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16

Der Donnerstag kam, es regnete ein wenig, aber am Abend wurde der Basar trotzdem mit voller Musik und unter größtem Andrang eröffnet. Die ganze Stadt war gekommen, sogar vom Land waren die Leute hergereist, um an diesem seltenen Vergnügen teilzunehmen.

Als Johan Nagel gegen neun Uhr in den Festsaal trat, war das Haus voll. Er suchte sich in der Nähe der Türe einen Platz, blieb dort einige Minuten stehen und hörte einer Rede zu. Er war bleich und hatte wie immer seinen gelben Anzug an; aber die Binde an der Hand hatte er abgenommen, die beiden Wunden waren fast geheilt.

Oben bei der Tribüne sah er Doktor Stenersen und Frau; ein wenig rechts von ihnen stand auch Minute, zusammen mit den übrigen Mitwirkenden in den lebenden Bildern, aber Dagny war nicht dort.

Die Hitze von den Kerzen und alle diese zusammengepferchten Menschen vertrieben ihn bald aus dem Saal. In der Türe traf er den Bevollmächtigten Reinert, den er grüßte, von dem er aber kaum ein kleines Nicken zur Antwort erhielt. Auf dem Gang blieb er stehen.

Da entdeckte er etwas, das seine Neugierde erregte und noch lange Zeit später seine Gedanken beschäftigte: links von ihm steht die Türe zu einem Nebenzimmer offen, in dem das Publikum die Überkleider abgelegt hatte, und im Lampenlicht erkennt er deutlich Dagny Kielland, die dort steht und an seinem Mantel, den er an einen Haken gehängt hat, herumtastet. Er irrte sich nicht, es gab sonst niemand in der Stadt, der einen so gelben Frühjahrsmantel besaß; es war wirklich sein Mantel, außerdem erinnerte er sich genau, wo er ihn hingehängt hatte. Sie tat sonst nichts, sie schien etwas zu suchen und benützte gleichzeitig die Gelegenheit, mit der Hand immer wieder über seinen Mantel zu streichen. Sofort wandte er sich ab, um sie nicht zu überraschen.

Dieses kleine Ereignis versetzte ihn augenblicklich in Unruhe. Wonach suchte sie, und was hatte sie mit seinem Mantel zu schaffen? Die ganze Zeit dachte er darüber nach und konnte es nicht vergessen. Gott weiß, vielleicht hatte sie untersuchen wollen, ob er eine Schußwaffe in der Tasche habe; sie hielt ihn wohl in seiner Verrücktheit zu allem fähig. Aber nehmen wir an, sie habe ihm einen Brief zugesteckt. Er brachte es wirklich fertig, sich auch diese glatte Unmöglichkeit auszudenken. Nein, nein, sicher hatte sie nur nach ihrem Umhang gesucht, das Ganze war ein Zufall; wie konnte er so hoffnungslose Einbildungen hegen! … Als er jedoch ein wenig später sah, wie Dagny sich den Weg in den Saal hinein bahnte, ging er sofort hinaus und durchsuchte klopfenden Herzens seine Manteltaschen. Kein Brief war da, nichts, nur seine eigenen Handschuhe und das Taschentuch.

Im Saal brach ein Klatschen los, die Eröffnungsrede des Stadtvogtes war zu Ende. Und jetzt strömte das Publikum in die Gänge hinaus, in die Seitenzimmer, in allerlei luftige Räume, wo man sich an den Wänden niederließ und Erfrischungen zu sich nahm. Als Servierfräulein gekleidet, mit weißer Schürze und Serviette unter dem Arm, liefen mehrere junge Damen der Stadt umher und bedienten die Gäste.

Nagel suchte Dagny; sie war nirgends zu sehen. Er begrüßte Fräulein Andresen, die ebenfalls eine weiße Schürze trug, bat um Wein, und sie brachte ihm Champagner.

Verdutzt sah er sie an.

Sie trinken ja doch nichts anderes, sagte sie lächelnd.

Diese kleine boshafte Aufmerksamkeit machte ihn aber doch lebhafter, als er vorher gewesen war. Er bat sie, ein Glas mitzutrinken, und sie setzte sich wirklich sofort hin, obwohl sie es höchst eilig hatte. Er dankte ihr für ihre Liebenswürdigkeit, machte ihr ein Kompliment über ihre Tracht, war entzückt über eine alte Filigranbrosche, die sie in ihrem Halstuch trug. Sie nahm sich gut aus; das lange aristokratische Gesicht mit der großen Nase war sehr fein, beinahe krankhaft fein, und es wechselte nicht, machte keine nervösen Bewegungen. Sie sprach mit beherrschter Ruhe, man hatte in ihrer Gesellschaft ein Gefühl der Sicherheit: das ist die Dame, die Frau.

Als sie sich erhob, sagte er:

Es wird heute abend jemand hier sein, dem ich so gerne eine kleine Aufmerksamkeit erweisen möchte. Fräulein Gude, Martha Gude. Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen. Ich hörte, sie sei hergekommen. Ich kann nicht sagen, wie gerne ich sie auf irgendeine Weise erfreuen möchte; sie ist so einsam, Minute hat mir einiges von ihr erzählt. Glauben Sie wohl, gnädiges Fräulein, daß ich sie bitten dürfte, sich zu uns zu setzen? Ja, natürlich nur, wenn Sie selbst nichts dagegen haben.

Nein, weit, weit entfernt! antwortet Fräulein Andresen; ich werde sie mit Vergnügen jetzt gleich holen. Ich weiß, wo sie sitzt.

Aber kommen Sie selbst auch wieder zurück?

Ja, danke!

Während Nagel nun dasitzt und wartet, kommen der Bevollmächtigte Reinert, der Adjunkt und Dagny herein. Nagel steht auf und grüßt. Dagny war bleich, trotz der Hitze; sie hatte ein gelbliches Kleid mit kurzen Ärmeln an und um den Hals eine dicke Goldkette, die zu schwer und äußerst unkleidsam war. Einen Augenblick blieb Dagny an der Türe stehen; sie hielt die eine Hand auf dem Rücken und tastete an ihrem Zopf herum.

Nagel ging zu ihr hin. Mit wenigen, leidenschaftlichen Worten bat er sie, ihm seine großen Vergehen vom Freitag zu verzeihen; es sollten die letzten, die allerletzten gewesen sein, nie wieder sollte sie einen Grund haben, ihm etwas zu verzeihen. Er sprach leise, sagte die Worte, die gesagt werden mußten, und hielt inne.

Sie hörte ihm zu, sah ihn sogar an, und als er fertig war, erwiderte sie:

Ich weiß beinahe nicht mehr, wovon Sie sprechen, ich habe es vergessen, ich will es vergessen.

Damit ging sie. Sie hatte ihn sehr gleichgültig angesehen.

Überall hörte man das Summen der Menschen, das Klirren von Tassen und Gläsern, das Knallen von Korken, Gelächter, Rufe, und vom Saal die übliche Blechmusikkapelle, die so schrecklich schlecht blies …

Als Fräulein Andresen und Martha hereinkamen, folgte auch Minute mit; sie setzten sich alle an Nagels Tisch und blieben dort eine Viertelstunde lang sitzen. Hie und da bediente Fräulein Andresen die Leute, die nach Kaffee riefen; schließlich blieb sie ganz fort, sie wurde zu sehr in Anspruch genommen.

Jetzt folgten die verschiedenen Nummern des Programms: ein Quartett sang; der Student Öien deklamierte mit starker Stimme ein eigenes Gedicht, zwei Damen spielten Klavier, und der Organist gab sein erstes Violinsolo. Dagny saß beständig mit den beiden Herren zusammen. Schließlich kam ein Bote zu Minute: er mußte verschiedenes besorgen, mehr Gläser, mehr Tassen, mehr belegte Brote sollten herbeigeschafft werden, alles war zu knapp für diese Menschenmasse, diese Menschenmasse einer Kleinstadt, berechnet worden.

Als Nagel mit Martha allein blieb, stand auch sie auf und wollte gehen. Sie könne nicht allein hier sitzenbleiben, sie habe gesehen, wie der Bevollmächtigte schon seine Bemerkungen gemacht und Fräulein Kielland darüber gelacht habe. Nein, es wäre am besten, sie ginge.

Aber Nagel überredete sie, auf jeden Fall noch ein kleines Glas zu trinken. Martha war in Schwarz; das neue Kleid saß hübsch, aber es stand ihr nicht, es machte das sonderbar aussehende Mädchen älter und stach gegen ihr weißes Haar zu sehr ab. Nur die Augen glühten stark, und wenn sie lachte, wurde dieses feurige Antlitz ganz lebendig.

Er fragte:

Gefällt es Ihnen hier nun auch? Geht es Ihnen heute abend gut?

Ja, danke! antwortete sie, es geht mir gut.

Er unterhielt sich unaufhörlich mit ihr, paßte sich ihr an, erzählte ihr eine Geschichte, über die sie sehr lachen mußte, schilderte, wie er in den Besitz einer seiner teuersten Kuhglocken gekommen war, einer Kostbarkeit, einer unschätzbaren Antiquität! Es war der Name einer Kuh eingraviert, die Kuh hieß noch dazu Öistein, so daß sie also bestimmt ein Stier gewesen sein mußte …

Hier begann sie auf einmal zu lachen. Sie vergaß sich selbst, vergaß, wo sie war, schüttelte den Kopf und lachte wie ein Kind über diesen armseligen Scherz. Sie strahlte geradezu.

Denken Sie, sagte er, ich glaube, Minute war eifersüchtig.

Nein, erwiderte sie zögernd.

Ich bekam diesen Eindruck. Im übrigen will ich ja auch am liebsten allein mit Ihnen hier sitzen. Es ist so hübsch, Sie lachen zu hören.

Sie antwortete nicht, sah nur nieder.

Und sie sprachen weiter. Er saß die ganze Zeit so, daß er zu Dagnys Tisch hinsehen konnte.

Einige Minuten vergingen. Fräulein Andresen kam für einen Augenblick zurück, sprach ein paar Worte, trank aus ihrem Glas und ging wieder.

Jetzt verließ Dagny plötzlich ihren Platz und kam an Nagels Tisch.

Wie lustig Sie hier sind! sagte sie, und ihre Stimme bebte ein wenig. Guten Abend, Martha! Worüber wird denn hier so gelacht?

Wir unterhalten uns großartig, antwortete Nagel. Ich schwätze darauflos, und Fräulein Gude ist so nachsichtig mit mir und lacht immer … Dürfen wir Ihnen vielleicht ein Glas Sekt anbieten?

Dagny setzte sich.

Ein ungewöhnlich starker Beifallssturm im Saal gab Martha Anlaß aufzustehen und zu sehen, was da vorging. Sie entfernte sich immer weiter; schließlich rief sie zurück: Ein Zauberkünstler ist da, das muß ich sehen! Dann ging sie.

Pause.

Sie haben Ihre Gesellschaft verlassen, sagte Nagel, und er hätte mehr gesagt, wenn Dagny ihn nicht sofort unterbrochen hätte:

Und Ihre Gesellschaft hat Sie verlassen.

Ach, sie kommt schon wieder zurück. Sieht Fräulein Gude nicht merkwürdig aus? Heute abend ist sie froh wie ein Kind.

Dagny antwortete nichts darauf, sie fragte:

Sie waren eine Zeitlang fort?

Ja.

Wieder entstand eine Pause.

Finden Sie es heute abend hier wirklich so nett?

Ich? Ich weiß gar nicht einmal, was vorgeht, erwiderte er. Ich bin nicht hierhergekommen, um mich zu unterhalten.

Und wozu sind Sie dann hierhergekommen?

Um Sie wiedersehen zu können, natürlich. Ja, natürlich nur aus der Entfernung, stumm …

Ach. Und zu diesem Zweck nehmen Sie eine Dame mit?

Das verstand er nicht. Er sah sie an und dachte nach.

Meinen Sie Fräulein Gude? Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Man hat mir so viel von ihr erzählt. Jahr für Jahr sitzt sie allein zu Hause, ganz und gar freudlos. Ich habe sie nicht mitgebracht, ich wollte sie hier nur ein wenig unterhalten, damit sie sich nicht langweilen solle, das ist alles. Fräulein Andresen holte sie an unsern Tisch. Gott, wie schlecht es dieser Frau geht, ihr Haar ist auch ganz schön weiß …

Ja, Sie glauben doch wohl nicht … Sie bilden sich doch wohl nicht ein, ich sei eifersüchtig; oder? Sie irren sich! Ja, ich erinnerte mich, was Sie von einem verrückten Mann erzählten, der in vierundzwanzig Wagen fuhr; der Mann s – stotterte, wie Sie sagten, und er verliebte sich in ein Mädchen, das Klara hieß. O ja, ich erinnere mich ganz deutlich. Und obwohl Klara nichts mit ihm zu schaffen haben wollte, duldete sie doch auch nicht, daß ihre bucklige Schwester ihn bekam. Ich weiß nicht, warum Sie mir das erzählten, das werden Sie selbst am besten wissen, mir ist es gleichgültig. Aber eifersüchtig werden Sie mich doch nicht machen, wenn das vielleicht Ihre Absicht sein sollte. Nein, weder Sie noch Ihr Mann, der s – stotterte!

Aber guter Gott! rief er, das kann doch nicht Ihr Ernst sein.

Schweigen.

Doch, antwortete sie.

Sie meinen, ich würde mich so benehmen, wenn ich Sie eifersüchtig machen wollte? Mit einer vierzigjährigen Dame hierherkommen, sie fortgehen lassen, sowie Sie erscheinen, – Sie müssen ja glauben, ich sei dumm.

Ich weiß durchaus nicht, was Sie sind, ich weiß nur, daß Sie sich bei mir eingeschlichen und mir die peinlichsten Stunden meines Lebens bereitet haben und daß ich mich nun selbst nicht mehr verstehe. Ich weiß nicht, ob Sie dumm sind, ich weiß auch nicht, ob Sie verrückt sind; das will ich gar nicht herausfinden, mir ist es ganz gleichgültig, was Sie sind.

Ja, das ist es wohl, sagte er.

Warum sollte es mir auch nicht gleichgültig sein? fuhr sie fort, durch seine Nachgiebigkeit gereizt. Was, in aller Welt, habe ich mit Ihnen zu schaffen? Sie haben sich mir gegenüber schlecht betragen, und nun soll ich mich wohl obendrein noch mit Ihnen beschäftigen? Trotzdem erzählen Sie mir eine Geschichte voll von Andeutungen. Ich bin sicher, daß Sie mir das von Klara und deren Schwester nicht ohne Grund erzählten, nein, ganz gewiß nicht. Aber warum verfolgen Sie mich? Ich meine nicht jetzt, in diesem Augenblick, jetzt habe ich Sie ja aufgesucht; aber sonst, warum lassen Sie mich sonst nicht in Frieden? Und daß ich mich jetzt eine Minute hier aufgehalten habe und ein paar Worte mit Ihnen spreche, das legen Sie mir sicher so aus, als sei es mir sehr darum zu tun – als sei mir sehr viel daran gelegen …

Liebes Fräulein Kielland, ich bilde mir nichts ein.

Nicht? Aber ich weiß gar nicht, ob Sie die Wahrheit sagen, nein, das weiß ich nicht. Ich zweifle an Ihnen, ich mißtraue Ihnen und halte Sie für fähig – beinahe hätte ich gesagt: alles mögliche zu tun. Es kann gut sein, daß ich jetzt ungerecht gegen Sie bin, aber einmal habe doch wohl auch ich das Recht, Ihnen weh zu tun. Ich bin aller Ihrer Andeutungen und Pläne so müde …

Er antwortete nichts, drehte sein Glas langsam auf dem Tisch. Als sie aber wiederholte, sie glaube ihm nicht, antwortete er nur:

Ja, das verdiene ich auch so.

Ja, fuhr sie fort, und ich glaube Ihnen auch fast gar nichts mehr. Sogar Ihre breiten Schultern kamen mir verdächtig vor, ich dachte, daß sie aus Watte sein könnten. Ich gestehe offen ein, daß ich vorhin in dem Zimmer dort Ihren Mantel untersuchte, ob die Schultern nicht ausgestopft seien. Und obwohl ich im Unrecht war und mit Ihren Schultern alles in Ordnung ist, bin ich doch mißtrauisch, ich kann mir nicht helfen. Zum Beispiel würden Sie, da Sie nicht besonders groß sind, ohne Zweifel gerne irgendein Mittel benützen, sich ein paar Zoll größer zu machen, als Sie sind. Ich glaube bestimmt, Sie würden das tun, wenn es ein solches Mittel gäbe. Du guter Gott, muß man denn nicht mißtrauisch gegen Sie werden? Wer sind Sie eigentlich? Und warum sind Sie in diese Stadt gekommen? Sie sind ja nicht einmal unter Ihrem eigenen Namen hier. Sie heißen ja eigentlich Simonsen, recht und schlecht Simonsen! Das habe ich durch das Hotel gehört. Eine Dame soll Sie besucht haben, die Sie kannte und die Sie Simonsen anredete, ehe Sie es verhindern konnten. Gott, wie lächerlich und schlecht ist auch das! In der Stadt erzählt man, daß Sie sich damit belustigen, kleinen Jungens Zigarren zu schenken, und daß Sie einen Skandal nach dem anderen auf der Straße hervorrufen. So sollen Sie ein Dienstmädchen, das Sie eines Tages auf dem Marktplatz trafen, gefragt haben –, ja in Gegenwart vieler Menschen nach etwas gefragt haben. Aber trotz alledem finden Sie es ganz in Ordnung, mir Erklärungen zu machen und immer wieder meinen Weg zu kreuzen und … Es peinigt mich so unsäglich, daß Sie den Mut haben, zu wagen …

Sie hielt inne. Ein Zucken um die Lippen verriet ihre Bewegung, jedes Wort, das sie sprach, war heftig und erregt, sie glaubte selbst an das, was sie sagte, und nahm sich kein Blatt vor den Mund. Es entstand eine kleine Pause, dann antwortete er:

Ja, Sie haben recht, ich habe Sie viel geplagt … es ist klar, wenn man einen Monat lang Tag für Tag jemand beobachtet, sich all seine Worte und alles, was er tut, merkt, so findet man irgend etwas, an das man sich einhängen kann. Ein wenig Unrecht kann man einem ja tun, aber das macht nicht viel, das gebe ich zu. Die Stadt hier ist nicht groß, ich falle in die Augen, man stolpert über mich; wenn ich in Sicht komme, sind aller Blicke auf jeden meiner Finger gerichtet. Das ist nicht zu vermeiden. Und ich bin ja schließlich auch nicht so, wie ich sein sollte.

Du lieber Gott! sagte sie kurz und scharf, natürlich beachtet man Sie nur deshalb so sehr, weil die Stadt so klein ist, das ist selbstverständlich. In einer größeren Stadt würden Sie ja nicht der einzige ein, der die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen würde.

Diese kalte und treffende Antwort weckte zuerst seine rückhaltlose Bewunderung. Er war schon im Begriff, dies durch irgendeine Artigkeit zum Ausdruck zu bringen, besann sich aber. Sie war zu erregt, zu sehr gegen ihn eingenommen, und erkannte außerdem wahrscheinlich seine Bedeutung allzu wenig an. Das verletzte ihn. Was war er nun also in ihren Augen? Ein ganz gewöhnlicher, fremder Mann in einer kleinen Stadt, ein Mann, der nur deswegen beachtet wurde, weil er ein Fremder in dieser Stadt war und einen gelben Anzug trug. Ein wenig bitter meinte er:

Aber erzählt man denn nicht auch, daß ich einmal einen unzüchtigen Vers auf einen Grabstein geschrieben habe, auf Mina Meeks Grabstein? Hat das noch keiner gesagt? Es ist ja wahr, ja, das ist es. Es ist auch wahr, daß ich in der Apotheke dieser Stadt, dieser selben Stadt, gewesen bin und Medikamente gegen eine ekelhafte Krankheit, deren Namen ich auf ein Papier niedergeschrieben hatte, verlangt habe, daß ich aber diese Medikamente nicht bekommen konnte, weil ich kein Rezept hatte. Und, weil es mir gerade einfällt: hat Minute Ihnen nicht erzählt, daß ich ihn einmal mit zweihundert Kronen bestechen wollte, an meiner Stelle die Vaterschaft bei einem Kinde zu übernehmen? Das ist auch die reine Wahrheit, Minute kann es selbst bezeugen. Ach, ich könnte sicher noch vieles hinzufügen …

Nein, das ist nicht nötig, es ist schon genug, antwortete sie trotzig. Und während ihre Augen kalt und hart wurden, erinnerte sie ihn an die falschen Telegramme, an den Reichtum, den er mit diesen vorgespiegelt hatte, an den Geigenkasten, mit dem er herumzog, obwohl er keine Geige hatte und auch nicht spielen konnte, erinnerte ihn an eine Sache nach der andern, an alle seine Betrügereien, sogar an die Rettungsmedaille, die er, seinem eigenen Geständnis zufolge, auch nicht auf die ehrlichste Weise erworben hätte. Sie dachte an alles und schonte ihn nicht; jede Kleinigkeit erhielt in diesem Augenblick Bedeutung für sie, und sie ließ ihn merken, daß sie von allen diesen schlimmen Streichen, von denen sie früher geglaubt hatte, sie seien nur erlogen, nun annehme, er habe sie wirklich begangen. Ja, er war ganz sicher ein frecher und zweideutiger Mensch! – Und unter diesen Umständen, sagte sie, versuchen Sie trotzdem, mich zu überrumpeln und mich unruhig zu machen, und wollen mich dazu bringen, Torheiten mit Ihnen zu begehen. Sie schämen sich nicht, Sie haben kein Herz für andere, nur für sich selbst, Sie reden und reden nur von sich …

In diesem Augenblick wurde sie von Doktor Stenersen unterbrochen, der mit den Armen fuchtelnd vom Saal hereinkam und sehr beschäftigt war. Er hatte mit dem Basar zu tun und legte sich tüchtig ins Zeug.

Guten Abend, Herr Nagel! rief er. Schönen Dank für neulich! Das war ein wilder Abend letzthin … Ach, hören Sie, Fräulein Kielland, Sie müssen sich bereit halten, wir werden gleich die lebenden Bilder stellen.

Damit verschwand der Doktor wieder.

Abermals wurde ein Musikstück gespielt, und es entstand Unruhe im Saal. Dagny beugte sich vor und sah durch die Türe, dann wandte sie sich wieder zu Nagel und sagte:

Jetzt kommt Martha zurück.

Pause.

Hören Sie nicht, was ich sage?

Doch, entgegnete er geistesabwesend. Er sah nicht auf, drehte nur immer noch das volle Glas, ohne daraus zu trinken, und beugte den Kopf beinahe bis auf den Tisch hinunter.

Spottend sagte sie: Jetzt wird wieder gespielt. Nicht wahr, wenn man solche Musik hört, dann möchte man am liebsten in einem kleinen Abstand davon sitzen, in einem Seitenzimmer, die Hand der Geliebten in der seinen, – sagten Sie nicht einmal so? Ich glaube, es ist genau der gleiche Walzer von Lanner, und wenn Martha jetzt kommt …

Nun aber schien sie auf einmal ihre Bosheit zu bereuen, sie schwieg plötzlich, ein Funkeln schoß in ihren Augen auf, und nervös rückte sie tiefer in ihren Stuhl zurück. Er saß immer noch, mit gebeugtem Kopf da, sie sah nur, wie seine Brust kurz und unregelmäßig atmete. Sie stand auf, nahm ihr Glas und wollte gerade etwas sagen, ein paar freundliche Worte zum Abschied, die ihm nicht wehtun sollten, sie begann auch:

Ja, jetzt muß ich gehen.

Da sah er schnell zu ihr auf, erhob sich ebenfalls und nahm sein Glas. Sie tranken beide schweigend. Er zwang sich, nicht mit der Hand zu zittern, sie konnte sehen, daß er um Fassung rang. Und dieser Mann, von dem sie eben geglaubt hatte, sie habe ihn vernichtet, durch ihren Spott zerschmettert, sagt plötzlich ganz höflich und gleichgültig:

Da fällt mir eben ein, gnädiges Fräulein, möchten Sie so freundlich sein … ich sehe Sie ja wohl nicht mehr … möchten Sie so freundlich sein und einmal, bei Gelegenheit, wenn Sie an Ihren Verlobten schreiben, ihn an die beiden Hemden erinnern, die er Minute seinerzeit versprochen hat, vor zwei Jahren. Ich bitte Sie, es zu verzeihen, daß ich mich in etwas einmische, was mich ja nichts angeht, ich tue es auch nur Minute zulieb. Ich hoffe, Sie entschuldigen meine Kühnheit. Sagen Sie, es seien zwei Wollhemden, dann erinnert er sich sicher daran.

Einen Augenblick war sie vollständig überrascht, ihr Mund stand offen, und sie sah ihn an, fand keine Worte und vergaß sogar, das Glas auf den Tisch zu stellen. Das dauerte eine ganze Minute. Dann aber faßte sie sich wieder, warf ihm einen wütenden Blick zu, voll des Aufruhrs, den sie in sich fühlte, in ihren Augen stand eine vernichtende Antwort, und sie wandte ihm plötzlich den Rücken. Als sie ging, stellte sie das Glas hart auf einen Tisch neben der Türe. Sie verschwand im Saal.

Sie schien gar nicht mehr daran zu denken, daß der Bevollmächtigte und der Adjunkt noch an der gleichen Stelle saßen und auf sie warteten.

Nagel setzte sich wieder. Von neuem begann es in seinen Schultern zu zucken, und er griff sich mehrere Male heftig an den Kopf. Ganz zusammengesunken saß er da. Als Martha kam, sprang er auf, ein dankbarer Blick leuchtete in seinem Gesicht auf, und er stellte einen Stuhl für sie zurecht.

Wie gut Sie sind, wie gut Sie sind! sagte er. Setzen Sie sich hierher, ich will ganz aufmerksam sein; wenn Sie wollen, werde ich Ihnen eine ganze Welt von Geschichten erzählen. Sie sollen sehen, wie gut ich Sie unterhalten werde, wenn Sie sich nur hersetzen. Liebe, kommen Sie also! Ja, Sie dürfen heimgehen, wann Sie wollen, und ich werde Sie begleiten; nicht wahr? Ich will Ihnen niemals Unannehmlichkeiten bereiten, niemals! Hören Sie, wollen Sie nicht ein klein winziges Glas trinken! Denn ich will Ihnen etwas Lustiges erzählen, und Sie werden wieder lachen müssen. Ich bin so froh, weil Sie zurückgekommen sind; Gott, wie schön ist es, Sie lachen zu hören, Sie, die Sie immer so ernst sind! War es nicht sehr nett im Saal? Nicht? Wir wollen lieber eine Weile hier sitzenbleiben, es ist auch so warm drinnen; setzen Sie sich also!

Und Martha zögerte, setzte sich aber doch.

Nun spricht Nagel unaufhörlich, erzählt in einem fort lächerliche Geschichtchen und Erlebnisse, schwätzt das Blaue vom Himmel herunter, fieberhaft, erzwungen, besorgt, sie könne gehen, wenn er schweige. Vor Anstrengung wechselt er die Farbe, verrennt sich und greift sich hilflos an den Kopf, um den Faden wiederzufinden, aber Martha kommt auch das lustig vor, und sie lacht treuherzig. Sie langweilt sich nicht, ihr altes Herz öffnet sich, und schließlich spricht sie sogar selbst mit. Wie merkwürdig warm und naiv sie war! Als er sagte, das Leben sei ganz unbegreiflich elend, nicht wahr? antwortete sie darauf: Prosit! Diese Frau, die Jahr für Jahr so ärmlich von dem Geld lebte, das sie auf dem Markt für ihre Eier erhielt, meinte, das Leben … nein, es sei nicht sehr schlimm, oft sei es schön!

Oft sei das Leben schön, sagte sie!

Ja, da haben Sie auch ganz recht! antwortete er … Aber jetzt müssen wir die lebenden Bilder ansehen! Wir wollen uns hier in die Türe stellen, dann können wir uns wieder setzen, wann Sie wollen. Können Sie von Ihrem Platz aus sehen? Sonst nehme ich Sie auf den Arm.

Sie lachte und schüttelte abwehrend den Kopf.

Seine Lustigkeit wurde plötzlich gedämpft, als er Dagny auf der Bühne oben erblickte, seine Augen wurden starr, und er sah nur noch sie. Er folgte der Richtung ihrer Blicke, maß sie vom Kopf bis zu den Füßen, beobachtete ihre Mienen, sah, daß die Rose auf ihrer Brust sich hob und senkte, hob und senkte. Sie stand am weitesten zurück in einer dichten Gruppe von Menschen und war trotz der sorgfältigen Verkleidung leicht zu erkennen. Fräulein Andresen saß in der Mitte und war Königin. Das Ganze war eine Szene in rotem Licht, eine rebusartige Zusammenstellung von Menschen und Rüstungen, die Doktor Stenersen mit vieler Mühe und Aufopferung ins Werk gesetzt hatte.

Das ist schön! flüsterte Martha.

Ja … Was ist schön? fragte er.

Da oben; können Sie nicht sehen? Wohin sehen Sie denn?

Doch, es ist schön.

Und um nicht den Verdacht zu erregen, er sehe nur auf einen Fleck, auf einen einzelnen Punkt des Ganzen, begann er sie zu fragen, wer die verschiedenen Darsteller seien, aber trotzdem hörte er kaum auf das, was sie sagte. Sie standen dort, bis das rote Licht nahe am Erlöschen war und der Vorhang herunterrollte.

Im Laufe einiger Minuten folgten die fünf Bilder aufeinander; es wurde zwölf Uhr, Martha und Nagel standen noch in der Türe und sahen das letzte Bild an. Als es endlich vorbei war und die Musik wieder begann, setzten sie sich wiederum an den Tisch und sprachen miteinander. In ihrer Gutmütigkeit gab sie immer mehr nach und sagte nichts mehr vom Gehen.

Ein paar junge Damen mit Notizbüchern in den Händen gingen umher und verkauften Nummern zu der Verlosung von Puppen, von Schaukelstühlen, Stickereien, einem Teeservice, einer Tafeluhr. Überall lärmten die Menschen, alles war lebhaft und sprach laut, im Saal und in den Nebenzimmern summte es von diesen vielen Stimmen wie auf einer Börse. Es sollte erst um zwei Uhr zu Ende sein.

Fräulein Andresen ließ sich wieder an Nagels Tisch nieder. Oh, sie sei so müde, so müde! Ja, tausend Dank, sie nähme gerne ein Glas, ein halbes Glas! Sollte sie nicht auch Dagny holen?

Und sie holte Dagny. Mit ihr kam auch Minute.

Da geschieht folgendes:

In der Nähe wird ein Tisch umgeworfen, Tassen und Gläser fallen zu Boden, und Dagny stößt einen kleinen Ruf aus, sie packt auch Martha nervös am Arm. Hinterher lachte sie selbst darüber und bat um Entschuldigung, während ihr Gesicht vor Aufregung rot wurde. Sie war höchst erregt und stieß ein kurzes Lachen aus; ihre Augen funkelten stark. Sie hatte ihren Mantel an, war zum Heimgehen bereit und wartete nur auf den Adjunkten, der sie wie gewöhnlich nach Hause begleiten sollte.

Der Adjunkt aber, der noch mit dem Bevollmächtigten zusammensaß und seit über einer Stunde nicht mehr aufgestanden war, war schon ziemlich betrunken.

Herr Nagel wird dich sicher gern begleiten, Dagny, sagte Fräulein Andresen.

Dagny brach in Gelächter aus. Erstaunt sah Fräulein Andresen sie an.

Nein, entgegnete Dagny, mit Herrn Nagel wage ich nicht mehr allein zu gehen! Er ist so voller Einfälle. Er hat – unter uns gesagt – mich sogar einmal um ein Stelldichein gebeten. Wahrhaftig! Unter einem Baum, sagte er, einer großen Espe, sie stehe da und da! Nein, Herr Nagel ist mir zu unberechenbar! Verlangte er doch vorhin tatsächlich ein paar Hemden von mir, die mein Bräutigam einmal Grögaard versprochen haben soll! Und Grögaard selbst weiß von der ganzen Sache überhaupt nichts! Nicht wahr, Grögaard? Hahaha, das ist höchst sonderbar!

Sie erhob sich, schnell, immer noch lachend, und ging zum Adjunkten hin, mit dem sie ein paar Worte wechselte. Sie wollte ihn offenbar doch zum Mitgehen bewegen.

Minute war sehr unruhig geworden, er versuchte etwas zu sagen, sich zu erklären, verwickelte sich aber und gab es auf. Mit ängstlichen Blicken sah er von einem zum andern. Selbst Martha war erstaunt und furchtsam, Nagel sprach mit ihr, flüsterte ihr einige beruhigende Worte zu und begann dann die Gläser zu füllen. Fräulein Andresen fing sofort an, über den Basar zu sprechen; welch eine Menschenmenge, trotz des Regenwetters! Oh, sie würden viel Geld verdienen, die Ausgaben seien nicht so sehr groß …

Wer war die schöne Dame, die Harfe spielte, fragte Nagel; die mit dem Byronmund und dem Silberpfeil im Haar?

Das war eine fremde Dame, sie ist nur zu Besuch in der Stadt. War sie so schön?

Ja, er fand sie schön. Und er stellte noch mehrere Fragen über diese Dame, obwohl alle sehen konnten, daß seine Gedanken an anderen Orten weilten. Worüber sann er nach? Weshalb hatte er plötzlich diese vergrämte Falte auf der Stirne bekommen? Langsam drehte er sein Glas.

Dagny kam jetzt wieder zurück. Während sie hinter Fräulein Andresens Stuhl steht und ihre Handschuhe zuknöpft, sagt sie mit ihrer klaren, herrlichen Stimme:

Aber was meinten Sie eigentlich damit, als Sie mich zu dem Stelldichein baten, Herr Nagel? Was war Ihre Absicht? Sagen Sie mir das jetzt.

Nein, aber Dagny! flüstert Fräulein Andresen und steht auf. Auch Minute erhebt sich. Alle sind sehr peinlich berührt. Nagel sah auf, sein Gesicht verriet nicht viel Erregung, aber alle bemerkten, daß er sein Glas losließ und die Hände ein paarmal rang und daß er heftig atmete. Was würde er tun? Was bedeutete es, daß er lächelte und gleich darauf wieder ernst wurde? Zu aller Verwunderung antwortete er mit ruhiger Stimme:

Warum ich Sie zu diesem Stelldichein bat? – Fräulein Kielland, ist es Ihnen nicht lieber, wenn ich Ihnen diese Erklärung erspare? Ich habe Ihnen schon früher so viele Unannehmlichkeiten bereitet. Ich bereue es, und bei Gott, ich würde alles mögliche tun, um es ungeschehen zu machen. Warum ich Sie aber damals um ein Stelldichein bat, das wissen Sie sicher, das habe ich nicht verheimlicht, obwohl ich es hätte tun sollen. Sie müssen mir Gnade erweisen. Mehr kann ich nicht sagen …

Er hielt inne. Auch sie sagte nichts mehr, gewiß hatte sie eine andere Antwort erwartet. Endlich kam auch der Adjunkt zur rechten Zeit, um diesen peinlichen Auftritt abzubrechen; er war sehr erhitzt und stand nicht einmal ganz sicher auf den Beinen.

Dagny nahm seinen Arm und ging zur Türe hinaus.

Von jetzt ab wurden die Zurückbleibenden der kleinen Gesellschaft viel lebhafter, alle atmeten leichter, Martha lachte und freute sich über jede Kleinigkeit und klatschte in die Hände. Manchmal, wenn sie allzu oft lachen mußte, wurde sie rot und hielt inne, während sie zu den anderen hinsah, ob sie es bemerkt hätten. Diese reizende Verwirrung, die sich mehrmals wiederholte, versetzte Nagel in Entzücken und ließ ihn viele Streiche begehen, nur um sie in Atem zu halten. So verfiel er darauf, auf einem Pfropfen, den er zwischen die Zähne steckte, die Melodie vom Greise Noah zu spielen.

Frau Stenersen hatte sich angeschlossen. Sie behauptete, sie wolle sich nicht von der Stelle rühren, ehe nicht alles vorbei sei; es käme noch eine Nummer, das Auftreten von zwei Turnern, das sie noch sehen wolle. Nein, sie pflege immer bis zu allerletzt auszuhalten, die Nacht sei so lang, sie würde immer so traurig, wenn sie heimkäme und dann wieder allein sei. Ob sie nicht alle zusammen hineingehen und sich die beiden Turner ansehen sollten?

Und sie gingen alle in den Saal.

Während sie dort sitzen, kommt ein großer, bärtiger Mann den Mittelgang herunter. Er trägt einen Geigenkasten in der Hand. Es war der Organist, er hatte seine Nummer hinter sich und war im Begriff heimzugehen. Er bleibt stehen, grüßt und beginnt sofort mit Nagel wegen der Geige zu sprechen. Minute war wirklich bei ihm gewesen und hatte sie kaufen wollen; aber das war unmöglich, es handelte sich um ein Erbstück, für den Organisten war sie ganz wie ein kleiner Mensch, so lieb war sie ihm. Ja, es stand auch sein Name drauf, man könne sehen, daß es keine gewöhnliche Geige sei … Und vorsichtig öffnet er den Kasten.

Da liegt das leckere, dunkelbraune Instrument, in hellrote Seide sorgfältig eingepackt, mit Watte über den Saiten.

Nicht wahr, sie sieht gut aus? Und die drei Buchstaben in winzig kleinen Kaprubinen, ganz oben am Griffbrett, die bedeuten Gustav Adolf Christensen. Nein, so etwas zu verkaufen wäre doch eine Sünde; woran solle man sich dann noch erfreuen, wenn die Tage lang würden? Eine andere Sache wäre es, wenn es sich nur darum handelte, sie einen Augenblick zu versuchen, ein paar Striche darauf zu tun …

Nein, Nagel wollte sie nicht versuchen.

Aber der Organist hatte das Instrument nun doch schon aus dem Kasten genommen, und während die beiden Turner ihre letzten Sprünge machten und das Publikum rings im Saale klatschte, sprach er immer noch über diese bemerkenswerte Geige, die sich seit drei Generationen in seiner Familie vererbt habe: Sie ist leicht wie eine Feder, fühlen Sie selbst, Sie dürfen sie gerne in die Hand nehmen …

Und auch Nagel fand, daß sie leicht sei wie eine Feder. Da er aber nun einmal die Geige in die Hände genommen hat, wendet er sie hin und her und zupft an den Saiten. Er nimmt eine halbe Kennermiene an und sagt: Eine Mittenwalder, wie ich sehe. Aber dies war nicht schwer zu erkennen, da es in der Geige auf einem Zettel stand; wozu da diese Kennermiene? Als die Turner fort waren und niemand mehr klatschte, steht auch er auf; er sagt nichts, kein Wort, sondern streckt die Hand nach dem Bogen aus. Im nächsten Augenblick, während alle im Begriff sind, sich von ihren Plätzen zu erheben und den Saal zu verlassen, während Lärm und lautes Sprechen herrschte, beginnt er plötzlich zu spielen, und nach und nach wird es überall still. Dieses kleine, breitschultrige Mannsbild, das in einem schreiend gelben Anzug mitten im Saal auftauchte, versetzte alle in Erstaunen. Und was spielte er? Eine Weise, eine Barkarole, einen Tanz, einen ungarischen Tanz von Brahms, ein leidenschaftliches Potpourri, ein Spiel mit rohem, schwellendem Ton, der überall hindrang. Er legte den Kopf ganz auf die Seite. Alles sah fast mystisch aus, sein plötzliches Auftreten außerhalb des Programms und mitten im Saal, wo es ziemlich dunkel war, sein abstechendes Äußere, diese wilde Fingerfertigkeit, die alle Menschen verwirrte und die Vorstellung von einem Zauberer in ihnen wachrief. Er spielte mehrere Minuten lang, und die Leute saßen immer noch unbeweglich auf ihren Plätzen; er schlug in ein schweres, ungeheueres Pathos um, ein Fortespiel mit fanfarenartiger Kraft, er stand ganz still, nur sein Arm bewegte sich, und den Kopf hielt er beständig auf die Seite geneigt. Da er so unvermutet aufgetaucht war und sogar die Veranstalter des Basars überrumpelt hatte, nahm er auch die schlichten Stadtkinder und Bauern im Sturm. Sie konnten es nicht fassen. In ihren Augen wurde das Spiel viel besser, als es war; besser als alles, so großartig nahm es sich aus, obwohl er mit schonungsloser Heftigkeit spielte. Nach vier, fünf Minuten machte er plötzlich ein paar scheußliche Striche. Ein desperates Heulen, ein Jammerlaut erklang, so unmöglich, so empörend, daß niemand mehr wußte, wo das hinführen sollte; drei, vier Striche machte er in dieser Art und hörte plötzlich auf. Er nahm die Geige vom Kinn herunter und stand still.

Eine ganze Minute verging, ehe sich die Leute sammelten; endlich begannen sie wild und anhaltend zu klatschen, man stieg auf die Stühle und rief Bravo. Der Organist nahm mit einer tiefen Verbeugung seine Geige in Empfang, fühlte sie an und legte sie vorsichtig nieder; dann ergriff er Nagels Hand und dankte ihm viele Male. Alles war Lärm und Brausen, Doktor Stenersen kam außer Atem dazu, packte Nagel beim Arm und brach los:

Aber, Herrgott noch einmal, Mensch, Sie spielen ja doch … doch!

Fräulein Andresen, die am nächsten saß, sah ihn mit der größten Verwunderung an und sagte:

Sie erzählten doch, daß Sie nicht spielen könnten?

Das kann ich auch nicht, antwortete er, nicht viel, es ist nicht der Rede wert, und das gestehe ich auch ein. Wenn Sie wüßten, wie falsch es war, wie wenig echt! Aber nicht wahr, es sah ungeheuer echt aus an mir? Hehehe, ja, man muß die Welt verblüffen, man darf sich nicht genieren! … Wollen wir nicht wieder zu unseren Gläsern gehen? Möchten Sie so gut sein, Fräulein Gude zu bitten, mitzukommen?

Und sie gingen wieder in das Nebenzimmer. Alle Leute waren noch mit diesem geheimnisvollen Menschen, der sie so überrascht hatte, beschäftigt; selbst der Bevollmächtigte Reinert blieb im Vorbeigehen einen Augenblick stehen und sagte zu ihm:

Sie waren so freundlich, mich neulich zu dem Junggesellenabend einzuladen; vielen Dank. Ich konnte nicht kommen, ich hatte zu tun; aber ich danke Ihnen vielmals, es war sehr liebenswürdig von Ihnen.

Aber warum machten Sie denn diese entsetzlichen Striche am Schluß? fragte Fräulein Andresen.

Ja, das weiß ich nicht, antwortete Nagel; aber das war nun einmal so. Ich wollte dem Teufel auf den Schwanz treten.

Doktor Stenersen kam wieder und machte ihm abermals ein Kompliment, und abermals antwortete Nagel, sein Spiel sei Komödie und Humbug, sei voll gewöhnlicher Effekte gewesen: Man sollte nur wissen, wie wenig gut es gewesen sei! Die Doppelgriffe waren falsch, ja, die meisten waren ein wenig falsch, er hörte es selbst, konnte es aber nicht besser machen, er sei so lang aus der Übung.

Immer mehr Neugierige kamen und setzten sich in die Nähe des Tisches, sie blieben bis zur letzten Minute, alle anderen strömten hinaus, im Saal begann man schon die Lichter zu löschen, als sie sich endlich erhoben. Es war halb drei Uhr.

Nagel beugte sich zu Martha hinüber und flüsterte:

Nicht wahr, ich darf Sie doch heimbegleiten? Ich möchte Ihnen etwas sagen.

Rasch bezahlte er seine Rechnung, sagte Fräulein Andresen gute Nacht und folgte Martha. Sie hatte keinen Umhang, nur einen Regenschirm, den sie zu verstecken suchte, weil er so durchlöchert war. Als sie zur Türe hinausgingen, bemerkte Nagel, daß Minute ihm mit einem langen, schmerzlichen Blick nachsah. Sein Gesicht war ungewöhnlich schief.

 

Sie gingen geradeaus zu Marthas Wohnung. Nagel spähte umher, konnte aber niemand entdecken. Er sagte:

Wenn Sie es wagten, mich für eine kleine Weile einzulassen, würde ich Ihnen sehr dankbar sein.

Sie zögerte.

Es ist so spät, antwortete sie.

Sie wissen, daß ich Ihnen versprochen habe, Ihnen niemals und in keiner Weise Verdruß zu machen. Ich muß mit Ihnen reden.

Sie schloß auf.

Als sie eingetreten waren, zündete sie Licht an, während er wieder das Fenster verhängte. Er schwieg, bis sie fertig war, dann sagte er:

Haben Sie sich nun heute abend ein wenig unterhalten?

Ja, danke! antwortete sie.

Na, darüber wollte ich ja auch nicht mit Ihnen sprechen. Kommen Sie nun und setzen Sie sich etwas näher zu mir. Sie dürfen wirklich keine Angst vor mir haben, wollen Sie mir das versprechen? Gut, geben Sie mir die Hand darauf!

Sie reichte ihm ihre Hand, und er behielt sie in der seinen.

Und Sie glauben auch nicht, daß ich lüge, daß ich Sie anlügen will, nicht wahr? Ich beabsichtige, Ihnen etwas zu sagen. Sie glauben also nicht, daß ich Sie anlüge?

Nein.

Nein, denn ich werde Ihnen dann nachher alles erklären … Aber wieviel glauben Sie mir? Ich meine: Wie weit können Sie mir glauben? Unsinn! Was schwätze ich! Die Sache ist nämlich ein wenig schwierig. Glauben Sie mir zum Beispiel, wenn ich jetzt sage, daß ich so … daß ich Sie wirklich so lieb habe? Ja, denn das müssen Sie selbst gemerkt haben. Aber wenn ich jetzt noch weiter ginge, ich meine … Verstehen Sie, ich möchte Sie ganz einfach bitten, meine Frau zu werden. Ja, meine Frau, jetzt habe ich es gesagt. Nicht nur meine Liebste, sondern meine Frau … Gott bewahre mich, wie Sie gleich von mir wegrücken! Nein, nein, lassen Sie mir Ihre Hand; ich will mich ja noch viel besser erklären, Sie sollen es ganz deutlich verstehen. Denken Sie sich nun den Fall, daß Sie richtig hören: daß ich geradezu und ohne viele Umschweife um Sie anhalte und daß ich wirklich auch jedes Wort meine. Denken Sie sich nun zuerst diesen Fall, und erlauben Sie mir dann fortzufahren. Gut! Wie alt sind Sie? Na, das wollte ich ja auch nicht fragen. Aber ich selbst bin neunundzwanzig Jahre alt, bin über den flatternden Leichtsinn hinaus, Sie sind vielleicht fünf, sechs Jahre älter, das hat nichts zu …

Ich bin zwölf Jahre älter, sagt sie.

Zwölf Jahre älter! ruft er aus, entzückt darüber, daß sie auf seine Worte eingeht, daß sie doch nicht ganz den Kopf verliert. Also zwölf Jahre älter, das ist ausgezeichnet, das ist einfach herrlich! Ja, und glauben Sie, zwölf Jahre seien irgendein Hindernis? Ich denke, Sie sind nicht ganz bei Trost, Menschenskind! Aber wie nun auch alles sei, und wären Sie dreimal zwölf Jahre älter, wenn ich Sie jetzt doch liebhabe und jedes Wort, das ich in diesem Augenblick sage, aufrichtig meine, was dann? Ich habe seit langem darüber nachgedacht, ja, eigentlich nicht seit langem, aber doch seit vielen Tagen, ich lüge durchaus nicht, glauben Sie mir doch um Himmels willen, wenn ich Sie so inständig bitte. Ich habe seit recht vielen Tagen daran gedacht und nachts deshalb nicht schlafen können. Ihre Augen sind so sonderbar, sie haben mich, seit ich Sie zum erstenmal sah, angezogen. Denn ein paar Augen können mich bis an das Ende der Welt ziehen; ach, einmal hat mich ein alter Mann eine halbe Nacht hindurch nur mit seinen Augen in einem Wald herumgeführt. Der Mann war verrückt … Na, das ist eine andere Sache! Aber Ihre Augen haben mir's angetan. Erinnern Sie sich noch, wie Sie einmal mitten hier im Zimmer standen und mich ansahen, als ich draußen vorbeiging? Sie wandten den Kopf nicht nach mir, Sie folgten mir nur mit den Augen, ich werde das niemals vergessen. Als ich Sie aber einmal traf und mit Ihnen sprach, wurde ich von Ihrem Lächeln ganz gerührt. Ich wüßte nicht, daß ich jemals einen Menschen so herzlich warm lachen gehört hätte wie Sie; aber das wissen Sie selbst nicht, und das ist ja eben so wunderbar schön, daß Sie selbst es nicht wissen … Jetzt schwätze ich wieder einen ganz schrecklichen Unsinn. Ich höre es wohl; aber ich habe das Gefühl, daß ich unaufhörlich sprechen muß, weil Sie mir sonst nicht glauben, und das macht mich so verwirrt. Ach, wenn Sie nur nicht so auf dem Sprung säßen, ich meine: nicht so bereit wären, aufzustehen und wegzugehen, dann würde ich gleich besser reden können. Ich bitte Sie, lassen Sie mich wieder Ihre Hand halten, dann werde ich sicher klarer sprechen. So, danke! … Sie verstehen, ich will von Ihnen wirklich nichts anderes erreichen, als ich gesagt habe; ich sitze nicht mit Hintergedanken hier. Und was verblüfft Sie denn so an meinen Worten? Sie können es nicht fassen, daß mir dieser verrückte Gedanke gekommen ist, Sie können es nicht begreifen, daß ich – daß ich – will, nein, und Sie halten es nicht für möglich; nicht wahr, darüber denken Sie jetzt nach?

Ja … Nein, mein Gott, lassen Sie es nun sein!

Aber so hören Sie doch: Ich verdiene nicht, daß Sie mir immer noch Falschheit zutrauen …

Nein, sagt Martha plötzlich bereuend, ich traue Ihnen gar nichts Böses zu; aber es ist ja doch unmöglich.

Warum ist es so unmöglich? Sind Sie an einen anderen gebunden?

Nein, nein.

Wirklich nicht? Denn wenn Sie an einen anderen gebunden wären – sagen wir, um nur einen Namen zu nennen, zum Beispiel an Minute …

Nein! ruft sie laut. Sie drückt ihm förmlich die Hand.

Nicht? Nun, nun, dann ist also nichts im Wege. Lassen Sie mich nun weitersprechen: Sie dürfen nicht glauben, ich stehe so hoch über Ihnen, daß es aus diesem Grund sein sollte. Ich will Ihnen nicht verbergen, daß ich in vieler Hinsicht nicht so bin, wie ich sein sollte; ja, Sie hörten heute abend ja selbst, was Fräulein Kielland sagte. Sie haben vielleicht auch von anderen Leuten in der Stadt gehört, wie schlecht ich in mancher Beziehung bin. Ein wenig Unrecht wird man mir ja bisweilen tun; aber in der Hauptsache hat man recht, ich bin ein Mann mit großen Fehlern. Also stehen Sie mit Ihrem reinen Gemüt und Ihren feinen, kindlichen Gedanken unendlich hoch über mir, statt daß es umgekehrt wäre. Aber ich verspreche Ihnen, immer gut gegen Sie zu sein, Sie dürfen mir glauben, daß mir das nicht schwerfallen würde, meine größte Freude wäre, Sie froh zu machen … Dann noch etwas: Sie haben vielleicht ein wenig Angst davor, was die Stadt dazu sagen wird? Nun, erstens müßte sich die Stadt wohl dareinfinden, daß Sie meine Frau werden, sogar in der eigenen Kirche dieser Stadt, wenn Sie wollen. Und zweitens hat ja die Stadt ohnedies schon genug zu reden bekommen; es ist doch kaum ganz unbemerkt geblieben, daß ich Sie schon ein paarmal getroffen habe und daß ich heute abend auf dem Basar mit Ihnen zusammen sein durfte. Also was das betrifft, wird es nicht viel schlimmer werden, als es bereits ist. Und, mein Gott, was hat es denn auch zu sagen? Es kann Ihnen doch so ganz und gar gleichgültig sein, was die Welt denkt … Sie weinen? Liebe, schmerzt es Sie, daß ich Sie heute abend dem Gerede der Leute ausgesetzt habe?

Nein, das ist es nicht.

Was ist es denn?

Sie antwortet nicht.

Da fällt ihm etwas ein, er fragt:

Finden Sie, daß ich schlimm gegen Sie bin? Sagen Sie mir: Sie tranken doch nicht sehr viel Champagner? Sie tranken doch sicher nicht einmal zwei Gläser? Vielleicht haben Sie den Eindruck bekommen, ich liege auf der Lauer und mache mir den Umstand, daß Sie einen Schluck Wein getrunken haben, zunutze, um Sie zu einem rascheren Nachgeben zu bringen. Weinen Sie deshalb?

Nein, nein, wirklich nicht.

Aber warum weinen Sie dann?

Ich weiß nicht.

Sie nehmen doch keinesfalls an, daß ich mit irgendwelchen Hintergedanken hier sitze. Bei Gott im Himmel, ich bin durch und durch ehrlich, glauben Sie mir doch!

Ich glaube Ihnen ja auch; aber ich verstehe es nicht, ich bin so verändert. Sie können es nicht wollen … können nicht.

Doch, er wollte es! Und während er ihre kleine, schwache Hand in der seinen hält und der Regen gegen die Scheiben schlägt, erklärt er ihr alles. Er spricht sehr leise, paßt sich ihrer Begriffswelt an und schwätzt dazwischen in der einfältigsten Kindersprache. Oh, sie würden es schon fertigbringen! Sie würden fortreisen, weit fort, wer weiß wohin; und sie wollten sich wegschleichen, damit niemand wisse, wo sie geblieben seien. Nicht wahr, das wollten sie? Dann würden sie eine kleine Hütte kaufen und einen Fleck Erde im Wald drinnen, in einem herrlichen Wald oder irgendwo anders; das sollte dann ihr Eigentum sein, und sie würden es Eden nennen, und er wollte dort arbeiten. Oh, wie er arbeiten wollte! Aber manchmal könnte es sein, daß er ein wenig traurig würde. Liebe, das könnte vorkommen, es könnte ihm etwas einfallen, eine Erinnerung, irgendein bitteres Erlebnis, an das er vielleicht gerade denken müßte, wie leicht konnte das geschehen! Aber dann würde sie ein wenig Geduld mit ihm haben; nicht wahr? Ja, denn er würde es sie nicht allzusehr merken lassen, niemals, das wolle er versprechen. Er möchte dann nur in Frieden sitzen und allein mit seinen Gedanken sein dürfen, oder er werde fortgehen, tiefer in den Wald, und nach einiger Zeit wieder zurückkommen. Oh, aber in ihrer Hütte sollte niemals ein hartes Wort fallen! Und sie würden sie mit den schönsten wilden Gewächsen und mit Moos und Steinen, die sie fänden, schmücken; auf den Boden wollten sie den Wacholder streuen, den er heimbrächte. Und an Weihnachten würden sie nie vergessen, den kleinen Vögeln eine Garbe aufzustellen. Und wie ihnen die Zeit vergehen sollte, und wie glücklich sie sein wollten! Sie müßten immer zusammen sein, zusammen ein- und ausgehen und sich nicht trennen; im Sommer könnten sie weite Spaziergänge machen und beobachten, wie Bäume und Gräser bebten und von Jahr zu Jahr wuchsen. Herrgott, wie gut sie auch Fremde und Wegfahrende aufnehmen wollten, die vielleicht vorbeikämen. Sie müßten sich einige Tiere halten, ein paar große, blanke Tiere, die ihnen aus den Händen fressen sollten, und während er mit Spaten und Hacke die Erde bearbeitete, sollte sie die Tiere versorgen …

Ja, antwortete Martha. Unwillkürlich sagte sie ja, und er hörte es. Er fuhr fort:

Und dann wollten sie sich einen oder zwei Tage in der Woche frei machen, damit sie beide auf die Jagd oder zum Fischen gehen konnten, alle beide, Hand in Hand, sie im kurzen Kleid mit einem Gürtel um den Leib, er in Bluse und Spangenschuhen. Wie wollten sie singen und laut sprechen und rufen, daß es durch den ganzen Wald hallen würde! Aber nicht wahr: Hand in Hand?

Doch, sagte sie wieder.

Nach und nach wurde sie mitgerissen. Er stellte ihr das Ganze so klar vor, dachte an alles und hatte jede Kleinigkeit im Kopf. Er sprach sogar davon, daß es einen Ort zu finden gälte, wo eine Quelle wäre. Ja, aber dafür wollte er schon sorgen, für alles wollte er sorgen; sie sollte nur Zutrauen zu ihm haben. Oh, er hatte Kraft genug, den Platz für dieses Heim mitten im dicken Wald auszuroden, er hatte ein paar Fäuste, sie sah es ja selbst! … Und lächelnd maß er ihre zarte Kinderhand mit seiner eigenen.

Sie fand sich darein, daß er mit ihr machte, was er wollte; sie saß sogar still da, als er ihr die Wange streichelte, und sah ihn an. Dann fragte er sie offen, den Mund nahe ihrem Ohr, ob sie es nun wage und ob sie wolle. Und sie antwortete: Ja; eine gedankenvolle, träumerische Antwort, die sie nur flüsterte. Aber bald danach begann sie zu schwanken; nein, wenn sie darüber nachdenke, so sei es doch nicht möglich. Wie konnte er das wollen! Was war sie!

Und wieder überzeugte er sie davon, daß er es wolle, mit dem ganzen Willen, den er besitze, wolle. Sie sollte nicht Not leiden, selbst wenn es ihnen eine Zeitlang schlecht gehen würde; er wollte für sie beide arbeiten, sie dürfe keine Furcht haben. Eine ganze Stunde lang sprach er so und brach ihren Widerstand Stück für Stück. Zweimal wiederholte es sich in dieser Zeit, daß sie sich weigerte, die Hände vors Gesicht drückte und Nein, nein! rief, und doch gab sie ihm nach, forschte in seinen Zügen und begriff, daß es nicht nur ein Sieg des Augenblickes war, den er erringen wollte. In Gottes Namen denn, wenn er es so wollte! Sie war überwunden, es half nichts, länger dagegen zu kämpfen. Schließlich gab sie ihm ein reines Ja.

Die Kerze, die auf eine leere Flasche gesteckt war, brannte herunter; immer noch saßen sie, jedes auf seinem Stuhl, hielten einander bei den Händen und sprachen zusammen. Sie war ganz aufgelöst vor Erregung, hatte oftmals Tränen in den Augen, lächelte aber doch.

Er sagte:

Um auf Minute zurückzukommen, – ich bin sicher, er war eifersüchtig, auf dem Basar.

Ja, antwortete sie, das war er vielleicht. Aber da hilft nun nichts.

Nein, nicht wahr, da hilft nun nichts! … Höre, ich möchte dir heute abend so gerne eine Freude machen, was könnte das sein? Ach, ich möchte, daß du vor Entzücken über irgend etwas die Hände gegen die Brust drücken müßtest! Sag mir etwas, verlange, was du willst! Ach, du bist so gut, du kleine Freundin, du bittest niemand um irgend etwas! Ja, ja, Martha, merke dir, was ich jetzt sage: ich will dich beschützen, ich will versuchen, deine Wünsche zu erraten, und bis zu meiner letzten Stunde besorgt um dich sein. Liebe, denke daran, willst du? Es soll nie so weit kommen, daß du sagen könntest, ich hätte mein Versprechen vergessen.

Es war vier Uhr.

Sie standen auf; Martha trat einen Schritt auf ihn zu, und er nahm sie an seine Brust. Sie legte die Arme um seinen Hals, und so blieben sie eine Weile stehen; ihr angstvolles, reines Nonnenherz klopfte gewaltsam gegen seine Hand, er fühlte es und strich ihr beruhigend über das Haar. Sie waren einig.

Sie begann zu sprechen:

Ich werde die ganze Nacht wach liegen und denken. Vielleicht treffe ich dich morgen? Wenn du willst?

Ja, morgen. Doch, ich will! Wann morgen? Darf ich um acht Uhr kommen?

Ja … Möchtest du, daß ich das gleiche Kleid anhabe?

Diese rührende Frage, ihr bebender Mund, die beiden offenen Augen, die zu ihm aufblickten, ergriffen ihn, drangen ihm ins Herz. Er antwortete:

Liebes, süßes Kind, wie du willst! Wie gut du bist! … Nein, du darfst heute nacht nicht wach liegen, das darfst du nicht! Denke an mich und sage gute Nacht: und schlafe. Du fürchtest dich doch nicht hier allein?

Nein … Jetzt wirst du naß, wenn du heimgehst.

Auch daran, daß er naß werden würde, dachte sie!

Sei fröhlich und schlafe gut! sagte er.

Als er aber schon in den Gang hinausgekommen war, fiel ihm noch etwas ein, er wandte sich zu ihr um und sagte:

Noch etwas habe ich vergessen; ich bin kein reicher Mann. Hast du vielleicht geglaubt, ich sei reich?

Das weiß ich nicht, antwortete sie und schüttelte den Kopf.

Nein, ich bin nicht reich. Aber wir werden uns ein Haus kaufen können, und was wir sonst noch brauchen, so reich bin ich schon. Und dann, wenn es an der Zeit ist, werde ich für alles sorgen, ich werde jede Bürde tragen, dazu habe ich meine Hände bekommen … Du bist nicht enttäuscht, weil ich nicht reich bin, nicht wahr?

Sie sagte Nein und ergriff seine Hände, die sie noch einmal drückte. Schließlich bat er sie, die Türe gut hinter ihm zu verschließen, und trat auf die Straße.

Es regnete in Strömen und war sehr dunkel.

Er ging nicht heim ins Hotel, sondern schlug den Weg zum Pfarrhofswald ein. Er ging eine Viertelstunde lang, und da die Dunkelheit sehr dicht war, konnte er nur schwer etwas unterscheiden. Endlich verlangsamte er seine Schritte, wich vom Weg ab und tastete sich zu einem großen Baum hin. Es war eine Espe. Hier blieb er stehen.

Der Wind rauscht über dem Walde, der Regen strömt weiter, sonst ist alles um ihn her tot und still. Er flüstert ein paar Worte vor sich hin, einen Namen, Dagny, Dagny, schweigt und sagt wieder Dagny. Aufrecht steht er neben dem Baum und wiederholt es. Nach einer Weile spricht er lauter, spricht mit hörbarer Stimme und sagt Dagny. Sie hatte ihn heute abend beleidigt, hatte ihre ganze Verachtung über sein Haupt ausgeschüttet, er fühlt noch jedes Wort, das sie herausgeschleudert hatte, in seiner Brust, und doch steht er hier und spricht von ihr. Er kniet neben dem Baum nieder, nimmt sein Taschenmesser heraus und schneidet im Dunkeln ihren Namen in den Stamm. Er arbeitet mehrere Minuten lang daran, tastet sich vorwärts, schneidet und tastet wieder, bis er fertig ist …

Während der ganzen Zeit, in der er arbeitete, hatte er die Mütze abgelegt.

Als er wieder auf den Weg kam, blieb er stehen, besann sich einen Augenblick und kehrte wieder um. Von neuem tastet er sich bis zum Baume hin, fühlt mit den Fingern über den Stamm und findet die Buchstaben wieder. Zum zweitenmal kniet er nieder, beugt sich vor und küßt diesen Namen, diese Buchstaben, als solle er sie nie mehr sehen, steht endlich auf und geht rasch fort.

Es war fünf Uhr, als er in das Hotel kam.


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