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18

Aber schon am Vormittag des nächsten Tages wurde seine Hoffnung vollständig zerstört. Zuerst kam Doktor Stenersen. Er kam, noch ehe Nagel aufgestanden war. Der Doktor bat um Entschuldigung, aber dieser Teufelsbasar nehme ihn Tag und Nacht in Anspruch. Ja, er hätte einen Auftrag, eine Mission: es handle sich darum, ihn – Nagel – dazu zu bewegen, heute abend wieder auf dem Basar aufzutreten. Die wunderbarsten Gerüchte über sein Spiel liefen um, die Stadt schliefe nicht mehr vor lauter Neugierde; wirklich wahr! Sie lesen die Zeitungen, wie ich sehe! Ja, die Politik! Haben Sie die letzten Ernennungen verfolgt? Im großen und ganzen fielen die Wahlen ja nicht so aus, wie es hätte sein sollen, die Schwedischen wurden nicht genügend geschlagen … Ich finde, Sie bleiben ziemlich lange liegen; es ist zehn Uhr. Und ein Wetter ist draußen, alles zittert vor Wärme! Sie sollten einen Morgenspaziergang machen.

Ja, Nagel wollte jetzt auch aufstehen.

Nun, was durfte also den Spitzen des Basars geantwortet werden?

Nein, Nagel wollte nicht spielen.

Nicht? Aber es sei doch eine Sache von vaterländischer Bedeutung; habe er das Recht, sich diesem kleinen Dienst zu entziehen?

Nein, er könne nicht.

Herrgott, nun war gerade solche Stimmung dafür, besonders die Damen hatten den Doktor gestern abend förmlich darum bestürmt, daß er es durchsetzen solle. Fräulein Andresen hatte ihm nicht Ruhe noch Rast gelassen, und Fräulein Kielland hatte ihn sogar auf die Seite gezogen und ihn gebeten, Nagel auf gar keinen Fall auszulassen, ehe er nicht versprochen habe zu kommen.

Ja, aber Fräulein Kielland wisse doch gar nicht, wie er spiele? Sie habe ihn doch noch nie gehört.

Nein, aber sie war doch die Eifrigste gewesen; sie hatte sich sogar angeboten, ihn zu begleiten … Zum Schluß meinte sie: Sagen Sie ihm, wir bäten ihn alle miteinander … Sie könnten doch wirklich diese zehn, zwölf Bogenstriche machen und uns diese Freude bereiten.

Er könne nicht, er könne nicht!

Ja, sehen Sie, das sind nun wieder nur Ausreden; er konnte doch am Donnerstagabend.

Nagel wand sich ein wenig: Und wenn er jetzt nur diesen armseligen Brocken könnte, dieses eine unzusammenhängende Potpourri, wenn er sich nur gerade diese paar Tänze auf den Glanz eingeübt hätte, um die Leute eines Abends in Erstaunen zu setzen? Und abgesehen davon, er spiele falsch wie die Sünde; er selbst hielte es nicht aus, sich zuzuhören, nein, wahrhaftig nicht!

Ja, aber …

Doktor, ich tue es nicht!

Aber wenn schon nicht heute abend, dann doch wenigstens morgen abend? Morgen ist Sonntag, der letzte Tag, und wir hoffen auf einen besonders starken Besuch.

Nein, Sie müssen mir verzeihen, ich spiele auch morgen abend nicht. Es ist dumm, eine Geige überhaupt anzurühren, wenn man nicht besser spielt als ich. Es ist doch merkwürdig, daß Sie das nicht heraushören!

Darauf biß der Doktor an.

Ja, sagte er, ich fand schon, daß es dann und wann ein wenig falsch klang; aber zum Teufel, es sind doch nicht alle Kenner.

Es nützte nichts, der Doktor erhielt ein beharrliches Nein und mußte gehen.

Nagel begann sich anzukleiden. Ach, wirklich, sogar Dagny war so eifrig bemüht, ihn dazu zu bringen, sie würde ihn sogar begleitet haben! Eine neue Falle, was? Gestern mißglückte es ihr, und nun wollte sie sich auf diese Weise schadlos halten? … Herrgott, vielleicht tat er ihr auch Unrecht, vielleicht wollte sie ihn jetzt nicht mehr hassen, wollte ihn in Frieden lassen! Und er bat sie im Herzen um Verzeihung für seinen Verdacht. Er sah auf den Marktplatz hinaus; der herrlichste Sonnenschein und ein hoher Himmel. Er summte.

Als er beinahe zum Fortgehen bereit war, reichte Sara ihm einen Brief durch die Türe herein; er kam nicht von der Post, sondern durch einen Boten. Der Brief war von Martha und enthielt nur wenige Zeilen: Er solle heute abend doch nicht kommen, sie sei abgereist. Er möge ihr um Gottes willen alles vergeben und sie nicht mehr besuchen; sie litte bei einem Wiedersehen. Lebewohl. Zu unterst am Brief, unter ihrem Namen, hatte sie hinzugefügt, daß sie ihn niemals vergessen werde. Ich kann Sie niemals vergessen, schrieb sie. Überhaupt klang ein Ton der Wehmut durch die wenigen Zeilen des Briefes, sogar die Buchstaben hatten ein trauriges, ärmliches Aussehen.

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. Alles war verloren, verloren! Sogar da war er zurückgewiesen worden! Wie merkwürdig ging es doch zu; alles verschwor sich gegen ihn! Hatte er es wohl jemals besser und ehrlicher gemeint als hier! Und trotzdem, trotzdem half es nichts! Einige Minuten lang sitzt er unbeweglich da.

Plötzlich springt er vom Stuhl auf; und er sieht auf die Uhr, es ist elf Uhr. Wenn er vielleicht sofort wegginge, konnte er Martha noch treffen, ehe sie abreiste! Augenblicklich begibt er sich zu ihrem Haus hinunter; es ist abgeschlossen und leer. Er schaut durch die Fenster in beide Zimmer und kann niemand entdecken.

Geschlagen und stumm kehrt er wieder ins Hotel zurück, ohne zu wissen, wo er geht, ohne von der Straße aufzusehen. Wie konnte sie das tun! Wie konnte sie das tun! Er hätte ihr doch Lebewohl sagen und ihr alles, alles Gute wünschen können auf allen ihren Wegen. Er wäre vor ihr niedergekniet, um ihrer Güte willen, denn sie hatte das reinste Herz, und sie hätte es nicht ertragen können, daß er das getan hätte. Ja, ja, nun war nichts mehr zu machen!

Als er Sara im Gang traf, erfuhr er, daß der Brief durch einen Boten aus dem Pfarrhof geschickt worden sei. So war auch das Dagnys Werk, sie hatte das Ganze veranlaßt, hatte genau berechnet und rasch gehandelt. Nein, sie würde ihm nie verzeihen!

Den ganzen Tag streifte er in den Straßen umher, war bald in seinem Zimmer, bald im Wald draußen, überall; nicht einen Augenblick hatte er Ruhe. Beständig ging er mit gebeugtem Kopf und mit weit offenen Augen, die nichts sahen.

Am nächsten Tag war es genau das gleiche. Es war Sonntag, eine Menge Menschen waren vom Land hereingekommen, um am letzten Tag den Basar zu besuchen und die lebenden Bilder zu sehen. Nagel wurde wieder gebeten, eine einzige Nummer zu spielen, diesmal durch einen anderen Herrn der Leitung, durch Konsul Andresen, Fredrikkes Vater; aber auch diesmal schlug er es ab. Vier ganze Tage lang ging er wie ein Verrückter umher, in einer merkwürdig abwesenden Stimmung, als sei er von einem Gedanken, einem Gefühl besessen. Jeden Tag, und an jedem Tag mehrmals, war er unten an Marthas Haus und sah nach, ob sie nicht zurückgekommen sei. Wohin war sie gereist? Aber wenn er sie auch gefunden hätte, wäre es doch nutzlos gewesen; nutzlos!

Eines Abends wäre er beinahe mit Dagny zusammengestoßen. Sie kam aus einem Laden und streifte fast seinen Ellbogen. Sie bewegte die Lippen, als wolle sie ihn ansprechen, wurde aber plötzlich rot und schwieg. Er erkannte sie nicht sogleich, und in der Verwirrung blieb er einen Augenblick stehen und sah sie an, ehe er sich umwandte und sich entfernte. Sie kam nach, er hörte an ihrem Schritt, daß sie schneller und schneller ging; er hatte das Gefühl, sie wolle ihn einholen, und er beschleunigte deshalb seinen Gang, um fortzukommen, sich vor ihr zu verstecken. Er hatte Angst, sie würde ihn aufs neue in irgendein Unglück stürzen! Endlich erreichte er sein Hotel, er lief hinein und eilte in höchster Unruhe auf sein Zimmer. Gott sei Dank, er war gerettet!

Das war am vierzehnten Juli, an einem Dienstag …

Am nächsten Morgen schien er einen Entschluß gefaßt zu haben, einen Entschluß, irgend etwas zu tun. Sein Gesicht hatte sich in diesen wenigen Tagen ganz verändert, es war grau und starr geworden, und seine Augen waren ohne Leben. Immer öfter auch ging er ein gutes Stück weit durch die Stadt, ehe er entdeckte, daß seine Mütze noch im Hotel lag. Bei solchen Gelegenheiten pflegte er sich zu sagen, daß dies ein Ende haben müsse, ein für allemal ein Ende, und wenn er das sagte, ballte er die Hände hart zusammen.

Als er am Mittwochmorgen aufstand, untersuchte er zuerst die kleine Giftflasche in seiner Westentasche, schüttelte sie, roch daran und steckte sie wieder ein. Während er sich dann ankleidete, begann er aus alter Gewohnheit, mit einer dieser langen und unordentlichen Gedankenreihen zu spielen, die ihn häufig beschäftigten und seinen müden Kopf niemals zur Ruhe kommen ließen. Mit einer verrückten, ungeheuren Hast tat sein Gehirn diese Arbeit; er war erregt und so verzweifelt, daß er oft Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten, und dabei drangen tausend Dinge auf ihn ein:

Ja, Gott sei Dank, er hatte seine kleine Flasche! Die Flüssigkeit war klar wie Wasser und roch nach Mandeln. O ja, er würde doch noch sehr bald, sehr bald Verwendung dafür haben, wenn sich kein anderer Rat fand. Es war eben doch das Ende. Und warum nicht? Er hatte so närrisch schön von einer Tat auf Erden geträumt, von etwas Großem, von Taten, vor denen sich die Fleischfresser bekreuzigen sollten – und das war schlimm ausgefallen; er hatte die Aufgabe nicht bewältigt. Warum sollte er keine Verwendung für die Flüssigkeit haben? Es blieb nur noch übrig, sie ohne allzu viele Grimassen zu verschlucken. Ja, ja, das würde er tun, wenn die Zeit erfüllt war, wenn die Stunde schlug.

Und Dagny sollte gewinnen …

Wie mächtig war dieses Menschenkind, so durchschnittlich sie war, mit einem langen Zopf und einem verständigen Herzen! Er konnte sich gut in den armen Mann hineindenken, der nicht ohne sie leben wollte, jenen mit dem Stahl und dem letzten Nein. Er wunderte sich nicht mehr über ihn, der Arme hatte Schluß gemacht, und was hätte er sonst tun sollen? … Wie ihre blauen Samtaugen funkeln werden, wenn auch ich jetzt den gleichen Weg gehe! Aber ich liebe dich, liebe dich auch deshalb. Nicht nur um deiner Tugenden, sondern auch um deiner Bosheit willen. Du quälst mich zu sehr mit deiner Nachsicht; warum duldest du, daß ich mehr als ein Auge habe? Du solltest das andere nehmen, ja, alle beide; du solltest es nicht zugeben, daß ich friedlich auf der Straße gehen darf und ein Dach über dem Kopf habe. Du hast Martha von mir weggerissen, ich liebe dich trotzdem, und du weißt das und lachst nur darüber, und auch dafür liebe ich dich, weil du darüber lachst. Kannst du mehr verlangen? Ist das nicht genug? Ich liebe deine langen, weißen Hände, deine Stimme, dein helles Haar, deinen Atem und deine Seele wie nichts in der Welt, und ich kann mich nicht davor retten und habe mich nicht mehr in der Gewalt. Ja, du darfst gerne meiner spotten und über mich lachen, was tut das, Dagny, wenn ich dich liebe? Ich kann nicht finden, daß sich dadurch etwas ändert; du kannst mir antun, was dir einfällt, und du bist immer gleich schön und liebenswert in meinen Augen, ich gebe das willig zu. Ich habe dich irgendwie enttäuscht, du findest mich böse und schlecht, du hältst mich alles Schlimmen für fähig. Könnte ich meinen geringen Wuchs durch irgendeinen Betrug verbessern, so würde ich es tun. Ja, und was weiter? Wenn du das sagst, dann ist es auch so, dann ist es auch mir recht, und ich versichere dir, meine Liebe beginnt in mir zu singen, auch wenn du das sagst. Selbst wenn du mich geringschätzig ansiehst oder mir den Rücken wendest, ohne auf meine Frage zu antworten, oder wenn du mich auf der Straße einzuholen versuchst, um mich zu demütigen, auch da bebt dir mein Herz in Liebe entgegen. Du mußt mich verstehen, ich betrüge jetzt keinen von uns beiden, aber es ist mir gleich, ob du wiederum lachst, das verändert meine Gefühle nicht; so steht es. Und sollte ich einmal einen Diamanten finden, so müßte er Dagny heißen, denn nur allein dein Name macht mich heiß vor Freude. So weit aber gehe ich sogar, daß ich unablässig deinen Namen hören könnte, ihn von allen Menschen und Tieren und allen Bergen und Sternen nennen hören könnte, daß ich für alles andere taub sein möchte und nur mein ganzes Leben lang Tag und Nacht deinen Namen als einen unendlichen Ton in meinem Ohre hören möchte. Ich könnte dir zu Ehren einen neuen Eid erfinden, einen Eid für alle Völker der Erde, nur dir zu Ehren. Und wenn ich dabei sündigte, und Gott warnte mich, würde ich ihm antworten: Schreibe es zu meinen Schulden, rechne es an, ich bezahle es mit meiner Seele, wenn die Zeit erfüllt ist, wenn die Stunde schlägt …

Wie merkwürdig ist alles! Überall bin ich gehemmt, und doch bin ich der gleiche an Stärke und Lebenskraft, die gleichen Möglichkeiten wie früher stehen mir offen, ich könnte die gleiche Arbeit tun. Warum bin ich denn gehemmt, und warum sind mir auf einmal alle Möglichkeiten unmöglich geworden? Bin ich selbst daran schuld? Ich weiß nicht wodurch. Ich habe alle meine Sinne, habe keine schädlichen Gewohnheiten, unterliege keinem einzigen Laster, stürze mich auch nicht blind in die Gefahr. Ich denke wie früher, fühle wie früher, bin Herr über meine Bewegungen wie früher, ja, und ich schätze die Menschen ein wie früher. Ich gehe zu Martha, ich weiß, sie ist die Erlösung, sie ist die gute Seele, mein guter Engel. Sie hat Angst, sie fürchtet sich sehr; aber schließlich will sie doch, wie ich will, und wir sind einig. Gut! Ich träume von einem Leben in glücklichem Frieden; wir ziehen uns in die Einsamkeit zurück, wir wohnen in einer Hütte am Rande einer Quelle, wir streifen durch die Wälder, mit kurzen Kleidern und Spangenschuhen – genau so, wie ihr sentimentales und freundliches Herz es verlangt. Warum nicht? Mohammed geht zum Berg! Und Martha ist dabei, Martha ist dabei, Martha erfüllt meinen Tag mit Reinheit und die Nacht mit Ruhe, und der Herr in der Höhe ist über uns. Jetzt aber mischt sich die Welt hinein, die Welt bäumt sich auf, die Welt nennt es Wahnsinn. Die Welt sagt, ein vernünftiger Mann und eine vernünftige Frau würden das nicht getan haben, folglich ist es Wahnsinn, so etwas zu tun. Und ich trete als der einzige vor, stampfe auf den Boden und sage, es ist vernünftig! Was weiß die Welt? Nichts! Man gewöhnt sich nur an ein Bild, man nimmt es an, erkennt es an, denn unsere Lehrer haben es vor uns anerkannt, alles ist einzig und allein eine Annahme, ja sogar Zeit, Raum, Bewegung, Materie sind eine Annahme. Die Welt weiß nichts, sie übernimmt nur …

Einen Augenblick hielt Nagel die Hand vor die Augen und bewegte den Kopf hin und her, als schwirre es vor ihm. Er stand mitten im Zimmer.

Woran dachte ich eben jetzt? … Gut, sie fürchtete sich vor mir; aber wir wurden doch einig. Und ich fühle in meinem Herzen, daß ich ihr mein Leben lang alles Gute tun muß. Ich will der Welt mein Bündnis aufsagen, ich sende ihr den Ring zurück; wie ein Narr habe ich mich unter anderen Narren getummelt, verrückte Streiche habe ich begangen, und ich habe auch Geige gespielt, und die Leute haben gerufen: Gut gebrüllt, Löwe! Es ekelt mich vor dem unsäglich rohen Triumph, die Fleischfresser klatschen zu hören, ich konkurriere nicht mehr mit einem Telegraphisten von Kabelvaag, ich gehe in das Tal des Friedens und werde das friedlichste Wesen des Waldes. Ich verehre meinen Gott, summe zufrieden Lieder vor mich hin, werde abergläubisch, rasiere mich nur zur Zeit der Flut und beobachte den Schrei gewisser Vögel, wenn ich mein Korn säe. Und wenn ich von der Arbeit müde bin, steht meine Frau in der Türe und winkt mir zu, und ich segne sie und danke ihr für all ihr freundliches Lächeln … Martha, wir waren doch einig, war es nicht so? Du versprachst es so bestimmt, du wolltest es zum Schluß doch selbst, als ich dir alles erklärte? Und dann wurde doch nichts aus dem Ganzen. Du wurdest mir entführt, überrumpelt und entführt, nicht zu deinem, sondern zu meinem Verderben …

Dagny, ich liebe dich nicht, du hast mich überall aufgehalten, ich liebe deinen Namen nicht, er reizt mich, macht mich zornig, ich nenne dich Dangni und strecke die Zunge heraus … Höre mich um Christi willen! Ich werde zu dir kommen, wenn die Stunde geschlagen hat, wenn ich tot bin, ich werde mich dir an der Brandmauer zeigen, mit einem Gesicht wie ein Treffbube, und ich werde dich als Skelett verfolgen, auf einem Bein um dich herumtanzen und mit meinem Griff deine Arme lähmen. Das will ich tun, das will ich tun! Gott bewahre mich vor dir, jetzt und alle Zeit, das heißt, der Teufel soll dich holen, darum bitte ich innig …

Und was dann? Zum siebenten und letztenmal, was dann? Ich liebe dich trotzdem, und, Dagny, du weißt gut, daß ich dich trotzdem liebe und alle meine bitteren Worte bereue. Aber was weiter? Was nützt es mich? Und außerdem, wer weiß, ob es nicht so am besten ist? Wenn du sagst, daß es so am besten sei, dann ist es auch so, ich fühle das gleiche wie du, ich bin ein aufgehaltener Wanderer. Aber wenn du auch gewollt hättest und mit allen anderen gebrochen und dich an mich gebunden hättest – was ich nicht verdient hätte, aber trotzdem, nehmen wir es an –, wozu hätte es geführt? Du hättest mir höchstens helfen wollen, meine Werke zu schaffen, meine Arbeit in der Welt zu vollbringen – ich sage dir, das beschämt mich, mein Herz steht still vor Scham, wenn ich daran denke. Ich würde tun, was du wolltest, denn ich liebe dich, aber ich würde dabei in meiner Seele leiden … Na, was in aller Welt nützt es, ein Ding nach dem anderen anzunehmen, unmögliche Ausgangspunkte aufzustellen? Du würdest nicht mit allen anderen brechen und dich nicht an mich binden, du bedankst dich, lachst mich aus, verhöhnst mich; was habe ich also mit dir zu schaffen? Punktum.

Er schwieg. Dann mit Heftigkeit:

Übrigens will ich dir sagen, daß ich jetzt dieses gute Glas Wasser trinke und mich den Teufel um dich schere. Es ist unsagbar dumm von dir zu glauben, daß ich dich liebe, daß ich mir wirklich diese Mühe gebe, jetzt, da die Zeit so bald erfüllt ist. Ich verabscheue dein ganzes gutbürgerliches Dasein, so geziert, wohlfrisiert und nichtssagend, wie es ist. Ich verabscheue es, weiß Gott, das tue ich, und wenn ich an dich denke, fühle ich in mir eine Erbitterung wie ein heiliges Donnerwetter. Was würdest du aus mir gemacht haben? Hehe, ich möchte darauf schwören, daß du einen großen Mann aus mir gemacht hättest. Hehe, gehe hin und schlage dich an die Brust! Ich schäme mich bis ins Innerste für deine großen Männer …

Ein großer Mann! Wieviel große Männer gibt es in der Welt? Zunächst: die großen Männer in Norwegen, die sind die größten. Dann die großen Männer in Frankreich, im Lande Victor Hugos und der Dichter, dann kommen die großen Männer dort in Barnums Reich. Und alle diese großen Männer balancieren auf einem Weltkörper, der im Verhältnis zum Sirius nicht größer ist als der Rücken einer Laus. Aber ein großer Mann ist kein kleiner Mann, ein großer Mann wohnt nicht in Paris, er bewohnt Paris. Ein großer Mann steht so hoch, daß er sich selbst auf den Kopf sehen kann. Lavoisier bat darum, mit dem Köpfen so lange zu warten, bis er eine chemische Untersuchung vollendet hätte, das heißt: Störe meine Kreise nicht! Hehe, welch eine Komödie! wenn doch nicht einmal, nein, nicht einmal Eukleides, Eukleides mit den Axiomen, mehr als einen Ör zum Grundwert beigetragen hat! Ach, wie ärmlich und genügsam und wenig stolz hat man es auf der Erde des Herrn eingerichtet!

Da geht man hin und macht große Männer aus den zufälligsten Professionisten, die zufälligerweise den Konzentrierungsapparat der Elektrizität verbessert haben oder die zufälligerweise genügend Muskelkraft gehabt haben, sich auf einem Fahrrad durch Schweden durchzustrampeln. Ja, und zur Förderung der Anbetung großer Männer läßt man große Männer Bücher schreiben! Hehe, das ist wirklich lustig, das ist sein Geld wert! Schließlich will jede Gemeinde ihren großen Mann haben, einen Rechtskandidaten, einen Romanschriftsteller, einen Polarschiffer von ungeheurer Größe. Und die Erde wird so großartig flach und einfach und eben zu überblicken …

Dagny, jetzt bin ich an der Reihe: ich bedanke mich, ich lache dich aus, ich verhöhne dich; was hast du denn mit mir zu schaffen? Ich werde niemals ein großer Mann sein …

Aber sagen wir einmal, es gäbe eine ungeheure Menge großer Männer, eine Legion von Genies von der und der Größe; warum sollen wir das nicht annehmen? Und was dann? Soll mir vielleicht die Anzahl imponieren? Im Gegenteil, je mehr es von dieser Art gibt, desto gewöhnlicher werden sie! Oder soll ich so tun, wie die Welt tut? Die Welt ist sich immer gleich, sie erkennt auch hier an, was die Welt früher erkannt hat, sie bewundert, fällt in die Knie, läuft den großen Männern mit Hurrarufen nach. Und das sollte auch ich tun? Komödie, Komödie! Der große Mann geht auf der Straße, ein Menschenkind stupft das andere in die Seite und sagt: Da geht der und der große Mann! Der große Mann sitzt im Theater, eine Lehrerin kneift die andere in den entkräfteten Schenkel und flüstert: Dort in der Proszeniumsloge sitzt der und der große Mann! Hehe. Und er selbst, der große Mann? Er kassiert ein! Ja, das tut er. Die Menschenkinder haben recht, findet er, er nimmt ihre Aufmerksamkeiten wie etwas ihm Gebührendes entgegen, er verschmäht sie nicht, er errötet nicht. Warum auch sollte er erröten? Ist er nicht ein großer Mann?

Aber der junge Student Öien würde hier protestieren. Er will selbst ein großer Mann werden, in den Ferien schreibt er an einem Roman. Er würde wieder auf meine Inkonsequenz hinweisen: Herr Nagel, Sie sind nicht konsequent, erklären Sie sich deutlicher!

Und ich würde meine Meinung erklären.

Aber der junge Öien würde sich nicht zufrieden geben, er würde fragen: Dann gibt es eigentlich keine großen Männer?

Ja, das würde er fragen, auch nachdem ich ihm sogar meine Meinung erklärt hätte! Hehe, so würde es sich für ihn darstellen. Na, aber trotzdem würde ich ihm, so gut ich es vermöchte, wieder antworten, würde in Eifer kommen und erwidern: Es gibt eben ganz einfach eine Legion großer Männer, verstehen Sie jetzt, was ich meine? Es gibt eine Legion! Aber größte Männer gibt es sehr, sehr wenige. Sehen Sie, das ist der Unterschied. Bald wird in jeder Gemeinde ein großer Mann sein; aber von den größten Männern gibt es vielleicht nicht einmal einen in jedem Jahrtausend. Unter einem großen Mann versteht die Welt ganz einfach ein Talent, ein Genie, und, lieber Gott, Genie ist ein sehr demokratischer Begriff: So und so viele Pfund Beef am Tag zu fressen, gibt Genie bis ins dritte, vierte, fünfte, zehnte Glied. Das Genie in populärer Bedeutung ist nicht das Unerhörte, ein Genie ist nur ein menschliches Apropos; man bleibt dabei stehen, aber man steilt nicht davor zurück. Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich an einem sternhellen Winterabend in einem Observatorium und sähen sich durch das Fernglas den Orionnebel an. Da hören Sie, wie Fearnley sagt: Guten Abend, guten Abend! Sie sehen sich um, Fearnley verbeugt sich tief, ein großer Mann ist zur Türe hereingekommen, ein Genie, der Herr aus der Proszeniumsloge. Und nicht wahr, da lächeln Sie ein wenig bei sich selbst und wenden sich wieder dem Orionnebel zu? So ist es mir ergangen … Haben Sie nun meine Meinung verstanden? Ich will sagen: Statt der gewöhnlichen großen Männer, um deretwillen die Menschen vor Ehrfurcht einander anstoßen, ziehe ich die kleinen, unbekannten Genies vor, die Jünglinge, die in den Schuljahren sterben, weil ihre Seele sie zersprengt, feine, blendende Johanniskäfer, denen man begegnet sein muß, solange sie noch am Leben waren, um zu wissen, daß sie existiert haben. So ist mein Geschmack. Vor allem aber sage ich: Es gilt, das höchste Genie von dem hohen Genie zu unterscheiden, das höchste hoch zu halten, damit es nicht in dem Proletariat der Genies ertrinkt. Ich will den unerhörten Erzgeist an seinem Platz sehen. Treffen Sie doch eine Auswahl, bringen Sie mich zum Wanken. Lassen Sie mich mit den Gemeindegenies in Ruhe, es gilt das allerhöchste zu finden. Seine Eminenz, den Gipfelpunkt …

Worauf Jung-Öien sagen wird – ich kenne ihn doch, er wird sagen: Aber das sind wirklich nur Theorien, Paradoxa.

Und ich kann nicht einsehen, daß es nur Theorien sind, ich kann es nicht, Gott helfe mir, so unselig anders sehe ich die Dinge an. Ist das mein Fehler, ich meine: bin ich persönlich daran schuld? Ich bin ein Fremder, ein Ausländer des Daseins, Gottes fixe Idee, nennt mich, wie ihr wollt …

Mit steigender Heftigkeit:

Und ich sage euch: es rührt mich nicht, wie ihr mich nennt; ich ergebe mich nicht, in alle Ewigkeit nicht. Ich beiße die Zähne zusammen und verhärte mein Herz, denn ich habe recht; als einziger will ich vor der Welt stehen und nicht nachgeben! Ich weiß, was ich weiß, in meinem Herzen habe ich recht; bisweilen, in gewissen Stunden, ahne ich den unendlichen Zusammenhang in allem. Noch etwas habe ich hinzuzufügen vergessen, ich lasse nicht nach: Eure dummen Annahmen wegen der großen Männer will ich alle zu Boden schlagen. Jung-Öien behauptet, meine Meinung sei nur eine Theorie. Gut, wenn meine Meinung eine Theorie ist, so schlage ich sie nieder und bringe eine andere vor, die noch besser ist; denn ich scheue nichts. Und ich sage … wartet ein wenig, ich bin überzeugt, daß ich noch etwas Besseres sagen kann, denn mein Herz ist voll des Rechtes; ich sage: Ich verachte und verhöhne den großen Mann in der Proszeniumsloge, er ist in meinem Herzen ein Bajazzo und ein Narr. Wenn ich seine aufgeblähte Brust und seine siegessichere Miene sehe, verzieht sich mein Mund vor Verachtung. Hat sich der große Mann selbst zu seinem Genie durchgekämpft? Ist er nicht damit geboren worden? Warum ihm dann Hurra zurufen?

Und Jung-Öien fragt: Aber Sie selbst wollen doch Seine Eminenz den Gipfelpunkt auf seinen Platz stellen. Sie bewundern doch den Erzgeist, der ebenfalls sein Genie sich nicht selbst erkämpft hat?

Und wieder meint Jung-Öien, er habe mich auf einer Inkonsequenz ertappt, so wenigstens stellt es sich für ihn dar! Aber wieder antworte ich ihm, denn das heilige Recht hat sich meiner bemächtigt: Ich bewundere auch den Erzgeist nicht, ich zerschmettere sogar Seine Eminenz den Gipfelpunkt, wenn es notwendig ist und die Erde dadurch rein gefegt wird. Man bewundert den Erzgeist wegen seiner Größe, wegen seines Höchstmaßes an Genie, – als sei das Genie das eigene Verdienst des Erzgeistes, als gehöre das Genie nicht der ganzen Menschheit und sei nicht buchstäblich das Eigentum der Materie! Daß der Erzgeist zufälligerweise seines Urgroßvaters, seines Großvaters und seines Vaters, seines Sohnes, seines Enkels und seines Urenkels Anteil an Genie eingesogen und sein Geschlecht für Jahrhunderte verwüstet hat, das ist nicht, nein, das ist nicht das Werk des Erzgeistes. Er hat das Genie in sich vorgefunden, hat dessen Bestimmung erfaßt und es benützt … Theorie? Nein, das ist nicht Theorie; wohl zu verstehen, das ist die Meinung meines Herzens! Wenn aber auch das Theorie ist, dann suche ich in meinem Gehirn, und ich finde noch einen neuen Ausweg, und ich stelle noch eine dritte und vierte und fünfte zerschmetternde Gegenbehauptung auf, so gut ich vermag, und gebe mich nicht verloren.

Aber auch Jung-Öien gibt sich nicht verloren, denn er hat die ganze Welt im Rücken, und er sagt: Dann also besitzen Sie nichts, was Sie bewundern könnten, keinen großen Mann, kein Genie!

Und ich antworte, und ihm wird immer schlimmer und schlimmer zumute, denn er will selbst ein großer Mann werden. Ich beruhige ihn wieder und erwidere: Nein, ich bewundere das Genie nicht. Aber ich bewundere und liebe das Resultat der Wirksamkeit des Genies in der Welt, wofür der große Mann nur das arme, notwendige Werkzeug, sozusagen nur der elende Pfriem ist, um damit Löcher zu bohren … Ist es nun recht so? Haben Sie mich nun verstanden?

Plötzlich aber mit vorgestreckten Händen:

Ah, jetzt sah ich wieder den unendlichen Zusammenhang der Dinge! Wie es strahlte, wie es strahlte! Die große Erklärung suchte mich jetzt heim, jetzt, in diesem Augenblick, mitten im Zimmer! Es gab kein Rätsel mehr für mich, ich sah alles bis zum Grunde. Wie es strahlte, wie es strahlte!

Pause.

Ja, ja, ja, ja, ja, ja! Ich bin ein Fremder unter den Mitmenschen, und bald schlägt die Stunde. Ja, ja … Übrigens, was habe ich mit den großen Männern zu schaffen? Nichts! Das mit den großen Männern ist nur Komödie und Humbug und Betrug. Gut! Aber ist nicht das Ganze Komödie und Humbug und Betrug? Ganz gewiß, ganz gewiß, alles ist Betrug. Kamma und Minute und alle Menschen und die Liebe und das Leben sind Betrug; alles, was ich höre und sehe und vernehme, ist Betrug, ja selbst das Blau des Himmels ist Ozon, Gift, schleichendes Gift … Und wenn der Himmel so recht klar und blau ist, dann segle ich dort oben langsam umher, lasse mein Boot in den blauen, trügerischen Ozon hineingleiten. Und das Boot ist aus wohlriechendem Holz, und das Segel …

Dagny sagte selbst, daß das so schön sei. Dagny, das hast du gesagt, und Dank, trotz allem, weil du das sagtest und mich auch damals so glücklich machtest, daß ich vor Freude bebte. Ich erinnere mich an jedes Wort und trage es mit mir, wenn ich des Weges gehe und an alles denke, und ich werde es nie vergessen … Und jetzt sollst du siegen, wenn die Stunde schlägt. Ich will dich nicht mehr verfolgen. Und ich will mich dir auch nicht an der Brandmauer zeigen; du mußt mir verzeihen, daß ich das aus Rache sagte. Nein, ich will zu dir kommen und dich mit weißen Flügeln umfächeln, wenn du schläfst, und dir folgen, wenn du wachst, und will dir manch gutes Wort zuflüstern. Vielleicht auch wirst du mir zulächeln, wenn du es hörst, ja, vielleicht tust du das, wenn du willst. Aber sollte ich selbst keine weißen Flügel bekommen, sollten meine Flügel vielleicht nicht so weiß werden, dann will ich einen Engel Gottes bitten, es an meiner Stelle zu tun, und ich selbst will nicht vor dich hintreten, sondern mich in einem Winkel verbergen und sehen, wie du dem andern vielleicht zulächelst. Das will ich tun, wenn ich kann, und will von dem Schlimmsten, das ich dir zugefügt habe, wieder etwas gutmachen. Oh, ich werde froh, wenn ich daran denke, und sehne mich danach, es schon gleich tun zu können. Vielleicht kann ich dich auf andere, wunderbare Weise erfreuen. Jeden Sonntagmorgen, wenn du zur Kirche gehst, will ich gerne über deinem Haupte singen, und ich will auch den Engel darum bitten. Aber wenn er das nicht tun will und ich ihn nicht dazu überreden kann, dann will ich mich vor ihm hinwerfen und ihn immer demütiger bitten, bis er mich erhört. Ich will ihm etwas Gutes dafür versprechen, und ich werde ihm gewiß auch etwas geben und ihm viele Dienste leisten, wenn er so freundlich sein will … Ja, so werde ich es machen, und ich sehne mich danach, beginnen zu können, ich bin entzückt, wenn ich daran denke. Und es dauert jetzt auch nicht mehr lange, bis die Zeit da ist, ich selbst werde ihr Kommen beschleunigen, und ich freue mich noch überdies … Denk dir, wenn einmal jeder Nebel verschwunden sein wird, la la la la …

Glücklich und exaltiert lief er die Treppe hinunter und ging in den Speisesaal. Er sang noch. Da machte ein kleiner Zufall seiner frohen Laune sofort ein Ende und verbitterte ihn für mehrere Stunden. Er sang und frühstückte in aller Eile, am Tisch stehend, ohne sich zu setzen, obwohl er nicht allein war. Als er bemerkte, daß die beiden anderen Gäste ihn ärgerlich ansahen, bat er plötzlich um Entschuldigung: Hätte er sie früher bemerkt, würde er sich ruhiger benommen haben. An solchen Tagen sehe und höre er nichts; sei es nicht ein herrlicher Morgen? Nein, wie die Fliegen schon summten!

Aber er erhielt keine Antwort, die beiden Fremden sahen unverändert mißvergnügt aus und sprachen würdevoll miteinander über Politik. Nagels Stimmung sank sofort. Er schwieg und verließ den Speisesaal. Auf der Straße unten trat er in einen Laden, versah sich mit Zigarren und ging dann wie gewöhnlich in den Wald. Es war halb zwölf Uhr.

Ja, wie waren sich die Menschen doch immer gleich! Da saßen nun diese beiden Rechtsanwälte oder Handelsagenten oder Gutsbesitzer, was sie nun auch sein mochten, saßen da oben im Speisesaal, sprachen über Politik und sahen böse und scheel aus, nur weil es ihm in seiner Freude eingefallen war, in ihrer Gegenwart ein wenig zu summen. Und mit ungeheuer verständigen Mienen kauten sie ihr Frühstück und duldeten keine Störung. Hehe, beide hatten sie Hängebäuche und gepolsterte, fette Finger; die Serviette hatten sie unter dem Kinn in den Kragen gesteckt. Es war richtig gewesen, umzukehren und sie ein bißchen zu verhöhnen. Was waren das für hochwohlgeborene Herren! Reisende in Grütze, amerikanischen Häuten, Gott weiß, ob nicht in gewöhnlichem, irdenem Geschirr. Ja, davor konnte man wirklich zurückschrecken! Und doch hatten sie in einem einzigen Augenblick seine frohen Gedanken zerstört. Sie sahen nicht einmal sehr gut aus! Doch, der eine sah ziemlich gut aus, aber der andere, der mit den Häuten – hatte einen schiefen Mund, der nur nach einer Seite offen war und an ein Knopfloch erinnerte. Er hatte auch einen dicken, grauen Haarwald in den Ohren. Pfui, er war widerlich wie die Sünde! Aber nicht wahr, man durfte nicht vor Freude singen, wenn dieser Kerl am Futtertrog saß!

Ja, die Menschen waren wirklich immer dieselben, das waren sie. Die Herren sprechen über Politik, die Herren haben die letzten Ernennungen verfolgt; Gott sei Lob, noch konnte wohl Buskerud für die Rechte gerettet werden! Hehe, wie köstlich war es, ihre Grubenbesitzermienen zu beobachten, als sie das sagten. Als wenn die norwegische Politik etwas anderes wäre als Fuselweisheit und Kuhhandel! Ich, Listerbu Ola Olsen, bin damit einverstanden, daß einer Witwe im Nordland einhundertfünfundsiebzig Kronen Schadenersatz ausgezahlt werden, wenn ich dafür einen Gemeindeweg für dreihundert Kronen in der Pfarrgemeinde Fjærde erhalte. Hehe, Kuhhandel!

Aber Tod und Teufel, sing nur kein lustiges Lied und stör den Stortings-Ola nicht in seiner Arbeit! Sonst geschieht ein Unglück. Denn paß auf, Ola denkt nach, Ola studiert. Worüber zerbricht er sich den Kopf? Worüber will er morgen einen politischen Vorschlag machen? Hehehe, ein Vertrauensmann in Norwegens kleiner Welt, vom Volk dazu erwählt, in der Komödie des Königreichs seine Reden zu schwingen, in die heilige Volkstracht gekleidet, den stärksten Kautabak aus der kurzen Pfeife qualmend, den Papierkragen von treuem und ehrlichem Schweiß aufgeweicht! Platz diesem Erkorenen, wenn er daherkommt, zur Seite, zum Teufel, damit er Ellbogenfreiheit hat!

Ach du guter Gott, was sind es doch für runde, fette Nullen, die die Zahlen groß machen! …

Übrigens: Punktum. Zur Hölle mit den Nullen! Einmal wird man des Humbugs müde und will nicht mehr daran rühren. Man geht in den Wald, bewegt sich unter freiem Himmel, dort ist mehr Raum, mehr Platz für den fremden Menschen und die fliegenden Vögel … Und man sucht sich an einem nassen Ort ein Lager, legt sich mit dem Bauch auf den bloßen Moorboden und freut sich darüber, so ganz und gar von Nässe durchtränkt zu werden. Und man wühlt den Kopf in das Schilf und in die schlammigen Blätter, und Gewürm und Maden und kleine weiche Egel kriechen einem über die Kleider und ins Gesicht und sehen einen mit grünen Seidenaugen an, während man von allen Seiten von der ruhigen Stille des Waldes und der Luft umrauscht wird und Gott der Herr in der Höhe sitzt und auf einen herunterstarrt, wie auf seine allerfixeste Idee. Hoho, man kommt in Stimmung, in eine seltene und fremde, teuflische Freude, wie man sie noch nicht gekannt hat; man treibt das Verrückteste, was man sich denken kann, vermischt Gerade und Ungerade, stellt die Welt auf den Kopf und freut sich darüber, als sei dies eine verdienstvolle Tat. Warum nicht? Man steht unter besonderen Einflüssen und gibt ihnen nach, läßt sich von Lust und verstockter Freude hinreißen. Man hebt heute aus ungeheurem Drang alles in die Wolken, worüber man früher hohngelächelt hat, man ergötzt sich daran, sich imstande zu sehen, eine kleine Kaiserschlacht für den ewigen Frieden zu schlagen, möchte eine Kommission zur Verbesserung des Schuhwerks der Postboten einsetzen, legt ein gutes Wort für Pontus Wikner ein und verteidigt das Weltall und Gott im allgemeinen. Der Teufel hole den wahren Zusammenhang der Dinge, der geht einen nichts mehr an, man brüllt ihn an und läßt fünf gerade sein. Hehe und juchhei! Nicht wahr, man wird ein wenig freier, stimmt seine Harfe und singt Psalter und Psalmen, daß es jeder Beschreibung spottet!

Andererseits läßt man sein Inneres von Wind und Wogen treiben, überläßt es dem ärgsten Galimathias. Laßt es treiben, laßt es treiben, es ist so angenehm, ohne Widerstand nachzugeben. Und warum sollte man Widerstand leisten? Hehe, ist es einem aufgehaltenen Wanderer erlaubt, sich seine letzten Augenblicke so einzurichten, wie es ihn gelüstet? Ja oder nein? Punktum. Und man richtet sich so ein, wie einen gelüstet.

Da gibt es verschiedenes, was man tun könnte, man könnte seinen Einfluß für die Innere Mission geltend machen, für die japanische Kunst, für die Hallingtalbahn, für irgend etwas, nur um seinen Einfluß für etwas geltend zu machen und irgendeiner Sache auf die Beine zu helfen. Es kommt einem der Gedanke, daß ein Mann wie J. Hansen, wohlgeachteter Schneidermeister, von dem man einmal einen Rock für Minute gekauft hat, daß dieser Mann enorme Verdienste als Bürger und Mensch hat; man beginnt damit, ihn zu achten, und endet damit, ihn zu lieben. Warum liebt man ihn? Aus Lust, aus Trotz, aus verstockter Freude, weil man ergriffen wird und gewissen sonderbaren Einflüssen nachgibt. Man flüstert ihm seine Bewunderung ins Ohr, wünscht ihm aufrichtig großes und kleines Vieh in Menge, und wenn man ihn verläßt, drückt man ihm, Gott helfe mir, die eigene Rettungsmedaille in die Hand. Warum sollte man das nicht tun, wenn man nun doch einmal sonderbaren Einfällen nachgibt? Aber das ist nicht genug. Man bereut auch, daß man seinerzeit unehrerbietig von Stortings-Ola gesprochen haben könnte. Und jetzt gibt man sich erst richtig der süßesten Verrücktheit hin, hoho, wie man nachgibt:

Was hat nicht Stortings-Ola für Ryfylke und für das Reich getan! Erst nach und nach erkennt man seine Treue und ehrliche Arbeit, und es wird einem warm ums Herz. Die Gutmütigkeit geht mit einem durch, man schluchzt und weint vor Mitleid mit ihm und gelobt sich innerlich, ihn zwei- und dreifach wieder zu rechtfertigen. Der Gedanke an diesen kernigen Greis aus dem kämpfenden und leidenden Volk, an den Mann im härenen Gewand, versetzt einen in ein seliges und wildes Barmherzigkeitsbedürfnis, das einen zum Heulen bringt. Um Ola zu rechtfertigen, schwärzt man alle anderen und die ganze Welt an, bereitet sich den Genuß, den anderen zu Olas Vorteil alles wegzunehmen, sucht die verschwenderischsten und schönsten Worte, um ihn zu verherrlichen. Man sagt geradezu, Ola hat von dem, was in der Welt geleistet worden ist, das meiste getan, er hat die einzige Abhandlung über die Spektralanalyse geschrieben, die des Lesens wert ist, er ist eigentlich der einzige, der im Jahre 1719 alle Prärien Amerikas urbar gemacht hat, er hat den Telegraphen erfunden und ist obendrein auf dem Saturn gewesen und hat fünfmal mit Gott gesprochen. Man weiß genau, daß Ola dies alles nicht getan hat, aber aus lauter verzweifelter Gutmütigkeit sagt man trotzdem, er habe das getan, habe das getan, und man weint heftig und verflucht und verdammt sich ruchlos zu den grausamsten Qualen der Hölle: nur Ola und kein anderer habe das getan. Warum macht man das? Aus Gutmütigkeit, um Olas Ehre vielfach wiederherzustellen! Und man singt in den höchsten Tönen, um ihm eine gewaltige Genugtuung zu geben, ja man singt liederlich und gotteslästerlich, daß überhaupt Ola die Welt geschaffen habe und die Sonne und die Sterne an ihren Platz gesetzt und nun das Ganze aufrecht erhalte, und man schwört mörderisch und in allen Tonarten darauf, daß das so sei. Kurz gesagt, man läßt seine Gedanken in den sonderbarsten, hinreißendsten Ausschweifungen in Herzensgüte und der delikatesten Buhlschaft mit Flüchen und Schändlichkeiten schwelgen. Und jedesmal, wenn man etwas ganz Unerhörtes gefunden hat, zieht man die Knie in die Höhe und kichert, aus lauter Freude über die wohlgeglückte Genugtuung, die Ola zum Schluß bekommt. Ja, Ola soll das Ganze haben, Ola verdient es, weil man einmal unehrerbietig von ihm gesprochen hat und es jetzt bereut.

Stille.

Wie war es doch, sagte ich nicht auch einmal die ärgste Abgeschmacktheit über einen Körper, der … ja, der starb …? Wart ein wenig, – es war ein junges Mädchen, das starb und Gott dankte, weil er ihr einen Körper geliehen hatte, den sie niemals gebraucht hatte. Halt, das war Mina Meek, ich erinnere mich jetzt und schäme mich vom Scheitel bis zur Sohle. Was man doch alles so einfach ins Blaue hineinredet, das man später bereut und worüber man vor Scham stöhnt. Oh, wie man vor Scham oft stehenbleibt und gerade hinausschreit! Eigentlich hat nur Minute diese Abgeschmacktheit gehört, aber ich schäme mich um meinetwillen. Nicht davon zu reden, daß ich einmal einen noch schmählicheren Schnitzer gemacht habe, den ich nie vergessen werde, – mit dem Eskimo und einer Briefmappe. Uff, weg, Herrgott, man möchte in die Erde sinken! … Still, die Ohren steif, zum Teufel mit allen Skrupeln! Denk, wenn einmal die Gemeinde der Erlösten aller Völker in der Herrlichkeit des Himmels, in der Herrlichkeit des Himmels versammelt ist; bist du mit dabei! Uff, Gott, wie langweilig das alles ist, Gott, wie langweilig das alles ist.

Als Nagel in den Wald gekommen war, warf er sich auf den ersten besten Heidekrauthügel und verbarg den Kopf in seinen Händen. Welch eine Verwirrung in seinem Gehirn, welch ein Gewimmel von unmöglichen Gedanken! Bald darauf fiel er in Schlaf. Erst vier Stunden waren vergangen, seit er aufgestanden war, und doch fiel er in Schlaf, todmüde und erschöpft.

Es war Abend, als er erwachte. Er sah umher, die Sonne war im Begriff, hinter der Dampfmühle in Indviken unterzugehen, und die Vögel flogen von Baum zu Baum und sangen. Sein Kopf war ganz in Ordnung, keine verwirrten Gedanken mehr, keine Bitterkeit, er war vollständig ruhig. Er lehnte sich an einen Baumstamm und dachte nach. Sollte er es jetzt tun? Warum nicht ebensogut jetzt wie später? Nein, er mußte vorher noch verschiedene Dinge ordnen, einen Brief an seine Schwester schreiben, Martha mit einer kleinen Erinnerung in einem Briefumschlag bedenken; er konnte heute abend nicht sterben. Er hatte auch im Hotel seine Rechnung noch nicht beglichen; auch Minutes wollte er gerne gedenken …

Und langsamen Schrittes ging er heim ins Hotel. Aber morgen abend sollte es geschehen, gegen Mitternacht, ohne irgendwelche Anstalten, kurz und gut, kurz und gut!

Noch um drei Uhr morgens stand er in seinem Zimmer am Fenster und sah auf den Marktplatz hinaus.


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