warf sich vor ihr nieder und küßte ihr Kleid; aber sie wiederholte beständig, er sei ein Schurke und habe sich erbärmlich betragen. Was hatte er mit ihr getan? Er solle sie allein lassen, allein lassen! Er dürfe, dürfe sie nicht weiter begleiten, keinen Schritt mehr!

Und sie begann heimwärts zu gehen.

Trotzdem wollte er ihr nachfolgen; aber sie wehrte ihm mit der Hand ab und sagte:

Folgen Sie mir nicht!

Er blieb stehen und sah ihr nach, bis sie sich zehn, zwanzig Schritte entfernt hatte. Da ballt auch er die Hände, läuft ihr nach, trotz ihrem Verbot, läuft ihr nach und zwingt sie, wieder stehenzubleiben.

Ich will Ihnen nichts Böses zufügen, sagte er. Haben Sie doch ein wenig Mitleid mit mir! So wie ich jetzt hier vor Ihnen stehe, bin ich bereit, mich zu töten, nur um Sie von mir zu befreien; es bedarf nur eines Wortes von Ihnen. Und das würde ich Ihnen auch morgen wiederholen, wenn ich Sie träfe. Aber Sie sollten mir die Barmherzigkeit erweisen, mir Recht widerfahren zu lassen. Sie begreifen, ich unterliege einer Macht, die von Ihnen ausgeht und über die ich nicht Herr bin. Und es ist doch nicht nur meine Schuld, daß ich Sie auf meinem Wege getroffen habe. Gott gebe, daß Sie niemals so etwas erleben, wie ich jetzt durchmache!

Dann wandte er sich um und ging.

Die schweren Schultern auf dem kurzen Körper zuckten wieder unaufhörlich, während er sich entfernte. Er sah niemand, er kannte kein Gesicht und besann sich erst wieder auf sich, nachdem er durch die ganze Stadt gegangen war und sich vor der Treppe des Hotels befand.


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