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11

So kam der neunundzwanzigste Juni. Es war ein Montag. An diesem Tage geschahen einige ungewöhnliche Dinge; eine Fremde tauchte sogar in der Stadt auf, eine verschleierte Dame, die nach einem zweistündigen Aufenthalt wieder verschwand – nachdem sie im Hotel einen Besuch gemacht hatte …

Schon früh am Morgen hatte Johan Nagel vergnügt gesungen und gepfiffen. Während er sich ankleidete, summte er lustige Melodien vor sich hin, als sei er über irgend etwas höchst erfreut. Den ganzen vorhergehenden Tag war er schweigsam und still gewesen, eine Nachwirkung des schweren Rausches, den er sich am Samstagabend in Minutes Gesellschaft geholt hatte. Mit langen Schritten war er im Zimmer auf und ab gegangen und hatte eine Menge Wasser getrunken. Als er aber nun am Montagmorgen das Hotel verließ, summte er noch und sah äußerst zufrieden aus; in einem Anfall heller Freude sprach er sogar eine Frau an, die draußen auf der Treppe stand, und gab ihr einige Schillinge.

Können Sie mir sagen, wo ich eine Geige zu leihen bekommen könnte? fragte er. Wissen Sie, ob es hier in der Stadt jemand gibt, der Geige spielt?

Nein, das weiß ich nicht, antwortete die Frau erstaunt.

Sie wußte es nicht, trotzdem aber gab er ihr vor Freude einige Schillinge und ging eilig weg. Er hatte Dagny Kielland mit ihrem roten Sonnenschirm aus einem Laden kommen sehen und folgte ihr gleich nach. Sie war allein. Er grüßte tief und sprach sie an. Sie wurde sofort flammend rot, wie sie das zu tun pflegte, und hielt den Sonnenschirm ein wenig vor sich hin, um es zu verbergen.

Zuerst sprach sie von ihrem letzten Spaziergang durch den Wald. Eigentlich sei sie doch ein wenig unvorsichtig gewesen, ja, denn sie habe sich wirklich etwas erkältet, obwohl das Wetter so warm gewesen war, sie sei noch nicht wieder ganz frisch. Dies sagte sie geradeheraus und aufrichtig, als vertraue sie sich einem alten Bekannten an.

Aber Sie dürfen es nicht bereuen; nicht wahr? sagte er und ging gerade auf die Sache los.

Nein, antwortete sie erstaunt; nein, ich bereue es nicht, wie kommen Sie darauf? Es war eine hübsche Nacht, obwohl ich die ganze Zeit vor dem Mann mit dem Licht, von dem Sie erzählten, Angst hatte. Ich habe seitdem auch von ihm geträumt. Es war ein fürchterlicher Traum!

Dann sprachen sie eine Weile von dem Mann mit dem Licht. Nagel schwätzte heute gerne, er gestand, daß auch er lächerliche Anfälle einer stummen Furcht vor irgend etwas habe, oft könne er zum Beispiel nicht die Treppe hinaufgehen, ohne sich bei jedem Schritt umzuwenden und nachzusehen, ob nicht jemand hinter ihm gehe. Was konnte das sein? Ja, was konnte das sein? Ein mystisches Etwas, etwas Seltsames, das die arme »allwissende« Wissenschaft in ihrer vierschrötigen Grobheit nicht zu fassen vermochte, der Hauch einer unsichtbaren Macht, eine Einwirkung der blinden Kräfte des Lebens.

Wissen Sie, sagte er, daß ich gerade jetzt Lust hätte, von dieser Straße in eine andere abzubiegen, weil diese Häuser hier, diese Steine zur Linken, die drei Birnbäume unten im Garten des Hardesvogtes, ja alles zusammen, einen unangenehmen Einfluß auf mich ausüben, mich mit dumpfer Pein erfüllen. Wenn ich allein bin, gehe ich niemals durch diese Straße, ich meide sie, selbst wenn es ein Umweg für mich ist. Was hat dies zu bedeuten?

Dagny lachte.

Das weiß ich nicht. Aber Doktor Stenersen würde das gewiß Nervosität und Aberglauben nennen.

Ganz richtig, so würde er es nennen! Ach, was ist das doch für eine hochmütige Dummheit! Sie kommen eines Abends in eine fremde Stadt, sagen wir in diese Stadt, warum auch nicht? Am Tag darauf gehen Sie in den Straßen umher und sehen sich zum erstenmal die Stadt an. Bei dieser Wanderung erregen gewisse Straßen, gewisse Häuser Ihren entschiedenen heimlichen Unwillen, während andere Straßen und andere Häuser einen angenehmen, wohlgefälligen Eindruck auf Sie machen und Sie sich freudig gestimmt fühlen. Nervosität? Jetzt aber setze ich den Fall, Sie hätten Nerven wie Schiffstaue und wissen gewissermaßen gar nicht, was Nervosität ist. Weiter! Sie gehen immer noch durch die Straßen, Sie begegnen hundert Menschen und gehen gleichgültig an ihnen vorbei; plötzlich aber – während Sie zum Kai hinunterkommen und vor einem kleinen, ärmlichen Haus, an dessen Fenstern keine Vorhänge sind, auf dem Fensterbrett aber einige weiße Blumen blühen, stehenbleiben – kommt Ihnen ein Mann entgegen, von dem Sie sofort in irgendeiner Weise in Anspruch genommen werden. Sie sehen den Mann an, er sieht Sie an. Es ist nichts Ungewöhnliches an ihm, außer daß er ärmlich gekleidet ist und ein wenig vorgebeugt geht. Sie treffen das erstemal in Ihrem Leben mit ihm zusammen, und Sie haben den bizarren Einfall, daß dieser Mann Johannes heißt. Ausgerechnet Johannes. Warum meinen Sie, daß er gerade Johannes heißt? Das können Sie sich nicht erklären, aber Sie sehen es an seinen Augen, merken es an seinen Armbewegungen, hören es an seinen Fußtritten: und das kommt nicht etwa daher, daß Sie irgend einmal einen anderen Mann getroffen haben, der diesem letzteren glich und der Johannes hieß, nein, daher kommt es nicht. Denn Sie haben niemals jemand getroffen, an den dieser Mann Sie erinnert. Aber da stehen Sie nun, mit Ihrem Erstaunen und Ihrem mystischen Gefühl und können sich nichts erklären.

Haben Sie hier in dieser Stadt einen solchen Mann getroffen?

Nein, nein, beeilte er sich zu antworten, ich stelle mir diese Stadt nur vor, dieses kleine Haus und diesen Mann, ich nehme das Ganze nur an. Nicht wahr, es ist sonderbar? … So geschehen auch noch andere seltsame Dinge: Sie kommen in eine fremde Stadt und gehen in ein fremdes Haus, sagen wir in ein Hotel, in dem Sie noch nie vorher gewesen sind. Plötzlich haben Sie die merkwürdig bestimmte Empfindung, daß seinerzeit, vor vielen Jahren vielleicht, eine Apotheke in diesem fremden Haus gewesen sei. Wie verfallen Sie gerade darauf? Nichts erinnert daran, niemand hat es Ihnen gesagt, kein Geruch nach Medikamenten ist zu spüren, keine Merkmale von Regalen sind an den Wänden, und kein rechteckiger Fleck von einem Ladentisch ist auf dem Boden. Und trotzdem wissen Sie in Ihrem Innern, daß in diesem Haus vor vielen Jahren eine Apotheke gewesen ist! Sie irren sich nicht, für einen Augenblick sind Sie von geheimnisvoller Mitwisserschaft erfüllt, die Ihnen verborgene Dinge offenbart. Vielleicht haben Sie etwas Ähnliches noch nie erlebt?

Ich habe früher nie an so etwas gedacht. Doch da Sie jetzt davon sprechen, finde auch ich, daß es mir schon so ergangen ist. Auf jeden Fall habe ich oft Angst vor der Dunkelheit, bin furchtsam vor nichts. Aber das ist vielleicht etwas anderes.

Gott mag wissen, was das alles ist! Es gibt so viele Dinge zwischen Himmel und Erde, wunderbare, herrliche Dinge ohnegleichen, und vollkommen unerklärliche Vorahnungen, stumme Schrecken, die Sie vor Bangigkeit erzittern lassen. Stellen Sie sich vor, Sie hörten in einer dunklen Nacht jemand gehen und an den Mauern entlangstreifen. Sie sitzen hellwach an einem Tisch und rauchen eine Pfeife. Sie haben den Kopf voller Pläne und sind aufs stärkste mit diesen Gedanken beschäftigt. Da hören Sie plötzlich ganz deutlich, wie sich draußen jemand an der Wand entlangschleicht, an der Holzverkleidung draußen, oder sogar in Ihrem Zimmer, dort beim Ofen, wo Sie sogar einen Schatten an der Brandmauer sehen. Sie nehmen den Schirm von der Lampe, damit es heller wird, und gehen zum Ofen hin. Sie stellen sich vor den Schatten und erblicken einen Ihnen unbekannten Menschen, einen mittelgroßen Mann mit einem schwarz und weißen Wollschal um den Hals und mit ganz blauen Lippen. Er gleicht dem Treffbuben eines norwegischen Kartenspiels. Nun nehme ich an, Sie seien mehr neugierig als ängstlich. Sie rücken dem Burschen auf den Leib, um ihn mit einem Blick wegzufegen. Aber er rührt sich nicht, obwohl Sie ihm so nahe sind, daß Sie sehen, wie er mit den Augen blinzelt und überhaupt so lebendig ist wie Sie selbst. Da nehmen Sie ihn von der gemütlichen Seite und sagen, obwohl Sie ihn niemals vorher gesehen haben: Ihr Name ist wohl nicht zufälligerweise Homan, Bernt Homan? Und als er nicht antwortet, beschließen Sie, ihn Homan zu nennen, und fragen: Zum Teufel, warum sollten Sie nicht ein Bernt Homan sein? Und dann lachen Sie ihn aus. Aber er rührt sich immer noch nicht, und Sie wissen nicht mehr, was Sie mit ihm anfangen sollen. Dann treten Sie einen Schritt zurück, deuten mit der Pfeifenspitze auf ihn und sagen: Bäh! Aber er verzieht das Gesicht nicht, lächelt nicht. Ja, da hat nun der Teufel das Recht verloren. Sie werden ärgerlich und versetzen ihm einen ordentlichen Stoß. Jetzt aber sieht es so aus, als befinde sich der Mann allerdings irgendwo in der Nähe, – aber Ihr Stoß hat ihn trotzdem nicht im mindesten berührt. Er fällt nicht um, steckt beide Hände in die Taschen, tief in die Taschen, zieht die Schultern empor und nimmt eine Miene an, als wolle er sagen: Was weiter? So wenig hat Ihr Stoß ihn angefochten. Was weiter? antworten Sie da rasend und versetzen ihm noch einen Stoß in die Magengegend. Und nun erleben Sie folgendes: Nach diesem letzten Stoß beginnt der Mann sich aufzulösen. Sie stehen da und sehen mit Ihren eigenen Augen, wie er nach und nach ausgelöscht wird, immer undeutlicher wird, bis schließlich nichts anderes mehr von ihm da ist als der Bauch, dann verschwindet auch der. Die ganze Zeit aber hat er die Fäuste in den Taschen gehabt und Sie mit diesem trotzigen Ausdruck angesehen, der zu sagen schien: Was weiter?

Dagny lachte wieder.

Nein, was Sie für seltsame Abenteuer erleben! Aber weiter! Wie geht es dann weiter? Was wird schließlich daraus?

Ja, wenn Sie sich nun wieder an den Tisch setzen und sich von neuem mit Ihren Plänen beschäftigen wollen, entdecken Sie, daß Sie sich Ihre Knöchel an der Brandmauer zerschlagen haben … Was ich aber sagen wollte: erzählen Sie am Tag darauf die Geschichte Ihren Bekannten, so werden Sie zu hören bekommen, daß Sie geschlafen haben. Hehehe, ja, doch, Sie haben geschlafen, obwohl Gott und alle Engel wissen, daß Sie nicht geschlafen haben. Und doch ist es nur Seminaristenweisheit und Roheit, es Schlaf zu nennen, wenn Sie hellwach bei einem Ofen gestanden, aus einer Pfeife geraucht und mit einem Mann gesprochen haben. Nun kommt der Arzt. Ein ausgezeichneter Arzt, der die Wissenschaft mit zusammengekniffenem Mund und Überlegenheit repräsentiert. Das, sagt er, das ist ja nur Nervosität. O Gott, welche Komödie! Gut. Aber er sagt also, es sei Nervosität. Für das Gehirn des Arztes ist es eine Sache von den und den Dimensionen, soundso viel Zoll hoch und soundso viel Zoll breit, etwas, was man mit der Hand greifen kann, gute, dicke Nervosität. Und dann verschreibt er auf einem Papierfetzen Eisen und Chinin und kuriert Sie stehenden Fußes. So geht es zu! Aber bedenken Sie nur: welche Vierschrötigkeit und welche Bauernlogik, mit seinen Dimensionen und seinem Chinin in ein Gebiet einzudringen, in dem nicht einmal die feinen und weisen Geister sich die Dinge haben erklären können.

Gleich werden Sie einen Knopf verlieren, sagte sie.

Einen Knopf?

Lächelnd deutete sie auf einen seiner Jackenknöpfe, der an einem Faden baumelte.

Sollten Sie ihn nicht abtrennen? Sie werden ihn bald verlieren.

Er gehorchte ihr, zog ein Messer aus der Tasche und schnitt den Knopf ab. Als er das Messer herausnahm, fielen einiges Kleingeld und eine Medaille an einem traurig mißhandelten Band aus seiner Tasche. Hastig beugte er sich nieder und hob die Sachen auf, während sie dabeistand und zusah. Da sagte sie:

Ist das eine Medaille? Aber wie behandeln Sie sie denn, sehen Sie nur das Band an! Was ist das für eine Medaille?

Eine Rettungsmedaille … Ja, Sie dürfen wirklich nicht glauben, sie befinde sich um meines Verdienstes willen in meiner Tasche. Das ist nur Humbug.

Sie sah ihn an. Sein Gesicht war vollkommen ruhig, seine Augen offen, als lüge er durchaus nicht. Sie hatte immer noch die Medaille in der Hand.

Wollen Sie nun wieder anfangen? sagte sie. Wenn Sie diese Medaille nicht selbst verdient haben, wie können Sie dann so ein Ding besitzen, es bei sich tragen?

Ich habe sie gekauft! rief er und lachte. Sie ist doch mein, mein Eigentum, ich besitze sie, so wie ich mein Taschenmesser besitze, meinen Jackenknopf. Warum sollte ich sie denn wegwerfen?

Nein, daß Sie eine Medaille kaufen mögen! sagte sie.

Ja, es ist Humbug, ich leugne es nicht; aber was tut man nicht so manches Mal! Ich habe sie bei einer bestimmten Gelegenheit den ganzen Tag an der Brust getragen und damit geprahlt – habe einen Trinkspruch entgegengenommen, hehehehehe. Der eine Humbug ist wohl ebenso gut wie der andere?

Der Name ist herausgekratzt, sagte sie wieder.

Jetzt wechselte er plötzlich den Ausdruck und streckte die Hand nach der Medaille aus.

Ist der Name herausgekratzt? Das ist nicht möglich; lassen Sie mich sehen. Sie hat nur in meiner Tasche Schaden gelitten. Sie lag zwischen dem Kleingeld, das ist das Ganze.

Dagny sah ihn mißtrauisch an. Dann knipst er plötzlich mit den Fingern und ruft aus:

Wie kann ich nur so gedankenlos sein! Der Name ist herausgekratzt, Sie haben recht, wie konnte ich das vergessen! Hehehe, ich selbst habe den Namen herausgekratzt, das ist ganz richtig. Es war ja nicht mein Name, der daraufstand, es war der Name des Besitzers, der Name des Retters. Ich schabte ihn sofort weg, als ich sie gekauft hatte. Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich Sie nicht gleich darüber aufgeklärt habe, es war nicht meine Absicht, zu lügen. Ich dachte nämlich gerade an etwas anderes: Warum wurden Sie plötzlich so nervös wegen des Knopfes, den ich fast verloren hätte? Wenn er nun abgefallen wäre? Sollte das eine Antwort auf das sein, was ich von der Nervosität und der Wissenschaft gesagt habe?

Pause.

Die Offenheit, die Sie mir gegenüber immer an den Tag legen, ist doch wirklich auffallend, erwiderte sie, ohne auf seine Frage zu antworten. Ich weiß nicht, was Sie damit beabsichtigen. Ihre Anschauungen sind an sich etwas ungewöhnlich; nun lassen Sie mich schließlich noch ahnen, daß alles miteinander eigentlich nur Humbug ist, nichts ist edel, nichts rein, nichts groß. Ist das Ihre Meinung? Ist es denn wirklich das gleiche, ob man sich eine Medaille für soundso viele Kronen kauft, oder ob man sie sich selbst durch irgendeine Tat erkämpft?

Er erwiderte nichts. Dann fuhr sie ganz langsam und ernst fort:

Ich verstehe Sie nicht. Manchmal, wenn ich Sie sprechen höre, frage ich mich selbst, ob Sie denn wirklich vernünftig sind. Entschuldigen Sie, daß ich das sage! Ich werde immer unruhiger durch Sie, immer zerrissener, Sie verwirren alle meine Begriffe, stellen mir die Dinge auf den Kopf, gleichgültig, worüber Sie sprechen. Wie kommt das? Ich habe noch niemand getroffen, der in diesem Maß allem in mir widersprochen hätte. Sagen Sie mir jetzt: Was glauben Sie eigentlich selbst von dem, was Sie erzählen? Was ist Ihre innerste Meinung?

Sie hatte so ernsthaft, so warm gefragt, daß er stutzte.

Hätte ich einen Gott, sagte er dann, einen Gott, der mir so recht hoch und heilig wäre, würde ich bei diesem Gott schwören, daß ich alles, was ich Ihnen gesagt habe, aufrichtig meine, ganz und gar alles, und daß ich das Beste zu tun glaube, selbst wenn ich Sie verwirre. Als wir das letztemal miteinander sprachen, sagten Sie, ich stünde in Widerspruch zu allem, was andere Leute von den Dingen meinten. Ja, das ist wahr, ich gebe zu, daß ich ein lebender Widerspruch bin, und ich verstehe das selbst nicht. Aber ich bin nicht imstande, zu begreifen, daß nicht auch alle anderen Menschen das gleiche von den Dingen meinen wie ich. So hell und durchsichtig scheinen mir die Fragen zu sein, und so leuchtend klar sehe ich den Zusammenhang in ihnen. Das ist meine innerste Meinung, gnädiges Fräulein; könnte ich Sie doch an mich glauben machen, jetzt und immer.

Jetzt und immer, nein, das will ich nicht versprechen.

Es ist mir so unendlich viel daran gelegen, sagte er.

Sie waren in den Wald gekommen und gingen so nah beieinander, daß ihre Ärmel sich oft berührten. Und die Luft war so still, daß sie nur ganz leise zu sprechen brauchten. Hie und da zwitscherte ein Vogel.

Da blieb er unvermittelt stehen und zwang auch sie, stehenzubleiben.

Wie ich mich in diesen Tagen nach Ihnen gesehnt habe! sagte er. Nein, nein, erschrecken Sie nicht so; ich sage ja beinahe nichts, und ich will nichts erreichen, nein, ich mache mir keine, keine Illusionen. Übrigens verstehen Sie mich vielleicht nicht einmal, ich beginne falsch und verspreche mich, sage, was ich gar nicht sagen wollte …

Als er schwieg, meinte sie:

Wie sonderbar Sie heute sind!

Damit wollte sie wieder gehen.

Aber noch einmal hielt er sie an:

Liebstes Fräulein Kielland, warten Sie ein wenig! Haben Sie heute Nachsicht mit mir! Ich fürchte mich zu sprechen, ich habe Angst, daß Sie mich unterbrechen und sagen: Gehen Sie! Und doch habe ich mir in vielen wachen Stunden alles überlegt.

Immer erstaunter sah sie ihn an und fragte:

Wo führt das hin?

Wo das hinführt? Darf ich Ihnen das mit nackten Worten sagen? Das führt dahin … dahin, daß ich Sie liebe, Fräulein Kielland. Ja, eigentlich verstehe ich nicht, daß Sie das so in Erstaunen setzen kann, ich bin von Fleisch und Blut, ich habe Sie getroffen und bin von Ihnen bezaubert worden, das ist wohl nicht so sonderbar. Etwas anderes ist es, daß ich Ihnen das vielleicht nicht hätte eingestehen sollen.

Nein, das hätten Sie nicht tun sollen.

Aber wozu kann man nicht getrieben werden? Ich habe sogar aus Liebe zu Ihnen schlecht über Sie gesprochen, habe Sie eine Kokette genannt und versucht, Sie herabzuziehen, nur um mich zu trösten und mich schadlos zu halten, weil ich wußte, daß Sie unerreichbar für mich sind. Ich treffe Sie jetzt das fünftemal, und Sie müssen mir zugute halten, daß ich mich erst heute Ihnen ausliefere, obwohl ich dies beim erstenmal hätte tun mögen. Außerdem ist heute mein Geburtstag, ich bin neunundzwanzig Jahre alt geworden, und ich sang und war froh, seit ich heute morgen die Augen aufschlug. Ich dachte – es ist ja lächerlich, daß man auf so dumme Dinge verfallen kann – aber ich dachte mir: Wenn du sie nun heute triffst, und du gestehst ihr alles, dann kann es vielleicht nicht schaden, daß noch dazu dein Geburtstag ist. Du könntest ihr ja auch das erzählen, und sie wird vielleicht an einem solchen Tag eher gewillt sein, dir zu verzeihen. Sie lächeln? Ja, es ist lächerlich, ich weiß es; aber dabei ist nun nichts zu machen. Ich bringe Ihnen meinen Tribut dar, ebenso wie alle anderen.

Es ist traurig, daß Ihnen das heute passiert ist, sagte sie. Sie haben an Ihrem Geburtstag heuer kein Glück gehabt. Mehr kann ich nicht sagen.

Nein, selbstverständlich … Mein Gott, was für eine Macht Sie haben! Ich verstehe, daß man um Ihretwillen zu allem möglichen getrieben werden kann. Selbst jetzt, als Sie diese letzten Worte sagten, die doch nicht so sehr erfreulich waren, selbst jetzt war Ihre Stimme wie ein Gesang. Es war, als beginne es in mir förmlich zu blühen. Wie sonderbar ist das! Wissen Sie, daß ich nächtelang vor Ihrem Haus umhergewandert bin, um, wenn möglich, einen Schimmer von Ihnen in einem Fenster zu sehen, daß ich hier im Walde kniete und für Sie zu Gott betete, ich, der ich nicht einmal sehr an Gott glaube?

Sehen Sie diese Espe hier? Ich bin mit Absicht gerade jetzt hier stehengeblieben, weil ich bei dieser Espe mehrere Nächte auf den Knien gelegen habe, aufgelöst in Verzweiflung, dumm und hilflos, nur weil immer Sie in meinen Gedanken waren. Von hier aus habe ich Ihnen jeden Abend gute Nacht gesagt, hier habe ich gekniet und die Winde und Sterne gebeten, Sie zu grüßen, und ich glaube, Sie müssen es im Schlaf gefühlt haben.

Warum sagen Sie mir dies nun alles? Wissen Sie denn nicht, daß ich …

Doch, doch! unterbrach er sie außerordentlich bewegt. Ich weiß, was Sie sagen wollen: daß Sie seit langem einem anderen angehören und daß ich also ein unehrenhafter Mensch bin, der sich jetzt hinterher, da es zu spät ist, eindrängt – wie sollte ich das nicht wissen? Ja, warum habe ich Ihnen dies alles gesagt? Doch wohl, um auf Sie zu wirken, um Eindruck auf Sie zu machen und Sie zu veranlassen, darüber nachzudenken. Bei Gott, ich spreche jetzt die Wahrheit, ich kann nicht anders. Ich weiß, daß Sie verlobt sind, daß Sie einen Bräutigam haben, den Sie gerne mögen, daß ich also gar nichts erreichen kann; ja, trotzdem aber wollte ich versuchen, Sie ein wenig zu beeinflussen, ich wollte nicht alle Hoffnung aufgeben. Stellen Sie sich vor, was es heißt: alle Hoffnung aufzugeben, dann werden Sie mich vielleicht besser verstehen. Wenn ich vorhin sagte, daß ich nichts zu erreichen hoffte, log ich. Ich sagte dies nur, um Sie vorläufig zu beruhigen und um Zeit zu gewinnen, damit Ihnen nicht sofort wieder angst würde. Liebste, schwätze ich verrücktes Zeug? Ich will damit nicht sagen, Sie hätten jemals Hoffnungen in mir erweckt, und ich habe mir wirklich nicht eingebildet, daß ich jemand ausstechen könnte. Ach, das ist mir nicht einmal eingefallen. Aber in trostlosen Stunden habe ich mir gedacht: Ja, sie ist verlobt, und sie zieht bald weg, leb wohl; aber noch ist sie ja nicht ganz verloren, noch ist sie nicht abgereist, nicht verheiratet, nicht tot. Wer weiß! Und es ist vielleicht noch Zeit, wenn ich alles versuche! Sie sind mir zu einem ständigen Gedanken geworden, zu meiner Zwangsvorstellung, ich gehe umher und sehe in allen Dingen nur Sie, und alle blauen Flüsse nenne ich Dagny. Ich glaube, in diesen Wochen ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht an Sie gedacht habe. Es ist ganz gleich, zu welcher Zeit des Tages oder der Nacht ich das Hotel verlasse, sowie ich die Tür öffne und auf die Treppe trete, fährt die Hoffnung durch mein Herz: Vielleicht begegnest du ihr jetzt! und überall sehe ich mich nach Ihnen um. Nein, ich begreife es nicht mehr, ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Glauben Sie mir, wenn ich mir jetzt nachgegeben habe, habe ich doch nicht ohne Widerstand nachgegeben. Es ist ja doch nicht ermunternd, in seinem Innern zu wissen, daß alle Anstrengungen schmählich vergeudet sind und man es trotzdem nicht unterlassen kann, sich anzustrengen; deshalb wehrt man sich auch bis zum letzten dagegen. Wenn es aber absolut nichts hilft! Es gibt so viele, viele Dinge, die man sich während einer Nacht, in der man keinen Schlaf findet und in seinem Zimmer am Fenster sitzt, ausdenken kann. Man hält ein Buch in der Hand, liest aber nicht darin; wieder und immer wieder beißt man die Zähne zusammen und liest drei Zeilen, dann kann man nicht mehr, und kopfschüttelnd schließt man das Buch. Das Herz schlägt wild, stumm flüstert man heimliche, süße Worte vor sich hin, spricht einen Namen aus und küßt ihn in Gedanken. Und es wird zwei Uhr, vier Uhr, sechs Uhr; dann will man ein Ende machen und beschließt, bei der nächsten Gelegenheit den Sprung zu wagen und das Ganze einzugestehen … Wenn ich Sie jetzt um etwas bitten dürfte, so würde ich Sie bitten zu schweigen. Ich liebe Sie, aber schweigen Sie, schweigen Sie. Warten Sie drei Minuten.

Vollkommen bestürzt hatte sie ihm zugehört und nicht ein einziges Wort als Erwiderung hervorgebracht. Sie standen immer noch still.

Nein, Sie müssen verrückt sein! sagte sie und schüttelte den Kopf. Und betrübt und so bleich, daß sogar ihre Augen wie bläuliches Eis aussahen, fügte sie hinzu: Sie wissen, ich bin schon verlobt, Sie denken daran und gehen davon aus, und trotzdem …

Jawohl, ich weiß es! Könnte ich sein Gesicht und seine Uniform vergessen? Er ist ein schöner Mann, und ich kann keinen Fehler an ihm finden, aber ich könnte leichten Herzens wünschen, daß er tot und nicht mehr da wäre. Was nützt es, daß ich mir hundertmal gesagt habe: Du erreichst hier nichts. Ich unterlasse es lieber, an diese Unmöglichkeit zu denken, und sage mir: Doch ja, ich kann schon etwas erreichen, es kann noch viel geschehen, noch ist Hoffnung … Und nicht wahr, es ist noch Hoffnung?

Nein, nein, bringen Sie mich nicht zur Verzweiflung! rief sie. Was wollen Sie aus mir machen? Woran denken Sie? Meinen Sie, ich solle … Mein Gott, lassen Sie uns jetzt nicht mehr davon sprechen, seien Sie so gut! Gehen Sie jetzt! Nun haben Sie mit diesen wenigen dummen Worten alles vernichtet, sogar alle unsere Gespräche haben Sie zerstört, und jetzt dürfen wir uns nicht mehr treffen. Warum haben Sie das getan? Nein, wenn ich das gewußt hätte! Ja, ja, sprechen Sie nun nicht mehr davon, ich bitte Sie um Ihret- und um meinetwillen. Sie wissen doch gut, daß ich Ihnen nichts sein kann; ich begreife nicht, wie Sie jemals so etwas haben denken können. Das darf nun nicht mehr so weitergehen, Sie müssen mich jetzt verlassen und es zu überwinden suchen. Mein Gott, es tut mir wirklich auch für Sie aufrichtig leid; aber ich kann nicht anders.

Und soll dies der Abschied sein? Sehe ich Sie nun zum letztenmal? Nein nein, hören Sie mich an! Ich will ja vernünftig sein, über alles mögliche andere sprechen, nur niemals wieder über dieses, darf ich Sie dann wieder treffen? Wenn ich ganz ruhig bin? Vielleicht einmal, wenn Sie aller anderen müde sind; nur darf es heute nicht das allerletzte Mal sein. Sie schütteln wieder den Kopf, – Ihren schönen Kopf, Sie schütteln ihn. Wie ist doch alles, alles so schrecklich … Ach, wenn Sie doch lieber lügen und ja sagen wollten, nur um mir eine Freude zu machen, – selbst wenn Sie es in Wirklichkeit mir nicht erlauben wollen, Sie wiederzusehen. Ach, das wird traurig heute, sehr traurig, obwohl ich heute morgen sang. Nur einmal noch!

Darum dürfen Sie mich nicht bitten. Wenn ich es doch nicht versprechen kann. Und außerdem, wozu sollte es gut sein! Gehen Sie jetzt, gehen Sie! Vielleicht treffen wir uns auch wieder, ich weiß es nicht, es könnte ja einmal sein. Nein, gehen Sie jetzt, hören Sie, sagte sie ungeduldig. Dann handeln Sie gut gegen mich, fügte sie hinzu.

Pause.

Er stand da und starrte sie an, seine Brust hob sich. Dann nahm er sich zusammen und grüßte; er ließ die Mütze zu Boden fallen, ergriff plötzlich ihre Hand, die sie ihm nicht gereicht hatte, und drückte sie hart zwischen seinen beiden Händen. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, und er ließ sie sofort los, ganz verzweifelt darüber, ihr Schmerz verursacht zu haben. Und er stand da und sah ihr nach, als sie ging. Einige Schritte noch, dann würde sie verschwinden! Eine Röte steigt in sein Gesicht, verwundet beißt er sich in die Lippe und will gehen, will ihr mit verhärmter Inbrunst den Rücken wenden. Er war doch ein Mann, wenn es darauf ankam; es war gut, alles war gut, leb wohl …

Plötzlich drehte sie sich um und sagte:

Und Sie dürfen sich nicht nachts am Pfarrhof herumtreiben. Lieber, das dürfen Sie wirklich nicht. Um Ihretwillen also hat Bisk mehrere Nächte hindurch so wütend gebellt. In einer Nacht war Papa nahe daran aufzustehen. Sie dürfen das nicht, hören Sie. Ich hoffe doch, daß Sie nicht uns beide ins Unglück bringen wollen.

Nur diese Worte; aber bei dem Klang ihrer Stimme war doch all sein Zorn vorbei, er schüttelte den Kopf.

Und es ist doch heute mein Geburtstag! sagte er. Dabei legte er den einen Arm über das Gesicht und ging.

Sie sah ihm nach, bedachte sich einen Augenblick und lief dann zurück. Sie ergriff ihn beim Arm.

Verzeihen Sie mir, aber es wird nicht anders, ich kann Ihnen nichts sein. Vielleicht treffen wir uns später wieder einmal, glauben Sie nicht? Ja, jetzt muß ich gehen. Sie wandte sich um und ging rasch von ihm fort.


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