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15

In den folgenden Tagen war Nagel nicht in der Stadt. Er machte eine Reise mit dem Dampfer, und sein Zimmer im Hotel war abgesperrt. Niemand wußte, wo er sich aufhielt; er war an Bord eines nordwärts fahrenden Schiffes gegangen und vielleicht nur zu seiner Zerstreuung verreist.

Als er eines Morgens, sehr früh, noch ehe die Stadt auf den Beinen war, zurückkam, sah er bleich und verwacht aus. Trotzdem ging er nicht ins Hotel hinauf, sondern lief erst noch eine gute Weile auf dem Kai auf und ab und schlug danach einen neuen Weg nach Indviken hinaus ein, wo es eben aus dem Schornstein der Dampfmühle zu rauchen begann.

Er war nicht lange fort und trieb sich offenbar nur umher, um ein paar Stunden totzuschlagen. Als der Verkehr auf dem Markte anfing, war er dort; er stand an der Ecke des Postgebäudes und beobachtete aufmerksam alle Kommenden und Gehenden, und als er Martha Gudes grünen Rock sah, trat er vor und grüßte.

Sie möge entschuldigen, sie habe ihn vielleicht vergessen? Sein Name sei Nagel, er habe auf den Stuhl geboten, den alten Stuhl. Vielleicht sei er bereits verkauft?

Nein, er sei nicht verkauft.

Gut. Und es sei wohl auch kein anderer bei ihr gewesen und habe den Preis hinaufgeschraubt? Kein Liebhaber?

Doch. Aber …

Was? Wirklich? Sind andere dagewesen? Was Sie sagen, eine Dame? Ja, diese schrecklichen Frauenzimmer, die mußten ihre Nase in alles hineinstecken! Sie hat also von dieser Rarität von einem Stuhl gehört und muß ihn sofort an sich bringen. Ja, das ist das gewöhnliche Verfahren der Frauenzimmer. Aber was bot sie denn, wie hoch ging sie? Ich sage Ihnen, ich lasse mir den Stuhl um keinen Preis entgehen, der Teufel hol mich, wenn ich das tue!

Martha wurde durch seine Heftigkeit verwirrt und beeilte sich zu antworten:

Nein, nein, Sie sollen ihn ja auch haben, mit Vergnügen.

Darf ich dann also heute abend gegen acht Uhr zu Ihnen kommen und die Sache abschließen?

Ja, das könne er vielleicht. Aber solle sie ihm nicht lieber den Stuhl ins Hotel senden? Dann wäre es abgemacht …

Durchaus nicht, durchaus nicht, das ließ er auf keinen Fall zu. Ein solches Ding müsse sorgfältig und mit geübten Händen behandelt werden. Er litte nicht einmal, daß ein Fremder ihn ansehe. Um acht Uhr würde er dort sein. Hören Sie, da falle ihm ein, kein Staubtuch daran, nichts abwaschen, um Gottes willen! Keinen Tropfen Wasser! …

Nagel ging im Hotel sofort in sein Zimmer, wo er sich mit allen Kleidern auf das Bett legte und in einem Zug schwer und ruhig bis gegen Abend schlief.

 

Sowie er zu Abend gegessen hatte, begab er sich zum Kai hinunter, zu Martha Gudes kleinem Haus. Es war acht Uhr; er klopfte an und trat ein.

Die Stube war erst vor kurzem gewischt worden, der Boden rein und die Fenster geputzt; Martha selbst hatte sogar ein Perlenband um den Hals gelegt. Es war klar, daß er erwartet wurde.

Er grüßte, setzte sich und begann sofort mit den Verhandlungen. Sie gab auch jetzt in keiner Weise nach, im Gegenteil, sie war hartnäckiger denn je und wollte ihm beständig den Stuhl umsonst geben. Endlich stellte er sich wütend, drohte damit, ihr fünfhundert Kronen ins Gesicht zu werfen und mit dem Stuhl davonzulaufen. Ja, das hätte sie verdient! Eine solche Unvernunft hätte er in seinem ganzen Leben noch nicht angetroffen, und auf den Tisch schlagend, fragte er, ob sie denn völlig verrückt sei.

Wissen Sie was, sagte er und sah sie scharf an, Ihr Widerstand fängt wirklich an, mich mißtrauisch zu machen. Antworten Sie mir aufrichtig: der Stuhl ist doch wohl ehrlich erworben? Ja, denn ich will Ihnen sagen, ich habe es mit allen möglichen Leuten zu tun, und man kann niemals vorsichtig genug sein. Wenn der Stuhl durch Schwindelei oder Zweideutigkeit in Ihren Besitz gekommen ist, wage ich nicht, mich mit der Sache zu befassen. Ich bitte Sie übrigens, mir zu verzeihen, wenn ich Ihre Weigerung mißverstehe.

Und er beschwor sie eindringlich, ihm die Wahrheit zu sagen.

Durch dieses Mißtrauen verwirrt, halb erschreckt und halb verletzt, rechtfertigte sie sich sofort: Der Stuhl sei von ihrem Großvater heimgebracht worden und seit einem Jahrhundert im Besitz der Familie; er dürfe nicht glauben, daß sie in dieser Beziehung etwas verheimliche. Sie bekam Tränen in die Augen.

Gut, dann wollte er wirklich diesem Unsinn ein Ende machen, und damit Punktum! Er griff nach der Brieftasche.

Sie trat einen Schritt vor, wie um ihn noch einmal zu hindern; er aber legte, ohne sich stören zu lassen, die beiden roten Scheine auf den Tisch und schlug die Brieftasche wieder zu.

Bitte! sagte er.

Geben Sie mir jedenfalls nur fünfzig Kronen! bat sie. Und sie war in diesem Augenblick so ratlos, daß sie ihm zweimal über das Haar strich, als sie ihn darum bat, nur um ihn zum Nachgeben zu bewegen. Sie wußte selbst nicht, was sie tat; aber sie strich ihm über das Haar und bat ihn wiederum, doch nur fünfzig Kronen zu bezahlen. Das ungeschickte Menschenkind hatte immer noch nasse Augen.

Er hob den Kopf und sah sie an. Diese weißhaarige Armenhäuslerin, dieses Mädchen von vierzig Jahren, mit einem Blick, der noch schwarz und glühend war, und doch mit einem Wesen, das an eine Nonne erinnerte. Diese eigentümliche und fremdartige Schönheit wirkte auf ihn und machte ihn einen Augenblick wankend. Er nahm ihre Hand, streichelte sie und sagte: Gott, wie sonderbar Sie sind, Liebe! Im gleichen Augenblick aber stand er schnell von seinem Sessel auf und ließ ihre Hand los.

Dann hoffe ich also, daß Sie nichts dagegen haben, wenn ich den Stuhl jetzt sofort mit mir nehme, sagte er.

Und er nahm den Stuhl an sich.

Sie hatte offenbar keine Furcht mehr vor ihm. Als sie sah, daß seine Hände bei der Berührung des alten Möbels schmutzig wurden, griff sie sogleich in die Tasche und reichte ihm ihr Taschentuch, damit er sich abwischen könne.

Das Geld lag noch auf dem Tisch.

Darf ich übrigens fragen, ob es nicht am besten wäre, Sie behielten die Geschichte von diesem Handel möglichst für sich? Es ist doch besser, wenn nicht die ganze Stadt davon erfährt, nicht wahr?

Ja, sagte sie gedankenvoll.

An Ihrer Stelle würde ich das Geld sofort verstecken. Oder ich würde eigentlich erst etwas vor das Fenster hängen. Nehmen Sie den Rock dort!

Wird es dann nicht zu dunkel? meinte sie. Aber sie nahm doch den Rock und hängte ihn auf, und Nagel half ihr dabei.

Das hätten wir übrigens gleich tun sollen, sagte er dann; es könnte sich schlecht ausnehmen, wenn mich die Leute hier drinnen sehen würden.

Darauf antwortete sie nichts. Sie nahm das Geld vom Tisch, reichte ihm ihre Hand und bewegte die Lippen, brachte jedoch kein Wort hervor.

Aber noch während er dasteht und ihre Hand hält, sagt er plötzlich:

Hören Sie, darf ich Sie fragen: es ist vielleicht ziemlich hart für Sie, sich durchzuschlagen, ich meine ohne Hilfe, ohne Unterstützung … ja, Sie beziehen vielleicht eine kleine Unterstützung?

Ja.

Liebes Fräulein, verzeihen Sie, daß ich frage! Es fiel mir nur ein, wenn man Wind davon bekommt, daß Sie etwas Geld haben, so erhalten Sie nicht allein keine Unterstützung mehr, sondern Ihr Geld wird sogar beschlagnahmt, einfach beschlagnahmt. Deshalb gilt es, unseren Handel vor jedermann geheimzuhalten; verstehen Sie das? Ich will Ihnen nur als praktischer Mann raten. Sie sagen zu keiner lebenden Seele, daß wir dieses Geschäft gehabt haben … Da fällt mir übrigens auch noch ein, daß ich Ihnen kleinere Scheine geben muß, damit Sie nicht zu wechseln brauchen.

Alles bedenkt er, jede Zufälligkeit. Er setzt sich wieder hin und zählt die kleinen Scheine auf. Er zählt nicht genau, er gibt ihr sein ganzes Kleingeld, das er auf gut Glück herausnimmt und zu einem Bündel zusammenrollt.

So, verstecken Sie das jetzt! befiehlt er.

Und sie wendet sich ab, hakt ihr Leibchen auf und verbirgt das Geld auf ihrer Brust.

Als sie damit fertig ist, erhebt er sich jedoch noch immer nicht, er bleibt sitzen und fragt gleichsam zufällig:

Was wollte ich doch sagen, – Sie kennen vielleicht Minute?

Und es fiel ihm auf, daß sie flammend rot wurde.

Ich habe ihn ein paarmal getroffen, fährt Nagel fort, ich halte viel von ihm, er ist sicher treu wie Gold. Augenblicklich hat er den Auftrag von mir, mir eine Geige zu besorgen, und das tut er gewiß, glauben Sie nicht? Na, Sie kennen ihn vielleicht nicht?

Doch.

Ach, es ist ja wahr, er erzählte mir, daß er bei Ihnen einige Blumen zu einem Begräbnis gekauft habe, zu Karlsens Begräbnis. Sagen Sie mir, Sie kennen ihn vielleicht ziemlich gut? Was halten Sie von ihm? Sie sind doch wohl auch der Meinung, daß er meinen Auftrag auf jeden Fall zufriedenstellend ausführen kann? Wenn man es mit so vielen Menschen zu tun hat, muß man sich bisweilen erkundigen. Ich habe einmal eine Summe Geldes verloren, eben weil ich blind auf einen Mann vertraute, ohne mich über ihn zu erkundigen; das war in Hamburg.

Und aus irgendeinem Grund erzählt Nagel die Geschichte von dem Mann, an den er Geld verloren hatte. Martha steht immer noch vor ihm und stützt sich auf den Tisch; sie ist unruhig, schließlich sagt sie ziemlich heftig:

Nein, nein, sprechen Sie nicht von ihm!

Von wem soll ich nicht sprechen?

Von Johannes, von Minute.

Heißt Minute Johannes?

Ja, Johannes.

Heißt er wirklich Johannes?

Ja.

Nagel schweigt. Diese einfache Auskunft, daß Minute Johannes heißt, gibt seinen Gedanken einen Stoß, verändert sogar für einen Augenblick seinen Gesichtsausdruck. Eine Weile sitzt er ganz sprachlos da, dann fragt er:

Und warum nennen Sie ihn Johannes? Nicht Grögaard, nicht Minute?

Verlegen antwortet sie und schlägt die Augen nieder:

Wir kennen einander, seit wir Kinder waren …

Pause.

Jetzt sagt Nagel halb scherzend und im Tone höchster Gleichgültigkeit:

Wissen Sie, welchen Eindruck ich bekommen habe? Daß Minute eigentlich stark in Sie verliebt sein muß. Ja, das ist mir wirklich aufgefallen, das ist wahr. Und es wundert mich nicht sehr, obwohl ich zugeben muß, daß Minute doch dabei etwas dreist ist. Nicht wahr, erstens ist er doch kein Jüngling mehr, und dann ist er ja auch etwas verkrüppelt. Aber, mein Gott, die Frauen sind oft so sonderbar; wenn sie die Lust ankommt, gehen sie hin und werfen sich aus freiem Willen, ja mit Freuden und in Verzückung vollkommen weg. Hehehe, so sind die Frauen. Im Jahre 1886 war ich Zeuge der sonderbaren Tatsache, daß eine junge Dame aus meinem Bekanntenkreis sich einfach mit dem Laufburschen ihres Vaters verheiratete. Ich werde das niemals vergessen. Er war Lehrling im Geschäft, ein Kind, sechzehn, siebzehn Jahre, ohne Spur von einem Bart; aber schön war er, ja ganz wunderbar, das muß ich zugeben. Mit einer wütenden Liebe warf sie sich über dieses frische Kind und zog mit ihm ins Ausland. Ein halbes Jahr später kam sie zurück, und da war die Liebe weg. Ja, ist das nicht traurig, die Liebe war weg! Na, dann langweilte sie sich ein paar Monate zu Tode, verheiratet war sie und insofern war die Sache erledigt; was sollte sie tun? Da schlägt sie auf den Tisch und dreht der Welt eine lange Nase, beginnt sich auszutoben, treibt sich mit Studenten und Kommis herum und endet damit, daß man sie La Glu nannte. Es war ein Jammer! Aber noch einmal setzt sie die Menschen in Erstaunen: nachdem sie sich ein paar Jahre auf diese vortreffliche Art unterhalten hat, beginnt sie plötzlich eines Tages Novellen zu schreiben, sie wird Schriftstellerin, und man sagt, sie habe großes Talent. Sie war unglaublich gelehrig, diese zwei Jahre unter Studenten und Handlungsgehilfen hatten sie außerordentlich gereift und sie die Kniffe gelehrt, wie man Bücher schreibt. Von diesem Tag an schrieb sie die ausgezeichnetsten Dinge. Hehehe. Ja, das war ein Teufelsfrauenzimmer! … Na, aber so seid Ihr Frauen. Ja, Sie lachen, Sie können es doch nicht leugnen, nicht vollkommen. Ein siebzehnjähriger Laufbursche kann sie wahrlich töricht machen. Ich bin sicher, daß auch Minute nicht allein durch die Welt zu gehen brauchte, wenn er sich ein wenig Mühe gäbe, sich ein wenig ins Zeug legte. Er hat nämlich etwas an sich, was sogar einen Mann berühren kann, ja, was auch mich für ihn einnimmt: sein Herz ist so herausfordernd rein, und in seinem Munde ist keine Falschheit. Nicht wahr, Sie kennen ihn in- und auswendig und wissen, daß es so ist? Was soll man aber dagegen von seinem Onkel, dem Kohlenhändler, sagen? Ein alter Schleicher, habe ich mir gedacht, ein unangenehmer Mensch. Ich habe den Eindruck, daß eigentlich Minute das Geschäft aufrechterhält. Nun aber frage ich: warum sollte er nicht auch ein eigenes Geschäft aufrechterhalten können? Kurz gesagt: Minute vermag, wann es auch sei, eine Familie zu versorgen … Sie schütteln den Kopf?

Nein, nein.

Na, dann nicht, Sie werden ungeduldig und langweilen sich bei diesem Gespräch über einen gleichgültigen Menschen, und dazu haben Sie auch allen Grund … Hören Sie, weil es mir eben einfällt – ja, Sie dürfen mir deswegen nicht böse werden, ich möchte Ihnen wirklich nur auf die beste Art und Weise helfen –: Sie sollten nachts Ihre Türe recht gut verschließen. Sie sehen mich so ängstlich an? Mein liebes Fräulein, seien Sie nicht furchtsam und auch nicht mißtrauisch gegen mich. Ich will Ihnen ja nur sagen, daß Sie besonders jetzt, da Sie Geld haben, auf das Sie aufpassen müssen, nicht von jedem nur das Beste glauben dürfen. Ich habe nicht gerade gehört, daß es unsicher in der Stadt sei, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Gegen zwei Uhr, wissen Sie, ist es hier in dieser Gegend ziemlich dunkel, und gerade gegen zwei Uhr habe ich sogar vor meinen eigenen Fenstern einen verdächtigen Lärm gehört. Ja, ja, Sie sind doch nicht böse, weil ich Ihnen diesen Rat gegeben habe? … Leben Sie nun wohl! Ich freue mich, daß ich Ihnen schließlich doch noch den Stuhl entrissen habe. Leben Sie wohl, liebes Fräulein!

Dabei drückte er ihre Hand. In der Türe wandte er sich noch einmal um und sagte:

Hören Sie, es ist am besten, wenn Sie sagen, ich habe Ihnen nur ein paar Kronen für den Stuhl gegeben. Aber nicht mehr, keinen Schilling mehr, denn sonst wird das Geld beschlagnahmt, denken Sie daran. Nicht wahr, ich kann mich darauf verlassen?

Ja, antwortete sie.

Er ging fort und nahm den Stuhl mit. Er strahlte über das ganze Gesicht, kicherte und lachte laut, als habe er einen ganz besonders pfiffigen Streich begangen. Gott bewahre mich, wie wird sie sich jetzt freuen! sagte er aufgeräumt. Hehe, sie wird heute nacht vor lauter Reichtum kaum schlafen können! …

Als er heimkam, saß Minute da und wartete auf ihn.

 

Minute kam von der Probe und hatte einen Stoß Plakate unter dem Arm. Ja, die lebenden Bilder versprächen sehr gut zu werden, sie sollten Szenen aus der Geschichte vorstellen und würden in verschiedenfarbigem Licht vorgeführt; er selbst habe eine Statistenrolle.

Und wann solle der Basar beginnen?

Am Donnerstag werde er eröffnet, am neunten Juli, dem Geburtstag der Königin. Aber schon heute abend solle Minute überall die Plakate anheften, man habe sogar die Erlaubnis bekommen, eins am Friedhoftor anzukleben … Er sei übrigens gekommen, um wegen der Geige Bescheid zu sagen. Es sei ihm nicht möglich gewesen, eine aufzutreiben. Die einzige brauchbare Geige in der Stadt sei nicht verkäuflich, sie gehöre dem Organisten, der sie auf dem Basar brauche; er habe einige Nummern zu spielen.

Na, dabei ist also nichts zu machen.

Minute will wieder gehen. Während er schon mit der Mütze in der Hand dasteht, sagt Nagel:

Sollten wir nicht einen stillen Becher miteinander leeren? Ich will Ihnen nämlich sagen, ich bin heute abend gut aufgelegt, es ist mir etwas Glückliches widerfahren. Denken Sie, ich bin mit vieler Anstrengung endlich in den Besitz eines Möbels gekommen, wie es kein anderer Sammler im Land sein eigen nennt, dessen bin ich sicher. Sehen Sie, diesen Stuhl hier! Verstehen Sie sich auf eine Perle, einen ganz einzig dastehenden Holländer? Ich verkaufe ihn nicht für ein Vermögen, weiß Gott! Und aus diesem Anlaß möchte ich so gerne ein Glas mit Ihnen trinken, wenn Sie nichts dagegen haben. Darf ich klingeln? Nicht? Aber die Plakate können Sie ja morgen anschlagen … Nein, ich kann mein großes Glück heute gar nicht vergessen! Sie wissen vielleicht nicht, daß ich gelegentlich auch Sammler bin und mich auch hier aufhalte, um Seltenheiten aufzuspüren! Ich habe Ihnen wohl noch nicht von meinen Kuhglocken erzählt? Nein, aber lieber Gott, dann haben Sie ja keinen Begriff davon, was für ein Mann ich bin. Natürlich bin ich Agronom, aber ich habe doch auch noch nebenbei meine Interessen. Ja, bis dato besitze ich zweihundertundsiebenundsechzig Kuhglocken. Es sind zehn Jahre her, seit ich anfing, sie zu sammeln, und jetzt habe ich Gott sei Dank eine Sammlung von hohem Rang. Und diesen Stuhl hier, wissen Sie, wie ich den in die Klauen bekam? Zufall, Schweineglück! Ich gehe eines Tages auf der Straße, komme an einem kleinen Haus unten am Kai vorüber und schaue aus alter Gewohnheit im Vorbeigehen schräg durch das Fenster hinein. Da bleibe ich auf einmal stehen, mein Blick fällt auf diesen Stuhl, und ich sehe sofort, was er wert ist. Ich klopfe an und gehe in das Haus, eine ältere, weißhaarige Dame empfängt mich … ja, wie hieß sie doch? Na, das kann ja auch gleich sein, Sie kennen sie vielleicht doch nicht; Fräulein Gude war es, glaube ich, Martha Gude oder so ähnlich … Schön, sie weigert sich, den Stuhl herzugeben, aber ich rede ihr so lange zu, bis ich ein bestimmtes Versprechen bekomme, und heute also habe ich ihn mir geholt. Aber das Beste von allem ist, daß ich ihn umsonst bekommen habe, sie gab ihn mir gratis. Ja, ich warf ihr ein paar Kronen auf den Tisch, damit sie es nicht bereuen sollte; aber der Stuhl ist Hunderte wert. Das bitte ich Sie für sich zu behalten; man möchte sich doch nicht gerne etwas Schlechtes nachsagen lassen. Ich habe mir ja auch nichts vorzuwerfen. Das Fräulein verstand sich nicht auf den Handel, und ich, der ich Fachmann und Käufer war, hatte nicht die Verpflichtung, ihren Vorteil zu wahren. Nicht wahr, man darf doch nicht dumm sein, man muß seinen eigenen Vorteil wahren, das ist der Kampf ums Dasein … Können Sie mir nun also abschlagen, ein Glas Wein zu trinken, wenn Sie hören, wie die Sache zusammenhängt?

Minute bestand darauf, daß er fort müsse.

Das ist schade, fährt Nagel fort. Ich hatte mich auf eine Unterhaltung mit Ihnen gefreut. Sie sind der einzige Mann hier am Ort, der mein Interesse erregt, der einzige, den im Auge zu behalten sich sozusagen lohnt. Hehe, im Auge zu behalten also. Sie heißen ja obendrein Johannes? Mein lieber Freund, das habe ich schon lange gewußt, ohne daß es mir jemand vor heute abend erzählt hätte … Ja, erschrecken Sie nur nicht wieder. Es ist doch ein schandbares Unglück, daß die Leute immer Angst vor mir haben. Doch, leugnen Sie es nicht, Sie starrten mich wirklich einen Augenblick lang ein wenig entsetzt an, – ja, ich möchte nicht gerade behaupten, es sei ein Ruck durch Sie gegangen …

Minute war jetzt an die Türe gekommen. Es schien, als wolle er kurzen Prozeß machen und das Zimmer sofort verlassen. Das Gespräch wurde auch immer unheimlicher.

Ist heute der sechste Juli? fragte Nagel plötzlich.

Ja, antwortete Minute, heute ist der sechste Juli. Damit legte er die Hand auf die Türklinke.

Nagel nähert sich ihm langsam, rückt ihm dicht auf den Leib, starrt ihm ins Gesicht und legt gleichzeitig seine Hände auf den Rücken. Während er in dieser Stellung verharrt, fragt er mit flüsternder Stimme:

Und wo waren Sie am sechsten Juni?

Minute antwortete nicht, kein Wort. Von Schrecken gepackt vor diesen starrenden Augen und dem geheimnisvollen Flüstern, außerstande, diese kleine desperate Frage nach einem Tag, einem Datum des vorigen Monats zu verstehen, reißt er hastig die Türe auf und taumelt auf den Gang hinaus. Hier wirbelt er einen Augenblick umher und findet die Treppe nicht; und währenddem steht Nagel in der Türe und ruft ihm zu:

Nein, nein, das ist verrückt; ich bitte Sie, es zu vergessen! Ich werde es Ihnen ein andermal erklären, ein andermal …

Aber Minute hörte nichts. Er war schon im Gang unten, bevor Nagel ausgesprochen hatte, und von dort lief er – ohne nach rechts oder links zu sehen – auf die Straße hinaus, zum Marktplatz, bis zu dem großen Pumpbrunnen, wo er in die erste beste Seitenstraße einbog und verschwand.

Eine Stunde später – es war zehn Uhr – zündete Nagel sich eine Zigarre an und verließ das Hotel. Die Stadt war noch nicht zur Ruhe gegangen. Auf dem Weg nach dem Pfarrhof sah man eine Menge Spaziergänger, die sich langsamen Schrittes auf und ab bewegten, und die Straßen ringsumher hallten noch wider vom Gelächter und Lärm der spielenden Kinder. Frauen und Männer saßen an dem milden Abend auf den Treppen und sprachen leise miteinander; hie und da riefen sie über die Straße den Nachbarn zu und erhielten eine freundliche Antwort.

Nagel ging in der Richtung der Ladespeicher. Er sah, wie Minute am Postgebäude, an der Bank, an der Schule und am Gefängnis Plakate anklebte. Wie genau und gewissenhaft er das machte! Wieviel guten Willen er darauf verwandte und der Zeit nicht achtete, obwohl er den Feierabend gut hätte brauchen können. Nagel ging dicht an ihm vorbei und grüßte, blieb aber nicht stehen.

Als er fast bis zu den Speichern gekommen war, hörte er eine Stimme hinter sich. Martha Gude hält ihn an und sagt ganz atemlos:

Entschuldigen Sie! Sie haben mir zuviel Geld gegeben.

Guten Abend! antwortete er. Machen Sie auch einen Spaziergang?

Nein, ich war in der Stadt oben, vor dem Hotel, ich habe auf Sie gewartet. Sie haben mir zuviel Geld gegeben.

Sollen wir nun wieder mit dieser Komödie anfangen?

Aber Sie haben sich ja geirrt! ruft sie bestürzt. Es waren mehr als zweihundert in kleinen Scheinen.

Na, wenn auch! Ach nein, waren es wirklich ein paar Kronen zuviel, ein paar Kronen mehr als zweihundert? Gut, die können Sie mir ja zurückgeben.

Sie beginnt ihr Leibchen aufzuknöpfen, hält aber plötzlich inne, sieht sich um und weiß nicht, was sie tun soll. Sie bat wieder um Entschuldigung: es seien so viel Leute in der Nähe, sie könne hier auf der Straße das Geld nicht herausnehmen, sie habe es so wohl verwahrt …

Nein, beeilte er sich zu antworten, ich kann es ja holen, lassen Sie es mich nur holen.

Und sie gingen zusammen heim. Sie begegneten vielen Menschen, die sie mit neugierigen Augen ansahen.

Als sie in Martha Gudes Stube gekommen waren, setzte sich Nagel ans Fenster, wo er schon vorher gesessen hatte und wo der Rock immer noch hing. Während Martha das Geld hervorsuchte, sagte er noch nichts; erst als sie fertig war und ihm die Handvoll kleiner Scheine gab, einige abgenützte und verblichene Zehnkronenscheine, die noch warm waren von ihrer Brust und die sie in ihrer Ehrlichkeit nicht einmal die Nacht über bei sich behalten wollte, sprach er mit ihr und bat sie, das Geld zu behalten.

Jetzt aber schien sie wieder, wie schon früher einmal, Verdacht gegen seine Absichten zu schöpfen, sie sah ihn unsicher an und sagte:

Nein … ich verstehe Sie nicht …

Er erhob sich heftig.

Ich aber verstehe Sie ausgezeichnet, antwortete er, deshalb stehe ich jetzt auf und gehe zur Türe. Sind Sie dann beruhigt?

Ja … Nein, Sie sollen nicht bei der Türe stehen. Und wirklich streckte sie beide Arme ein wenig aus, um ihn zurückzudrängen. Das seltsame Mädchen war zu sehr besorgt, irgend jemand zu kränken.

Ich habe eine Bitte an Sie, sagte Nagel dann, aber er setzte sich nicht; Sie könnten mir eine große Freude bereiten, wenn Sie wollten … ja, und ich werde es Ihnen sicherlich auf die eine oder andere Weise danken: ich wollte Sie bitten, am Donnerstagabend zu dem Basar zu kommen. Wollen Sie mir das Vergnügen machen? Das wird Sie zerstreuen, es sind viele Menschen da, viel Licht, Musik, lebende Bilder. Ach, tun Sie es, Sie werden es nicht bereuen! Sie lachen, warum lachen Sie? Gott, was haben Sie für weiße Zähne, Menschenskind!

Ich kann doch nirgends hingehen, antwortete sie. Wie konnten Sie annehmen, daß ich dort hingehen kann? Und warum soll ich es tun, warum wollen Sie das?

Er erklärte ihr das Ganze offen und ehrlich; es sei ein Einfall von ihm, er habe schon lange daran gedacht, schon vor ein paar Wochen sei der Gedanke in ihm aufgestiegen, aber bis zu diesem Augenblick habe er es wieder vergessen. Sie solle nur hinkommen, solle mit dabei sein, er möchte sie dort sehen. Wenn sie es wünsche, würde er nicht einmal mit ihr reden, sie also in keiner Weise plagen, das sei nicht seine Absicht. Es würde ihn nur freuen, sie einmal mit anderen zusammen zu sehen, sie lachen zu hören, sie richtig jung zu sehen. Liebe, Sie müssen es wirklich tun!

Er sah sie an. Wie abstechend weiß war ihr Haar und wie dunkel ihre Augen! Mit einer Hand zupfte sie an den Knöpfen ihres Leibchens, und diese Hand, eine schwache, langfingerige Hand, hatte eine graue Farbe, sie war vielleicht auch nicht ganz rein, aber sie machte einen merkwürdig keuschen Eindruck. Über die Handgelenke liefen zwei blaue Adern.

Ja, sagte sie, das könnte vielleicht hübsch werden. Aber sie habe nicht einmal Kleider, nicht einmal ein Kleid zu einem solchen Abend …

Er unterbrach sie: es seien noch drei Arbeitstage bis dahin; bis Donnerstag könne man sich noch schaffen, was nötig sei. Ja, es sei genug Zeit! Dann ist es also abgemacht?

Und zögernd gab sie schließlich nach.

Ja, denn man dürfe sich auch nicht ganz vergraben, sagte er; davon hätte man nur selbst den Schaden. Und außerdem, mit ihren Augen, ihren Zähnen, nein, nein, es sei eine Sünde! Und die Scheine dort auf dem Tisch sollten für das Kleid sein, doch doch, kein Sträuben! Um so mehr, als es sein Einfall sei und es sie Überwindung gekostet habe, sich zu fügen.

Er wünschte ihr gute Nacht wie gewöhnlich, kurz und bündig, ohne ihr auch nur den leisesten Grund zur Unruhe zu geben. Aber als sie ihm in den Gang hinaus gefolgt war, reichte sie selbst ihm noch einmal die Hand und dankte, weil er sie zu diesem Basar eingeladen habe. Das sei ihr seit vielen, vielen Jahren nicht mehr geschehen, sie sei so etwas gar nicht mehr gewöhnt. Ja, sie würde sich schon gut benehmen …

Das große Kind, sie versprach sogar, sich gut zu betragen, obwohl er sie nicht darum gebeten hatte.


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