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6

Am nächsten Morgen befand sich Nagel in einer zarten und frohen Stimmung. Sie war, noch während er im Bett lag, über ihn gekommen, und es schien, als ob sich die Decke seines Zimmers plötzlich höbe und höbe, ins Unendliche emporhöbe und zu einem fernen, klaren Himmelsgewölbe würde. Und auf einmal fühlte er einen milden, süßen Wind über sich, als läge er draußen im grünen Gras. Auch die Fliegen summten im Zimmer umher. Es war ein warmer Sommermorgen.

Er schlüpfte rasch in die Kleider, verließ, ohne zu essen, das Hotel und schlenderte in die Stadt. Es war elf Uhr.

Aus jedem Haus ertönte bereits Klavierspiel, von Stadtviertel zu Stadtviertel hörte man verschiedene Melodien durch die offenen Fenster, und auf der Straße antwortete ein nervöser Hund laut und mit langgezogenem Geheul. Nagel wurde von einem hellen Behagen erfüllt, unwillkürlich begann er leise vor sich hin zu singen, und als er an einem alten Mann vorbeiging, der ihn grüßte, nahm er die Gelegenheit wahr, ihm einen Schilling in die Hand zu drücken.

Er kommt an ein großes, weißes Haus. Im ersten Stock wird ein Fenster geöffnet, eine weiße, schlanke Hand hängt den Haken ein. Der Vorhang bewegt sich noch, die Hand ruht noch auf dem Haken, und Nagel hat das Gefühl, daß jemand hinter dem Vorhang stehe und ihn beobachte. Er hielt an und starrte hinauf, über eine Minute stand er auf seinem Posten, aber niemand kam zum Vorschein. Auf dem Schild vor der Tür stand: F. M. Andresen. Dänisches Konsulat.

Eben wollte Nagel gehen, als er sich aber noch einmal umwandte, streckte Fräulein Fredrikke ihr langes vornehmes Gesicht heraus und sah ihm mit erstaunten Augen nach. Wieder blieb er stehen, die Blicke trafen sich, ihre Wangen begannen sich zu färben. Und wie um ihm Trotz zu bieten, zog sie die Ärmel ein wenig hinauf und lehnte sich auf den Ellbogen ins Fenster. So verharrte sie lange. Nichts schien sich ändern zu wollen, und schließlich mußte Nagel ein Ende machen und gehen. Im gleichen Augenblick fuhr ihm eine merkwürdige Frage durch den Kopf. Ob die junge Dame wohl hinter dem Fenster auf den Knien lag? In diesem Fall – dachte er – sind die Zimmer in der Wohnung des Konsuls ziemlich niedrig, da das Fenster kaum über sechs Fuß hoch ist und nur einen Fuß breit unterhalb des Daches anfängt. Er mußte selbst über diesen merkwürdigen Gedanken lachen; was zum Teufel ging ihn Konsul Andresens Wohnung an!

Und er schlenderte weiter.

Unten am Hafen war die Arbeit in vollem Gang. Speicherleute, Zollbeamte und Fischer liefen durcheinander, ein jeder war mit dem Seinen beschäftigt. Das Gangspill rasselte, zwei Dampfschiffe pfiffen beinahe gleichzeitig zur Abfahrt. Die See war ganz glatt, die Sonne lag darauf und verwandelte das Wasser in eine einzige goldene Platte, in die Schiffe und Boote bis zum Bug eingeschmolzen zu sein schienen. Von einem ungeheuren Dreimaster weit draußen hörte man einen erbärmlichen Leierkasten, und wenn die Dampfpfeifen und das Gangspill einen Augenblick schwiegen, tönte dessen traurige Melodie wie die bebende, verhauchende Stimme eines verzagenden Mädchens herüber. An Bord des Dreimasters trieb man seinen Scherz mit dem Leierkasten und begann nach seinem rührenden Gesang Polka zu tanzen.

Nagels Blick fiel auf ein Kind, ein ganz kleines Mädchen, das dastand und eine Katze an sich preßte. Die Katze hing ganz geduldig herunter, und ihre Hinterbeine ruhten beinahe auf der Erde, sie rührte sich nicht. Nagel streichelte dem Mädchen die Wange und sagte:

Ist das deine Katze?

Ja. Zwei, vier, sechs, sieben.

Ach, zählen kannst du auch?

Ja. Sieben, acht, elf, zwei, vier, sechs, sieben.

Er ging weiter. In der Richtung des Pfarrhofes taumelte eine weiße Taube sonnentrunken vom Himmel herab und verschwand hinter den Baumwipfeln; sie sah aus wie ein schimmernder Silberpfeil, der in der Ferne zur Erde fiel. Irgendwo wurde ein kurzer, beinahe lautloser Schuß gelöst, und bald darauf stieg aus dem Wald auf der anderen Seite der Bucht ein Schweif von blauem Rauch auf. Als er zur letzten Hafenbrücke gekommen und einige Male auf dem verlassenen Kai auf und ab gegangen war, schritt er, ohne darüber nachzudenken, die Höhe hinauf und in den Wald hinein. Er ging wohl eine gute halbe Stunde immer tiefer und tiefer in den Wald und hielt schließlich auf einem kleinen Steig an. Alles war still. Nicht einmal ein Vogel war zu sehen, und am Himmel stand keine Wolke. Er ging noch ein paar Schritte vom Weg ab, suchte sich einen trockenen Fleck und legte sich der ganzen Länge nach auf den Rücken. Zur Rechten hatte er den Pfarrhof, zur Linken die Stadt und über sich das unendliche Meer des blauen Himmels.

Wer nun da oben sein, sich zwischen Sonnen herumtreiben könnte und Kometenschweife um seine Stirne fächeln fühlte! Wie klein war doch die Erde und wie winzig die Menschen. Welch ein Norwegen mit zwei Millionen Hinterwäldlern und einer Hypothekenbank zum Lebensunterhalt! War es der Mühe wert, für so wenig Mensch zu sein? Im Schweiße seines Angesichtes arbeitete man sich mit den Ellbogen einige kümmerliche Jahre vorwärts, um dann trotz allem, trotz allem zu vergehen! Nagel griff sich an den Kopf. Oh, das endete noch damit, daß er sich aus dieser Welt empfahl, die Sache zum Abschluß brachte! Würde er jemals Ernst damit machen können? Ja. Bei Gott im Himmel ja, er würde nicht zurückweichen! Und in diesem Augenblick war er über den einfachen Ausweg, der sich schließlich noch immer darbot, ganz entzückt. Vor Begeisterung kam ihm das Wasser in die Augen, und er atmete beinahe hörbar. Er wiegte sich bereits auf dem Himmelsmeer und fischte mit einer Silberangel und sang dazu. Und sein Boot war aus duftendem Holz, die Ruder blinkten wie weiße Schwingen, das Segel aber war aus hellblauem Seidenstoff und wie ein Halbmond geschnitten …

Eine bebende Freude durchzog ihn, er fühlte sich hingerissen, verzaubert und versteckte sich förmlich in dem grellen Sonnenschein, der ihn umgab. Die Stille machte ihn ganz benommen vor Zufriedenheit, nichts störte ihn, nur in der Luft oben rauschte der weiche Ton, der Ton des ungeheuren Stampfwerkes. Gott, der sein Rad trat. Im Walde ringsum rührte sich nicht ein Blatt und nicht eine Nadel. Nagel kroch zusammen, schüttelte sich und zog vor Behagen die Knie unter sich an, weil alles so gut war. Etwas rief nach ihm, und er antwortete ja. Dann stemmte er sich auf die Ellbogen und sah um sich. Niemand war da. Noch einmal sagte er ja und lauschte; aber niemand zeigte sich. Das war doch sonderbar, er hatte so deutlich rufen hören. Aber er dachte nicht mehr darüber nach, vielleicht war es nur eine Einbildung gewesen, auf jeden Fall wollte er sich nicht mehr stören lassen. Er war in einem rätselhaften Zustand, erfüllt von seelischem Wohlbehagen. Jeder Nerv in ihm war wach, Musik zog durch sein Blut, er fühlte sich mit der ganzen Natur, mit der Sonne und den Bergen und allem anderen verwandt, spürte aus Bäumen und Erdhaufen und Halmen sich von seinem eigenen Ichgefühl umrauscht. Seine Seele wurde groß und volltönend wie eine Orgel, und niemals mehr konnte er vergessen, wie die milde Musik in seinem Blut gleichsam auf und nieder schwebte.

Einige Zeit lag er noch so da und genoß seine Einsamkeit. Dann hörte er Schritte unten auf dem Steig, wirkliche Schritte, über die er nicht im Zweifel sein konnte. Er hob den Kopf und erblickte einen Mann, der aus der Stadt kam. Ein langes Brot unter dem Arm, kam der Mann des Weges und führte eine Kuh am Strick hinter sich her. Beständig wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und ging der Wärme wegen in Hemdärmeln, aber trotzdem trug er einen dicken roten Wollschal zweimal um den Hals gewickelt. Nagel lag still und beobachtete den Bauern. Das war er! Das war der Hinterwäldler, der Norweger, hehe, ja, das war der Eingeborene, mit dem Brot unter dem Arm und der Kuh dicht auf den Fersen! Ach, welch ein Anblick! Hehehehehe, Gott steh dir bei, du biederer Wiking Norwegens! Möchtest du nicht den Schal ein wenig lockern und die Läuse auslüften? Du könntest nicht mehr leben, du bekämst zuviel frische Luft und müßtest daran sterben. Und die Presse würde deinen zu frühen Abgang beklagen und eine Nummer daraus machen. Um aber Wiederholungen vorzubeugen, würde der liberale Stortingsmann Vetle Vetlesen einen Vorschlag zur strengen Schonung des nationalen Ungeziefers einreichen.

In Nagels Gehirn schoß eine lustige Bitterkeit nach der anderen empor. Er erhob sich und ging erregt und mißmutig heimwärts. Nein, er hatte doch immer wieder recht, überall gab es nur Läuse und alten Käse und Luthers Katechismus. Und die Menschen waren mittelgroße Bürger in zweistöckigen Hütten; sie aßen, und tranken zu des Leibes Notdurft, verschönten sich das Leben mit Toddy und Wahlpolitik und handelten tagaus, tagein mit grüner Seife und Messingkämmen und Fischen. Nachts aber, wenn es donnerte, lagen sie da und lasen vor lauter Angst im Johan Arendt. Ach, schenk uns eine einzige ordentliche Ausnahme, laß sehen, ob das möglich ist! Schenk uns zum Beispiel ein ausgewachsenes Verbrechen, eine hervorragende Sünde! Aber nicht so eine lächerliche und bürgerliche Abc-Verirrung, nein, die seltene und haarsträubende Ausschweifung, die delikate Ruchlosigkeit, die Königssünde, voll der rohen Herrlichkeit der Hölle. Ach, das Ganze war so kleinlich. Was sagen Sie zu den Wahlen, mein Herr? Ich hege die größte Furcht für Buskerud …

Aber als er über die Anlegebrücken wieder zu den Speichern kam und dort das geschäftige Leben um sich her sah, wurde seine Laune nach und nach heller, er wurde wieder froh und begann zu singen. Dies war kein Wetter, um finster zu sein, es war ein schönes Wetter, ein Prachtwetter, ein lodernder Junitag. Die ganze kleine Stadt blitzte im Sonnenschein wie ein verzauberter Ort.

Als er durch die Hoteltüre ging, hatte er schon längst seine ganze Bitterkeit vergessen; sein Herz war ohne Groll, in seinem Innern strahlte wieder die Vorstellung von einem Boot aus duftendem Holz mit einem hellblauen Seidensegel, das die Form eines Halbmondes hatte.

 

Den ganzen Tag über blieb er in dieser Stimmung. Gegen Abend ging er wieder aus, nahm wieder den Weg zum Meer hinunter und fand von neuem tausend Nichtigkeiten, die ihn in Entzücken versetzten. Die Sonne sank, das brutale, brennende Licht wurde gedämpft und goß sich weich über das Wasser aus; alles war still, nur von den Schiffen drang noch Lärm herüber. Nagel sah, daß da und dort auf der Bucht Flaggen gehißt wurden. Auch von mehreren Häusern in der Stadt wehten Fahnen. Bald darauf hörte die Arbeit bei allen Lagerhäusern auf.

Er dachte nicht darüber nach, ging wieder in den Wald hinaus, schlenderte auf und ab, kam bis zu den Wirtschaftsgebäuden des Pfarrhofes und sah in den Hofplatz hinein. Von dort ging er wieder in den Wald, drang bis zur dunkelsten Stelle vor, die er finden konnte, und setzte sich auf einen Stein. In die eine Hand stützte er den Kopf, und mit der anderen trommelte er auf dem Knie. So saß er lange Zeit, vielleicht eine ganze Stunde, und als er sich endlich erhob und sich wieder auf den Weg machte, war die Sonne schon untergegangen. Das erste Grau der Dämmerung lag über der Stadt.

Dort wartete seiner eine große Überraschung. Als er aus dem Walde trat, entdeckte er rings auf den Höhen eine Menge lodernder Feuer, vielleicht zwanzig Scheiterhaufen, die von allen Seiten her wie kleine Sonnen brannten. Auf dem Wasser draußen war ein Gewimmel von Booten, und an Bord der Boote strich man bengalische Zündhölzer an, die mit roter und grüner Flamme leuchteten. Von einem der Boote, in dem ein Quartett sang, stiegen sogar einige Raketen in die Luft. Viele Menschen waren auf den Beinen, beim Dampfschiffkai war es schwarz von Leuten.

Nagel stieß einen kleinen Ruf der Überraschung aus. Er wandte sich an einen Mann und fragte, was diese Feuer und diese Fahnen zu bedeuten hätten. Der Mann sah ihn an, spuckte aus, sah ihn wieder an und antwortete, es sei der dreiundzwanzigste Juni, Johannisnacht. So, Johannisnacht! Ja, ganz richtig, das war kein Mißverständnis und stimmte auch mit dem Datum überein. So, Johannisnacht heute; ein Gutes kam zum andern, nun war auch noch Johannisnacht! Nagel rieb sich vergnügt die Hände und ging zum Dampfschiffkai, er auch, und viele Male wiederholte er bei sich selbst, daß er doch ein unvergleichliches Glück habe.

Von weitem schon sah er Dagny Kiellands blutroten Sonnenschirm in einer Gruppe von Damen und Herren, und als er auch Doktor Stenersen dabei entdeckte, überlegte er nicht lange, sondern ging zu ihm hin. Er grüßte, drückte die Hand des Doktors und blieb lange Zeit barhäuptig stehen. Der Doktor stellte ihn der Gesellschaft vor; auch Frau Stenersen reichte ihm die Hand, und Nagel setzte sich neben sie. Sie war bleich und hatte eine graue Hautfarbe, die ihr ein kränkliches Aussehen gab; aber sie schien noch sehr jung zu sein, kaum über zwanzig Jahre. Sie war warm gekleidet.

Nagel setzte die Mütze auf und sagte, sich an alle wendend:

Ich bitte Sie, es entschuldigen zu wollen, daß ich mich in Ihre Gesellschaft eindränge, daß ich so ungerufen komme …

Aber Bester, Sie machen uns ein Vergnügen, unterbrach Frau Stenersen liebenswürdig. Vielleicht könnten Sie sogar ein Lied zustande bringen?

Nein, das kann ich nicht, antwortete er, ich bin musikalisch so unbegabt wie nur irgend möglich.

Es ist im Gegenteil gut, daß Sie kommen; wir sprachen eben über Sie, äußerte der Doktor, Sie spielen doch Geige?

Nein, entgegnete Nagel wieder und schüttelte den Kopf; er lächelte. Ich spiele nicht. Plötzlich aber steht er ohne jeden Anlaß auf und sagt, während seine Augen ganz glänzend werden: Ich bin so froh heute. Den ganzen Tag über, seit ich heute früh erwachte, ist es so prachtvoll schön gewesen. Zehn Stunden lang bin ich in dem wunderbarsten Traum umhergegangen. Denken Sie sich: ich werde buchstäblich von der Vorstellung verfolgt, daß ich mich in einem Boot aus wohlriechendem Holz, mit einem halbmondförmigen Segel aus hellblauer Seide, befinde. Ist das nicht schön? Den Geruch des Bootes kann ich nicht beschreiben, ich könnte es nicht, und wenn ich auch noch so gerne wollte, noch so geschickt im Schildern wäre. Aber stellen Sie sich vor: es war mir, als sei ich draußen und fischte und als benützte ich eine Silberangel. Entschuldigen Sie, aber finden nicht wenigstens Sie, meine Damen, daß dies … Nein, ich weiß nicht.

Keine der Damen antwortete; verlegen sahen sie einander an und fragten mit den Augen, was nun zu tun sei. Endlich aber begann eine nach der anderen zu lachen; sie waren schonungslos und lachten laut über das Ganze. Nagel blickte sie der Reihe nach an, seine Augen waren noch blank, offenbar dachte er noch an das Boot mit dem blauen Segel. Seine beiden Hände aber zitterten ein wenig, obgleich das Gesicht ruhig war.

Der Doktor kam ihm zu Hilfe und sagte:

Ja, das ist also eine Art Halluzination, die …

Nein, Verzeihung, erwiderte er. Doch, meinetwegen; übrigens, warum nicht? Es kommt nicht darauf an, wie Sie es nennen. Ich war den ganzen Tag über so wundervoll benommen, gleichgültig ob das nun eine Halluzination ist oder nicht. Es begann schon heute morgen, während ich noch im Bett lag. Ich hörte eine Fliege summen. Dies war meine erste bewußte Empfindung, nachdem ich erwacht war. Danach sah ich die Sonne durch ein Loch im Vorhang hereinsickern, und mit einem Schlag war eine zarte, helle Stimmung in mir entstanden. In meiner Seele war ein Gefühl von Sommer. Stellen Sie sich vor, das weiche Rauschen des Grases zieht durch Ihr Herz. Halluzination – ja, das war es wohl, ich weiß es nicht. Beachten Sie aber, daß ich in einem gewissen Zustand der Empfänglichkeit gewesen sein muß, daß ich die Fliege gerade im richtigen Augenblick hörte, daß ich in diesem Augenblick gerade so viel und gerade diese Art von Licht brauchte, also nur einen Sonnenstrahl, der durch ein kleines Loch im Vorhang fiel, und so weiter. Als ich aber später aufstand und ausging, sah ich erst eine hübsche Dame in einem Fenster – dabei blickte er zu Fräulein Andresen hinüber, die die Augen niederschlug –, dann sah ich eine große Anzahl Schiffe, dann ein kleines Mädchen, das eine Katze in den Armen hielt, und so weiter. Lauter Dinge, von denen jedes einen Eindruck auf mich machte. Kurz darauf ging ich in den Wald, und dort sah ich dann das Boot und den Halbmond, nur indem ich auf dem Rücken lag und in den Himmel hinaufstarrte.

Die Damen lachten immer noch; auch der Doktor schien von ihrem Gekicher angesteckt zu werden, mit einem Lächeln sagte er:

Und dann fischten Sie also mit einer Silberangel.

Ja, mit einer Silberangel.

Hahaha.

Da stieg Dagny Kielland plötzlich das Blut ins Gesicht, und sie sagte:

Ich kann so gut verstehen, daß eine solche Vorstellung … Ich für mein Teil kann deutlich das Boot und das Segel, diesen blauen Halbmond, sehen … und eine weiße Silberangel, die in das Wasser fällt! Ich finde das schön.

Mehr konnte sie nicht sagen, sie stammelte und blieb stecken; sie sah zu Boden.

Nagel befreite sie sofort:

Nicht wahr? Ich sagte auch augenblicklich zu mir selbst: Paß auf, das ist eine Vorbedeutung, eine Warnung. Das soll eine Mahnung sein: Fische mit reinen Angeln, mit reinen Angeln! Sie fragten, Doktor, ob ich spiele? Ich spiele nicht, durchaus nicht; ich schleppe einen Geigenkasten mit mir herum, aber es ist nicht einmal eine Geige darin, der Kasten ist leider voll schmutziger Wäsche. Ich finde nur, es macht sich so gut, einen Geigenkasten unter den Koffern zu haben, deshalb schaffte ich ihn mir an. Ich weiß nicht, ob Sie nun einen schlechten Eindruck von mir haben; aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern, trotzdem es mir wirklich leid täte. Übrigens ist die Silberangel an dem Ganzen schuld.

Die erstaunten Damen lachten nicht mehr; selbst der Doktor, der Bevollmächtigte Reinert – der Hardesvogteibevollmächtigte – und der Adjunkt saßen alle drei mit offenem Munde da. Alle miteinander gafften Nagel an, der Doktor wußte augenscheinlich nicht mehr, was er denken solle. Was in aller Welt war mit diesem wildfremden Menschen los? Nagel selbst setzte sich still nieder und schien nichts mehr sagen zu wollen. Das peinliche Schweigen wollte kein Ende nehmen. Jetzt aber sprang Frau Stenersen ein. Sie war die Liebenswürdigkeit selbst, sie saß da wie eine gute Mutter der ganzen Versammlung und paßte auf, daß keinem ein Leid geschehe. Absichtlich runzelte sie ihre Stirne und machte sich älter, als sie war, nur um ihren Worten ein größeres Gewicht verleihen zu können.

Sie kommen aus dem Ausland, Herr Nagel?

Ja, gnädige Frau.

Aus Helsingfors, glaube ich, sagte mein Mann.

Ja, aus Helsingfors. Das heißt, Helsingfors war mein letzter Aufenthaltsort. Ich bin Agronom, Landwirt, ich habe dort kurze Zeit die Schule besucht.

Pause.

Und wie finden Sie die Stadt? fragte die Dame wieder.

Helsingfors?

Nein, diese hier.

Oh, das ist eine vortreffliche Stadt, ein bezaubernder Ort! Von hier will ich nicht mehr fort, nein, wirklich nicht. Hehe, ja, erschrecken Sie übrigens nur nicht allzusehr, vielleicht gehe ich doch wieder einmal meines Weges, das kommt ganz auf die Umstände an … Übrigens, sagte er dann und stand auf, wenn ich störe, bitte ich vielmals um Entschuldigung. Die Sache ist nämlich die: ich würde sehr glücklich sein, wenn ich hier sitzen und bei Ihnen sein dürfte. Ich habe eigentlich nicht viele Menschen, mit denen ich zusammen sein kann, und bin für alle so fremd, daß ich mir angewöhnt habe, zuviel mit mir selbst zu reden. Es würde mir Freude machen, wenn Sie vollständig übersehen könnten, daß ich mich hier unter Ihnen befinde, und wenn Sie weitersprechen wollten wie vorher – ehe ich kam.

Sie haben sich doch wahrlich schon eine Reihe von Abwechslungen geleistet, sagte Reinert mit gehässiger Betonung.

Darauf antwortete Nagel:

Bei Ihnen, Herr Bevollmächtigter, habe ich mich noch privat zu entschuldigen, und ich will Ihnen jede Genugtuung geben, die Sie verlangen werden; aber nicht jetzt, nicht wahr? Nicht jetzt.

Nein, das gehört nicht hierher, meinte auch Reinert.

Außerdem bin ich heute so froh, fuhr Nagel fort, und ein warmes Lächeln flog über seine Züge. Dieses Lächeln machte sein Gesicht heller, einen Augenblick sah er aus wie ein Kind.

Es ist heute ein wunderbarer Abend, bald werden die Sterne aufleuchten. Überall auf den Höhen brennen Feuer, und vom Hafen her klingen Lieder. Hören Sie nur! es ist nicht so übel. Ich verstehe mich ja nicht darauf; aber ist es nicht ganz schön? Es erinnert mich ein wenig an eine Nacht auf dem Mittelmeer, an der Küste von Tunis. Ungefähr hundert Passagiere waren an Bord, ein Sängerchor, der von Sardinien kam. Ich gehörte nicht zu dieser Gesellschaft und konnte nicht singen. Ich saß nur auf Deck und hörte zu, während der Chor im Salon unten sang. Es dauerte beinahe die ganze Nacht hindurch; niemals werde ich vergessen, wie schön das in der schwülen Nacht klang. Heimlich schloß ich alle Türen zum Salon, schloß den Gesang sozusagen ein, und dann war es, als kämen die Töne vom Meeresgrund herauf, ja, als wolle das Schiff mit brausender Musik in die Ewigkeit einfahren. Stellen Sie sich so etwas Ähnliches vor wie ein Meer voll Gesang, einen unterirdischen Chor.

Fräulein Andresen, die Nagel am nächsten war, sagte unwillkürlich:

Mein Gott, wie herrlich das gewesen sein muß!

Nur einmal habe ich etwas Schöneres gehört, und das war im Traum. Aber es ist lange her, daß ich das träumte, ich war noch ein Kind. Man träumt nicht mehr so schön, wenn man erwachsen ist.

Nicht? meinte die junge Dame.

O nein. Doch ist das natürlich übertrieben, aber … Meines letzten Traumes entsinne ich mich noch ganz deutlich: Ich sah ein offenes Moor … Entschuldigen Sie übrigens, daß ich die ganze Zeit spreche und Sie mit dem Zuhören plage. Das kann auf die Dauer zu langweilig werden. Ich spreche nicht immer so viel.

Nun ergriff Dagny Kielland das Wort und sagte:

Es ist gewiß niemand unter uns, der nicht lieber Ihnen zuhörte, als daß er selbst etwas erzählte. Und indem sie sich zu Frau Stenersen beugte, flüsterte sie: Können nicht Sie ihn dazu bringen? Liebe, tun Sie es doch. Hören Sie doch nur seine Stimme!

Nagel sagte lächelnd:

Ich will ja gerne weiterschwätzen. Im großen und ganzen bin ich heute abend dazu aufgelegt; Gott weiß, was mit mir los ist … Na, der kleine Traum war nun übrigens nichts Besonderes. Ich sah also ein offenes Moor, ohne Bäume, nur mit unendlich vielen Wurzeln, die überall wie seltsam verkrümmte Schlangen dalagen. Zwischen allen diesen verbogenen Baumwurzeln ging ein Wahnsinniger umher. Ich sehe ihn noch, er war bleich und hatte einen dunklen Bart, der Bart aber war so kurz und dünn, daß sein Gesicht überall hindurchschimmerte. Er starrte mit weitgeöffneten Augen um sich, und diese Augen waren voller Leiden. Ich lag hinter einem Stein versteckt und rief ihn an. Sofort sieht er zu dem Stein her, er wundert sich nicht über diesen Ruf. Es war, als wisse er, daß ich gerade dort liege, obwohl ich gut versteckt war. Er starrte immerzu auf den Stein. Ich dachte: Er findet mich trotzdem nicht, und im schlimmsten Fall kann ich davonspringen, wenn er kommt. Und obwohl es mir nicht angenehm war, daß er so zu mir herstarrte, rief ich ihn immer wieder an, um ihn zu ärgern. Er trat ein paar Schritte auf mich zu, hielt den Mund geöffnet und schien beißen zu wollen; aber er kam nicht vom Fleck. Die Wurzeln häuften sich vor ihm auf, er wurde ganz erdrückt von ihnen und kam nicht von der Stelle. Ich rief wieder; rief oftmals hintereinander und wollte ihn recht ärgern, ihn ganz wild machen, und er fing an, sich durch die Wurzeln durchzuarbeiten und sie wegzuschieben. Armweise warf er sie beiseite und kämpfte heftig, um zu mir herzukommen; aber es war vergebens. Ich konnte hören, wie er stöhnte, seine Augen waren ganz starr vor Schmerz. Als ich aber sah, daß ich vor ihm ganz sicher war, stand ich auf, schwang die Mütze, zeigte ihm meine ganze Gestalt und reizte ihn, indem ich unablässig hallo! rief, auf den Boden stampfte und hallo! rief. Ich ging sogar noch näher an ihn heran, um ihn noch blutiger zu reizen, streckte die Finger aus und deutete auf ihn und rief in schändlicher Nähe seines Ohres hallo!, um ihn, wenn möglich, noch mehr aus der Fassung zu bringen. Dann ging ich wieder zurück, ließ ihn stehen und sehen, daß ich ihm so nahe gewesen war. Aber noch gab er nicht alles auf, immer noch kämpfte er mit den Wurzeln, versuchte erbittert, sie loszuwerden, riß sich blutig, schlug sich ins Gesicht, erhob sich auf die Zehen und schrie zu mir herüber. Ja, stellen Sie sich das vor; er stand auf den Zehen, sah mich an und schrie! Und sein Gesicht troff von Schweiß und war von einem fürchterlichen Schmerz verzogen, weil er mich nicht erreichen konnte. Ich wollte ihn noch weiter treiben, ging noch näher hin, knipste dicht vor seiner Nase mit den Fingern und sagte mit dem grausamsten Hohn Tihihihihi. Ich schleuderte eine Baumwurzel nach ihm, traf ihn an der Oberlippe, und es glückte mir, ihn beinahe zum Umfallen zu bringen. Aber er spuckte nur das Blut aus und griff sich an den Mund und fing wieder an, mit den Wurzeln zu kämpfen. Da meinte ich, es wagen zu können, und streckte die Hand aus, um ihn zu erreichen. Ich wollte den Finger auf seine Stirn setzen und mich dann wieder zurückziehen. Aber in diesem Augenblick bekam er mich zu fassen. Herrgott, wie entsetzlich war es, als er mich packte! Wütend griff er nach mir und hielt mich an der Hand fest. Ich stieß einen Schrei aus; doch er ließ meine Hand nicht mehr los. Und dann folgte er mir. Wir verließen das Moor, die Baumwurzeln waren nun, da er sich an meiner Hand festhielt, kein Hindernis mehr für ihn, und wir kamen an den Stein, hinter dem ich mich zuerst versteckt gehalten hatte. Als wir so weit gekommen waren, warf sich der Mann vor mir nieder und küßte die Erde dort, wo mein Fuß sie berührt hatte. Blutig und zerrissen lag er vor mir auf den Knien und dankte mir, weil ich so gut gegen ihn gewesen sei. Er segnete mich und bat auch Gott, mich zum Lohn zu segnen. Seine Augen waren offen und voll guter Gebete zu Gott für mich, und er küßte abermals, nicht meine Hand noch meinen Schuh, sondern die Erde, die mein Fuß berührt hatte. Ich fragte: Warum küssest du die Erde gerade dort, wo ich gegangen bin? – Weil, sagte er, weil mein Mund blutet und ich deine Schuhe nicht beschmutzen will. – Er wollte meine Schuhe nicht beschmutzen! – Dann fragte ich wieder: Aber warum dankst du mir, da ich dir doch nur Böses getan und dir Schmerz bereitet habe? – Ich danke dir, antwortete er, weil du mir nicht noch mehr Schmerz bereitet hast, weil du gut warst gegen mich und mich nicht noch mehr gemartert hast. – Ja, sagte ich da, weshalb aber schriest du mir zu und machtest den Mund auf, mich zu beißen? – Ich wollte dich nicht beißen, antwortete er, ich öffnete den Mund, dich um Hilfe zu bitten; aber ich brachte kein Wort heraus, und du verstandest mich nicht. Da aber schrie ich vor wirklich großem Leiden. – Deshalb schriest du? fragte ich wieder. – Ja, deshalb! … Ich betrachtete den Wahnsinnigen, er spuckte noch Blut und betete trotzdem für mich zu Gott. Ich sah, daß ich ihm früher schon begegnet war, und daß ich ihn kannte; er war noch nicht alt, hatte graue Haare und einen dünnen, kläglichen Bart – es war Minute.

Nagel schwieg. Durch die Anwesenden ging ein Ruck. Der Bevollmächtigte Reinert schlug die Augen nieder und sah lange Zeit zu Boden.

Minute? War er es? fragte Frau Stenersen.

Ja, er war es, antwortete Nagel.

Uff, mir wird beinahe unheimlich zumute.

Denken Sie, ich wußte es! sagte Dagny Kielland plötzlich. – Ich erkannte ihn von dem Augenblick an, als Sie sagten, daß er niederkniete und die Erde küßte. Ich versichere Ihnen, ich erkannte ihn wieder. Haben Sie schon einmal mit ihm gesprochen?

Ach nein, ich habe ihn nur ein paarmal getroffen … Aber hören Sie, es scheint, ich habe die Stimmung verdorben. Gnädige Frau, Sie sind ja ganz bleich! Was in aller Welt … es war ja nur ein Traum!

Ja, das geht doch nicht! meinte auch der Doktor. Zum Teufel, was kümmert es uns, daß Minute … Meinetwegen mag er jede Baumwurzel in Norwegen küssen. Seht, jetzt sitzt sogar Fräulein Andresen da und weint. Hahaha.

Ich weine durchaus nicht, antwortete sie; fällt mir gar nicht ein. Aber ich will gerne zugeben, daß dieser Traum Eindruck auf mich gemacht hat. Und ich glaube, das war übrigens auch bei Ihnen der Fall.

Bei mir! rief der Doktor. Nicht im geringsten, selbstverständlich! Hahaha, ich glaube, ihr seid alle miteinander verrückt. Nein, jetzt wollen wir ein wenig bummeln. Auf, alle Mann! Es fängt an, windig zu werden. Frierst du, Jetta?

Nein, ich friere nicht, wollen wir nicht lieber sitzenbleiben? antwortete seine Frau.

Aber jetzt hatte der Doktor sich einmal vorgenommen zu bummeln; er wollte absolut bummeln. Es sei windig, sagte er noch einmal. Er wollte sich ein wenig Bewegung verschaffen, und wenn er allein gehen müsse. Da erhob sich Nagel und folgte ihm.

Sie gingen einige Male auf dem Kai auf und ab, schoben sich durch die Menschenmassen, schwätzten und beantworteten die Grüße der Leute. So gingen sie vielleicht eine halbe Stunde miteinander hin und her, dann rief Frau Stenersen ihnen zu:

Nein, Jetzt kommt wieder einmal her! – Wißt ihr, was wir herausgefunden haben, während ihr fort wart? Ja, wir haben für morgen abend eine große Gesellschaft bei uns verabredet. Ja, auch Sie, Herr Nagel, müssen unbedingt kommen! Nur dürfen Sie sich unter einer großen Gesellschaft bei uns nichts anderes vorstellen als ein Mindestmaß an Essen und Trinken …

Und ein Höchstmaß an Unsinntreiben, unterbrach der Doktor lebhaft. Das kenne ich. Na, das ist kein so schlechter Einfall; ich habe schon Schlimmeres aus deinem Munde vernommen, Jetta. – Der Doktor war mit einem Mal guter Laune und lachte bei der Aussicht auf diesen Abend gutmütig über das ganze Gesicht. – Kommen Sie nur nicht zu spät, sagte er. Und hoffentlich werde ich nicht fortgeholt.

Aber kann ich denn in diesem Anzug kommen? fragte Nagel. Ich habe keinen andern.

Alle lachten, und Frau Stenersen antwortete:

Freilich. Das ist ja gerade lustig.

Auf dem Heimweg ging Nagel neben Fräulein Dagny Kielland. Er hatte es nicht angestrebt, es geschah ganz zufällig; und die junge Dame gab sich keine Mühe, es zu verhindern. Eben hatte sie gesagt, daß sie sich schon auf morgen abend freue, es sei immer so gemütlich und frei bei Doktors, sie seien so ausgezeichnete Menschen, sie verstünden es so nett zu machen – da sagte Nagel plötzlich mit leiser Stimme:

Darf ich zu hoffen wagen, gnädiges Fräulein, daß Sie mir meine fürchterliche Dummheit von letzthin im Walde vergeben haben?

Er sprach heftig, beinah flüsternd, und sie war gezwungen zu antworten.

Ja, sagte sie, denn jetzt verstehe ich Ihr Betragen an jenem Abend besser. Sie sind gewiß nicht ganz so wie andere Menschen.

Danke! flüsterte er. Ach ja, ich danke Ihnen, wie ich noch niemals in meinem Leben jemand gedankt habe! Aber warum sollte ich nicht wie andere Menschen sein? Sie müssen wissen, gnädiges Fräulein, daß ich mich den ganzen Abend angestrengt habe, den Eindruck, den Sie zuerst von mir bekommen haben mußten, zu mildern. Ich habe nicht ein Wort gesagt, das nicht um Ihretwillen gesagt worden wäre. Was meinen Sie dazu? Bedenken Sie, ich hatte mich Ihnen gegenüber stark vergangen und mußte deshalb etwas tun. Ich bekenne, daß ich mich wahrhaftig den ganzen Tag über in einer etwas ungewöhnlichen Gemütsbewegung befunden hatte; aber ich habe mich doch noch reichlich schlechter gemacht, als ich bin, und mich beinahe die ganze Zeit ein wenig verdächtig betragen. Es kam mir nämlich darauf an, Sie glauben zu machen, ich sei wirklich nicht ganz normal, ich beginge überhaupt bizarre Dinge. Auf diese Weise hoffte ich, Ihre Verzeihung um so leichter erlangen zu können. Darum drängte ich mich auch zu unrechter Zeit und Stunde mit meinen Träumen auf, ja, ich habe mir sogar mit dem Geigenkasten eine starke Blöße gegeben, habe freiwillig eine Grille von mir entschleiert, wozu ich nicht gezwungen gewesen wäre …

Entschuldigen Sie! unterbrach sie ihn hastig, aber warum erzählen Sie mir jetzt dies alles und verderben das Ganze wieder?

Nein, ich verderbe es nicht. Wenn ich Ihnen erzähle, daß ich damals im Walde wirklich einem bösen Einfall nachgab und Ihnen nachlief, so werden Sie das verstehen. Es war nur ein plötzlicher Drang in mir, Sie zu erschrecken, weil Sie so davonliefen. Ja, damals kannte ich Sie ja nicht. Wenn ich aber jetzt erzähle, daß ich genau so bin wie andere Menschen, so werden Sie auch das verstehen. Ich habe mich heute abend lächerlich gemacht und eine ganze Gesellschaft durch ein höchst exzentrisches Auftreten in Erstaunen versetzt, nur um Sie einigermaßen zu besänftigen, nur um Sie dazu zu bringen, mich auf jeden Fall anzuhören, wenn ich mich erklären würde. Dies habe ich erreicht, Sie haben mich angehört und alles verstanden.

Nein, ich muß offen sagen, daß ich Sie nicht ganz verstehe. Und dabei kann es auch ruhig bleiben; ich werde nicht darüber nachgrübeln …

Nein, natürlich nicht; warum sollten Sie auch über diese Frage nachdenken? Aber nicht wahr, diese Gesellschaft morgen abend wurde beschlossen, weil Sie alle miteinander glauben, ich sei ein ungewöhnlicher Mensch, von dem man sich etliche Sonderbarkeiten erwarten könne? Ich werde Sie vielleicht enttäuschen, vielleicht sage ich ha und ja, vielleicht komme ich überhaupt nicht. Was weiß ich!

Doch, Sie müssen natürlich kommen.

Muß ich? entgegnete er und sah sie an.

Sie sagte nichts mehr. Immer noch gingen sie nebeneinander her.

Sie waren am Weg zum Pfarrhof angelangt. Fräulein Kielland blieb stehen, brach in Lachen aus und sagte:

Nein, so etwas habe ich auch noch nie gehört! – Und sie schüttelte den Kopf.

Sie wartete auf die übrige Gesellschaft, die zurückgeblieben war. Er wollte fragen, ob er sie heimbegleiten dürfe, er war nahe daran, dies zu wagen; aber in diesem Augenblick wandte sie sich von ihm ab und rief zum Adjunkten zurück:

Kommen Sie nun, Adjunkt, kommen Sie nun! – Und sie winkte dazu eifrig mit der Hand, damit er sich mehr beeile.


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