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9

Tags darauf, zur Mittagszeit.

Nagel war eben aufgestanden und ohne Essen fortgegangen. Er war schon weit in die Stadt hinuntergekommen, von dem strahlenden Wetter und dem munteren Leben am Hafen angezogen. Plötzlich wandte er sich an einen Mann und fragte nach der Hardesvogtei. Der Mann gab ihm Bescheid, und Nagel ging sofort hin.

Er klopfte an und trat ein, ging an ein paar Herren, die dort saßen und schrieben, vorbei, bis zum Bevollmächtigten Reinert, den er um eine Unterredung unter vier Augen bat, – es werde nicht lange dauern. Etwas unwillig erhob sich der Bevollmächtigte und folgte ihm in ein Nebenzimmer.

Hier sagte Nagel:

Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich noch einmal auf diese Sache zurückkomme, es handelt sich um die Geschichte mit Minute, wie Sie wissen. Ich leiste Ihnen hiermit in jeder Weise Abbitte.

Ich betrachte diese Angelegenheit durch Ihre Entschuldigung am Johannisabend, in Anwesenheit einer ganzen Gesellschaft, als vollkommen abgetan.

Sehen Sie, das ist nun wirklich schön, sagte Nagel. Aber ich bin nicht ganz zufrieden mit dieser Ordnung, Herr Bevollmächtigter. Das heißt: ich bin zufrieden damit, was mich betrifft, nicht aber, was Minute angeht. Es wäre mir unendlich viel daran gelegen, wenn Sie einsehen wollten, daß auch Minute seine Genugtuung haben sollte, und daß Sie es sind, der ihm dazu verhelfen muß.

Sie meinen, ich solle hingehen und diesen Trottel wegen der paar Streiche um Verzeihung bitten, meinen Sie das? Wäre es nicht am besten, Sie kümmerten sich um Ihre eigenen Sachen und nicht …?

Jaja, jaja, das kennen wir schon! Um aber bei der Sache zu bleiben: Sie zerrissen Minutes Jacke und versprachen ihm statt dessen eine andere, erinnern Sie sich?

Ich will Ihnen etwas sagen: Sie befinden sich hier in einem öffentlichen Gebäude und schwätzen über eine private Sache, die Sie nicht einmal etwas angeht. Hier bin ich zu Hause. Sie brauchen nicht durch das Kontor zurückzugehen, Sie können die Straße auch durch diese Türe finden.

Damit öffnete der Bevollmächtigte die kleine Türe.

Danke. Aber im Ernst, Sie sollten den Rock, den Sie Minute versprochen haben, augenblicklich hinsenden. Er braucht ihn, wissen Sie, und er glaubte Ihnen aufs Wort.

Der Bevollmächtigte riß die Türe weit auf und sagte:

Bitte schön!

Minute ging doch davon aus, daß Sie ein ehrlicher Mensch seien, fuhr Nagel fort, und Sie sollten ihn nicht betrügen.

Jetzt aber öffnete der Bevollmächtigte auch die Türe zum Büro und rief den beiden Herren drinnen. Da lüpfte Nagel die Mütze und ging sofort. Er sagte kein Wort mehr.

Wie ungünstig war diese Sache doch abgelaufen! Es wäre viel besser gewesen, er hätte es gar nicht versucht. Nagel begab sich heim, frühstückte, las Zeitungen und spielte mit dem Hund Jakobsen.

Gegen Nachmittag sah er vom Fenster seines Zimmers aus Minute mit einem Sack über den schweren, steinigen Weg vom Kai kommen. Er trug einen Kohlensack, ging tief gebeugt und konnte den Weg vor sich kaum sehen, da seine Bürde ihn beinahe zu Boden drückte. Er war so schlecht auf den Beinen und ging so schief, daß seine Hosen an der Innenseite ganz aufgewetzt waren. Nagel ging ihm entgegen und traf ihn unten an der Post, wo Minute den Sack einen Augenblick abgesetzt hatte.

Beide grüßten sich einander gleich tief. Als Minute sich aufrichtete, sank seine linke Schulter ganz herunter. Nagel packt ihn plötzlich bei dieser Schulter, und ohne jede Einleitung, ohne den Griff locker zu lassen, sagt er sehr aufgeregt:

Haben Sie über das Geld, das ich Ihnen gegeben habe, geklatscht, irgendeinem Menschen etwas davon gesagt?

Minute antwortete erstaunt:

Nein, das habe ich nicht, wirklich nicht.

Das können Sie sich merken, fuhr Nagel fort, bleich vor Erregung, wenn Sie jemals ein Wort von den paar Schillingen ausplaudern, dann schlage ich Sie tot – tot! Bei Gott im Himmel! Verstehen Sie mich? Und daß auch Ihr Onkel reinen Mund hält.

Minute stand fassungslos da und stammelte mühsam: er würde nichts sagen, kein Wort, er verspreche es, lege ein Gelöbnis ab …

Als wolle er seine Erregung entschuldigen, fügte Nagel gleich hinzu:

Dies ist ein Loch von einer Stadt, ein Nest! Wo ich gehe und stehe, starrt man mir nach, ich kann mich kaum rühren. Ich wünsche diese Spioniererei nicht, ich pfeife auf alle. Ich habe Sie jetzt gewarnt. Eines will ich Ihnen sagen: ich habe Grund anzunehmen, daß zum Beispiel dieses Fräulein Kielland vom Pfarrhof ein sehr schlechtes Geschöpf ist und mehr aus Ihnen herauslockt, als mir lieb ist. Ich will von ihrer Neugierde nichts wissen, nicht soviel! Übrigens war ich gestern abend mit ihr zusammen. Sie ist eine große Kokette, na, das gehört nicht hierher. Ich will Sie nur noch einmal bitten, über diese Bagatelle zwischen uns zu schweigen. Es ist übrigens gut, daß ich Sie jetzt getroffen habe, fuhr Nagel fort. Ich möchte auch wegen einer anderen Sache mit Ihnen sprechen: Wir saßen vorgestern zusammen auf einem Grabstein im Friedhof droben.

Ja.

Ich schrieb einen Vers auf diesen Stein, ich will zugeben, daß es ein schlechter und unpassender Vers war, aber das geht uns hier nichts an. Jedenfalls schrieb ich also diesen Vers hin. Als ich fortging, stand der Vers dort, als ich aber einige Minuten später wieder hinkam, war er ausgelöscht, – war das Ihr Werk?

Minute sieht zur Erde und antwortet:

Ja.

Pause. Aber stammelnd, ganz unruhig darüber, bei dieser Keckheit, die er auf eigene Faust begangen hatte, ertappt worden zu sein, will Minute sich erklären:

Ich wollte gerne vorbeugen, damit nicht … Sie kannten Mina Meek nicht, das war es, sonst hätten Sie es nicht getan, den Vers nicht geschrieben. Ich sagte auch gleich zu mir selbst: Er ist entschuldigt, er ist fremd in der Stadt, und ich, der ich hierher gehörte, kann es ja leicht wiedergutmachen. Hätte ich es da nicht tun sollen? Ich löschte den Vers aus. Noch niemand hatte ihn gelesen.

Woher wissen Sie, daß niemand ihn gelesen hat?

Kein Mensch hatte ihn gelesen. Als ich mit Ihnen und Doktor Stenersen bis zum Tor gegangen war, kehrte ich sofort um und löschte ihn aus. Ich war nicht länger als ein paar Minuten fort gewesen.

Nagel sah ihn an, nahm seine Hand und drückte sie, ohne etwas zu sagen. Beide blickten einander an; Nagels Mund bebte ein wenig.

Leben Sie wohl! sagte er … Übrigens, haben Sie den Rock bekommen?

Hm. Ich werde ihn schon bekommen, wenn ich ihn brauche. In drei Wochen soll …

In diesem Augenblick ging die weißhaarige Eierfrau, Martha Gude, vorbei, den Korb unter der Schürze vor sich hin haltend und die schwarzen Augen niedergeschlagen. Minute grüßte, auch Nagel grüßte, aber sie antwortete kaum, ging nur rasch vorbei, eilte zum Marktplatz, wo sie ihre zwei, drei Eier ablieferte, und ging dann mit ihren Schillingen in der Hand wieder fort. Sie hatte ein dünnes grünes Kleid an. Nagel ließ dieses grüne Kleid nicht aus den Augen. Er sagte:

In drei Wochen also brauchen Sie den Rock, warum in drei Wochen?

Da wird ein Basar abgehalten, eine große Abendunterhaltung; haben Sie nicht davon gehört? Ich soll bei den lebenden Bildern mittun, Fräulein Dagny hat mich bereits dazu aufgefordert.

So! sagte Nagel gedankenvoll. Na, Sie werden den Rock in allernächster Zeit bekommen, sogar einen neuen an Stelle des alten. Der Bevollmächtigte hat mir das heute gesagt. Er ist im Grund nicht so übel, der Mann … Aber hören Sie, eines müssen Sie sich merken: Sie dürfen sich nicht dafür bedanken, niemals! Sie dürfen unter keinen Umständen den Rock vor ihm erwähnen, er will keinen Dank haben. Verstehen Sie? Das sei ihm peinlich, sagte er. Sie sehen wohl auch selbst ein, daß es taktlos von Ihnen wäre, ihn an den Tag zu erinnern, an dem er betrunken war und mit einem verbeulten Hut das Hotel verließ.

Ja.

Aber auch Ihrem Onkel erzählen Sie nicht, von wem Sie den Rock bekommen haben; kein Mensch darf es wissen, der Bevollmächtigte verlangte das ausdrücklich. Sie werden doch wohl verstehen, daß es unangenehm für ihn wäre, wenn es in der Stadt aufkäme, daß er sich gegen irgend jemand zu verrennen pflege und hinterher genötigt sei, dies mit Geschenken wiedergutzumachen.

Doch, das kann ich verstehen.

Hören Sie, da fällt mir eben ein: warum nehmen Sie nicht lieber einen Karren für die Kohlen?

Das kann ich wegen meines Gebrechens nicht, ich kann nicht ziehen. Ich kann ein ziemliches Gewicht tragen, wenn ich es mir vorsichtig auflade, aber ich kann mich nicht einspannen und ziehen, das strengt mich zu sehr an, ich bekomme große Schmerzen und muß mich niederlegen. Aber mit einem Sack geht es ganz gut.

Gut. Besuchen Sie mich wieder einmal. Denken Sie an Nummer sieben; gehen Sie nur ohne weiteres hinein.

Damit schob er einen Geldschein in Minutes Hand und ging schnell die Straße zum Kai hinunter. Die ganze Zeit hatte er das grüne Kleid im Auge behalten und eilte ihm jetzt nach.

Als er zu Martha Gudes kleinem Haus kam, hielt er einen Augenblick an und spähte um sich. Niemand beobachtete ihn. Auf sein Klopfen bekam er keine Antwort. Er war schon früher zweimal vergebens an ihrer Türe gewesen; nun hatte er sie ganz deutlich vom Marktplatz heimgehen sehen und wollte nicht noch einmal umkehren, ohne seine Absicht erreicht zu haben. Er öffnete die Türe und trat ein.

Sie stand mitten in der Stube und sah ihn an. Ihr Gesicht war erregt und bleich, sie war so verschüchtert, daß sie eine Weile die Hände steif von sich weghielt und sich gar nicht zu helfen wußte.

Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, mein Fräulein, ich bitte Sie darum, sagte Nagel und grüßte ungewöhnlich ehrerbietig. Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie mir erlauben würden, einen Augenblick mit Ihnen zu sprechen. Werden Sie nicht unruhig, mein Anliegen ist bald erledigt. Ich habe Sie bereits ein paarmal vergebens aufgesucht, und erst heute hatte ich das Glück, Sie zu Hause zu finden. Mein Name ist Nagel, ich bin fremd hier und wohne zur Zeit im Zentralhotel.

Immer noch sagte sie nichts, sie stellte ihm aber einen Stuhl hin, zog sich selbst jedoch zur Küchentüre zurück. Sie war fürchterlich verlegen und fingerte an ihrer Schürze herum, während sie ihn ansah.

Die Stube sah so aus, wie er es sich gedacht hatte: ein Tisch, ein paar Stühle und ein Bett waren ungefähr alles, was darin zu finden war. Im Fenster standen einige Pflanzen mit weißen Blüten, doch waren keine Vorhänge an den Scheiben; der Boden war nicht sauber. Nagel erblickte auch den elenden Stuhl mit der hohen Lehne im Winkel beim Bett. Er hatte nur noch zwei Beine und lehnte morsch und jämmerlich an der Wand. Er war mit rotem Plüsch bezogen.

Wenn ich Sie nur beruhigen könnte, mein Fräulein! sagte Nagel wieder. Man hat doch nicht immer so Angst vor mir, wenn ich irgendwohin komme, hehehe. Es ist nämlich nicht das erstemal, daß ich hier in der Stadt in einem fremden Haus vorspreche, ich habe nicht nur Sie aufgesucht. Ich gehe von Haus zu Haus, versuche es überall. Ja, Sie haben vielleicht davon gehört? Nicht? Aber es ist doch so. Mein Beruf bringt das mit sich, ich bin Sammler, ich sammle alle alten Sachen, ich kaufe alte Sachen und bezahle dafür, was sie wert sein können. Ja, erschrecken Sie nur nicht, mein Fräulein, ich lasse nichts mitgehen, wenn ich mich verabschiede, hehehe, im allgemeinen habe ich diese schlechte Gewohnheit nicht. Sie dürfen ganz ruhig sein. Kann ich etwas nicht im guten zu kaufen bekommen, dann ist eben nichts dabei zu machen.

Aber ich habe keine alten Sachen, sagte sie endlich und sah ganz verzweifelt aus.

Das sagt man immer, erwiderte er. Nun, ich gebe zu, daß es Dinge gibt, die man liebgewonnen hat und von denen man sich deshalb ungern trennt, Dinge, an die man seit jeher gewöhnt war, Erbstücke von den Eltern her oder sogar von den Großeltern. Andererseits aber stehen sie nun da, diese abgedankten Sachen, und haben keinen Wert mehr. Warum sollen sie da den Platz wegnehmen und nicht lieber Geld einbringen? In diesen unnützen Familienstücken steckt nämlich ein hübscher Wert. So aber fallen sie schließlich ganz zusammen und müssen auf den Speicher gebracht werden. Warum sie da nicht lieber verkaufen, solange dazu noch Zeit ist? Es gibt Leute, die ganz böse werden, wenn ich komme, und mir erwidern, sie hätten keine alten Sachen. Schön, das kann jeder halten, wie er mag, ich verbeuge mich und gehe. Es ist nichts dabei zu machen. Andere Leute wieder zum Beispiel schämen sich, mir eine Bratpfanne ohne Boden zu zeigen. Die verstehen es eben nicht besser. Aber das sind nun auch besonders einfältige Menschen, die keine Ahnung davon haben, wie stark sich die Sammlermanie entwickelt hat. Ich sage ausdrücklich Manie, ich erkenne an, daß mich die reine Manie treibt. Und ich nenne deshalb die Sache bei ihrem Namen. Im übrigen aber geht das nur mich selbst etwas an. Was ich nun sagen wollte: es ist ebenso lächerlich wie dumm von diesen Leuten, sich um einer Antiquität willen zu schämen. Wie sehen doch zum Beispiel die Waffen und Ringe aus, die man in den Hünengräbern findet! Haben sie aber deswegen keinen Wert? Ja, nicht wahr, mein Fräulein? Sie sollten zum Beispiel meine Sammlung von Kuhglocken sehen! Ich besitze sogar eine Glocke – übrigens aus einfachem Eisenblech –, die bei einem Indianerstamm als Gottheit angebetet worden ist. Stellen Sie sich vor: unendliche Jahre lang hatte sie an einem Zeltpfahl im Lager gehangen und Gebete und Opfer entgegengenommen. Ja, urteilen Sie nun selbst! Na, eigentlich gerate ich ja von meinem Anliegen ab. Wenn ich auf das Kapitel von meinen Glocken zu reden komme, spreche ich gerne zuviel.

Ja, aber ich habe wirklich keine solchen alten Sachen, meinte Martha Gude.

Darf ich, sagte Nagel langsam und mit erfahrener Miene, darf ich zum Beispiel diesen Stuhl dort ansehen? Es soll nur eine Frage sein, ich rühre mich natürlich nicht von der Stelle, ehe ich Ihre Erlaubnis bekommen habe. Übrigens habe ich ihn von meinem Platz hier schon ein wenig im Auge gehabt, seit ich hereinkam.

Martha wird verwirrt, sie antwortet:

Den … Ja, bitte … die Beine sind abgebrochen …

Die Beine sind abgebrochen, ganz richtig! Und was weiter? Was hat das zu sagen? Gerade deshalb vielleicht, ja gerade deshalb! Darf ich fragen, woher Sie ihn haben?

Jetzt hatte Nagel den Stuhl in die Hand genommen, wandte und drehte ihn nach allen Seiten und besah ihn überall. Der Stuhl war ohne Vergoldung, nur mit einer einzigen Verzierung oben am Rückenstück, einer Art Krone, aus Mahagoni geschnitzt. Der Rücken war übrigens verschiedentlich durch ein Messer beschädigt, und auf dem Rahmen um den Sitz war an mehreren Stellen Tabak geschnitten worden; man sah noch die Spuren davon.

Wir haben ihn aus dem Ausland, ich weiß nicht woher. Mein Großvater brachte einmal mehrere solcher Stühle mit heim, aber jetzt ist nur noch dieser übrig. Mein Großvater war Seemann.

So. Und Ihr Vater – war auch Seemann?

Ja.

Dann sind Sie vielleicht mitgefahren? Entschuldigen Sie, daß ich frage.

Ja, ich bin viele Jahre lang mitgefahren.

Wirklich? Nein wie nett! Da haben Sie viele Länder gesehen, die salzige See gepflügt, wie man so sagt? Ja sehen Sie! Und dann haben Sie sich hier wieder niedergelassen? Ach ja, daheim ist es doch am allerbesten, ja, daheim … Übrigens, haben Sie eine Ahnung, wie Ihr Großvater zu diesem Stuhl gekommen sein mag? Ich will Ihnen nämlich sagen, daß es mir sehr darum zu tun ist, ein wenig von der Geschichte der Dinge zu wissen, sozusagen ihren Lebenslauf zu kennen.

Nein, ich weiß nicht, wo er ihn gekauft hat, das ist so lange her. Vielleicht in Holland? Nein, ich weiß es nicht.

Zu seiner Befriedigung merkte er, daß sie immer lebhafter wurde. Sie war weiter ins Zimmer hereingekommen, stand beinahe neben ihm, während er sich mit dem Stuhl beschäftigte und sich scheinbar nicht satt an ihm sehen konnte. Er sprach unaufhörlich, machte seine Bemerkungen über die Arbeit, war entzückt, als er auf der Rückseite der Lehne ein kleines eingelegtes Stück, in das wieder ein anderes Stück eingelegt war, entdeckte, – eine einfache Arbeit, eine geschmacklose Kinderei, die nicht einmal genau ausgeführt war. Der Stuhl war morsch, und er behandelte ihn sehr vorsichtig.

Ja, sagte sie dann, wenn Sie wirklich … ich meine: wenn es Ihnen Vergnügen macht, diesen Stuhl zu besitzen, dann können Sie ihn gerne behalten. Ich werde ihn selbst ins Hotel bringen, wenn Sie es wünschen. Ich habe keine Verwendung dafür. – Und plötzlich mußte sie über seinen Eifer, in den Besitz dieses wurmstichigen Möbels zu kommen, lachen. Eigentlich hat er ja nur noch ein einziges ordentliches Bein, sagte sie.

Er sah sie an. Ihre Haare waren weiß. Aber ihr Lächeln war jung und feurig, und ihre Zähne waren wunderschön. Als sie lachte, kam ihr das Wasser in die Augen, sie wurden blank. Welch eine schwarzäugige alte Jungfer! Nagel verzog keine Miene.

Es freut mich, sagte er in trockenem Ton, daß Sie sich entschließen, mir den Stuhl zu überlassen. Jetzt kommen wir zum Preis. Nein, Verzeihung, warten Sie ein wenig, lassen Sie mich ausreden. Ich will nicht, daß Sie den Preis verlangen, den bestimme ich immer selbst. Ich taxiere eine Sache, biete soundso viel dafür, und damit basta! Sie könnten eine unverschämte Summe fordern. Sie könnten mich ausnützen wollen, warum nicht? Dagegen können Sie einwenden, daß Sie wohl eigentlich nicht so geldgierig aussehen, – gut, das erkenne ich willig an; aber trotzdem –. Ich habe es mit vielerlei Menschen zu tun und halte daran fest, selbst den Preis zu bestimmen, dann weiß ich, was ich tue. Das ist ein Prinzip von mir. Was könnte Sie zum Beispiel hindern, für diesen Stuhl dreihundert Kronen zu verlangen, wenn Sie selbst den Preis bestimmen dürften? Sie könnten das um so eher tun, als Sie wissen, daß hier tatsächlich von einem kostbaren und seltenen Möbel die Rede ist. Aber so märchenhafte Preise kann ich unmöglich zahlen. Das sage ich geradeheraus, damit Sie sich keine Illusionen machen. Ich will mich doch nicht ruinieren, ich müßte ja verrückt sein, wenn ich Ihnen für diesen Stuhl dreihundert Kronen bezahlen würde; kurz und gut: ich gebe Ihnen zweihundert Kronen dafür, keinen Schilling mehr. Ich bezahle soviel, wie ein Ding wert ist, aber nicht mehr.

Sie sagte kein Wort, sie starrte ihn an und sperrte die Augen auf. Schließlich glaubte sie, er scherze, und sie begann wieder zu lächeln, still und verwirrt zu lächeln.

Ruhig nahm Nagel die roten Scheine aus der Tasche und fuhr damit ein paarmal durch die Luft. Den Stuhl ließ er aber unterdessen nicht aus den Augen. Er sagte:

Ich will nicht leugnen, daß Sie möglicherweise von einem anderen mehr bekommen hätten, ich will ehrlich sein und das zugestehen; ein wenig mehr hätten Sie vielleicht herausschlagen können. Jetzt aber habe ich mir nun einmal zweihundert Kronen als runde Summe für das Ding gedacht und finde nicht, daß ich gut weiter gehen kann. Tun Sie nun, was Sie wollen; aber überlegen Sie es sich zuerst. Zweihundert Kronen sind ja auch ein Geld.

Nein, erwiderte sie mit ihrem schüchternen Lächeln, behalten Sie Ihr Geld.

Mein Geld behalten! Was soll das bedeuten? Darf ich fragen, was an diesem Geld auszusetzen ist? Glauben Sie etwa, daß ich es selbst gemacht habe? Denn Sie werden mir doch wohl nicht zutrauen, es gestohlen zu haben, hehehe, wie?

Sie lachte nicht mehr. Es schien dem Manne ernst zu sein, und sie begann darüber nachzudenken. Wollte er etwas bei ihr bezwecken, der verrückte Mensch? Er hatte die Augen überall. Gott weiß, ob er nicht auf etwas sann, ob er nicht eine Falle legte. Warum kam er mit seinem Geld gerade zu ihr? Endlich schien sie einen Beschluß gefaßt zu haben, sie sagte:

Wenn Sie mir durchaus eine oder zwei Kronen für den Stuhl geben wollen, dann bin ich Ihnen dankbar. Mehr will ich nicht haben.

Er tat höchst verwundert, trat ihr einen Schritt näher und sah sie an. Dann brach er in Lachen aus.

Aber … haben Sie denn bedacht … Das ist mir doch auch zum erstenmal in meiner ganzen Sammlerzeit vorgekommen. Nun, ich verstehe einen Scherz …

Das ist kein Scherz. So etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört! Ich will nicht mehr haben, ich will gar nichts haben. Nehmen Sie den Stuhl, wenn Sie wollen!

Nagel lachte aus vollem Hals.

Ich verstehe noch einmal einen Scherz, und ich höre so etwas gern, ja es entzückt mich, der Teufel hol mich, wenn das nicht wahr ist! Über einen guten Scherz lache ich mich immer krank. Jetzt aber sollten wir doch wohl zu einem Einverständnis kommen, nicht wahr? Was meinen Sie, wenn wir die Sache nun einfach abmachten, bevor wir wieder schlechter Laune werden? Es wird nicht lange dauern, dann stellen Sie den Stuhl wieder in die Ecke und verlangen fünfhundert dafür.

Nehmen Sie den Stuhl. Ich … Was haben Sie vor?

Sie starrten einander an.

Wenn Sie glauben, daß ich irgend etwas anderes vorhabe, als den Stuhl zu einem anständigen Preis zu bekommen, so irren Sie sich, sagte er.

Martha rief:

Aber mein Gott, nehmen Sie ihn – nehmen Sie ihn!

Ich müßte Ihnen natürlich für Ihr großartiges Entgegenkommen sehr verbunden sein. Aber wir Sammler haben doch auch ein wenig Ehre im Leib, so jämmerlich sie auch oft beschaffen sein mag, und diese Ehre hindert mich, stellt sich mir entgegen, stellt sich sozusagen auf die Hinterfüße, wenn ich versuche, mir einen kostbaren Gegenstand zu erschwindeln. Meine ganze Sammlung würde in meiner – des Besitzers – Achtung sinken, wenn ich solch einen eingeschmuggelten Gegenstand unter die anderen bringen wollte, das würde gewissermaßen einen falschen Ton über jedes kleinste Ding legen. Hehehe, ich muß übrigens lachen, das ist doch auch zu verdreht, daß ich hier stehen und zu Ihren Gunsten sprechen muß, statt nur auf meinen eigenen Vorteil zu sehen. Aber wenn Sie mich dazu nötigen, dann –.

Sie gab nicht nach, nein, er kam nicht vom Fleck bei ihr. Sie bestand fest darauf, daß er entweder den Stuhl für eine Kleinigkeit, eine oder zwei Kronen, nehmen oder es ganz sein lassen müsse. Als dieser Halsstarrigkeit gegenüber nichts half, sagte er schließlich, um den Schein zu wahren:

Gut, lassen wir es für heute sein. Versprechen Sie mir aber, den Stuhl an niemand anderen zu verkaufen, ehe Sie mich davon unterrichtet haben, wollen Sie das? Ich lasse ihn mir nicht entgehen, das wissen Sie. Selbst wenn er noch ein wenig teurer wird. Auf jeden Fall bin ich bereit, soviel wie jeder andere zu bezahlen, und ich war doch zuerst da.

Als Nagel wieder draußen war, ging er mit langen, erregten Schritten die Straße hinauf. Welch eine Halsstarrigkeit! Wie arm war sie und wie mißtrauisch! Hast du das Bett gesehen? sagte er zu sich selbst; nicht einmal einen Strohsack, nicht einmal ein Leintuch darüber, sondern zwei Unterröcke, die sie bei kaltem Wetter vielleicht sogar anziehen muß. Und trotzdem so ängstlich davor, in etwas Unbekanntes hineinzugeraten, daß sie das beste Angebot ausschlägt! Doch zum Henker, was ging ihn das an? Nein, es ging ihn eigentlich nichts an. Aber sie war doch ein Teufelsmädchen, was? Würde sie auch dann Verdacht schöpfen, wenn er einen anderen zu ihr senden würde, der mehr für den Stuhl bieten könnte, der den Preis in die Höhe treiben würde? Diese dumme Person, diese dumme Person! Aber was hatte er auch dort zu suchen, wenn er sich dabei einer solchen Abweisung aussetzen mußte?

In seinem Ärger war er, ehe er es wußte, bis zum Hotel gekommen. Er blieb stehen, kehrte noch ebenso aufgeregt wieder um und begab sich die Straße hinunter, zu J. Hansens Herrenschneiderei, wo er eintrat. Hier ging er mit dem Meister in einen Nebenraum, bestellte unter vier Augen einen Rock, einen Rock von der und der Art, und befahl dem Schneider, diese Bestellung jedermann gegenüber geheim zu halten. Wenn der Rock fertig sei, solle er unverzüglich zu Minute gesandt werden, zu Grögaard, dem krummen Kohlenträger, der …

Ob er für Minute gehöre?

Ja, warum? Keine Neugierde! Keine Schnüffelei!

Es sei wegen des Maßes.

Na dann! Ja, er gehöre für Minute. Ganz recht. Minute könne selbst kommen und sich das Maß nehmen lassen, warum nicht? Aber keine unnötigen Worte, kein Augenzwinkern, – abgemacht? Bis wann der Rock fertig werde? In ein paar Tagen? Gut!

Nagel zählte das Geld sofort auf, sagte Lebewohl und ging. Er rieb sich die Hände, sein Ärger war vorbei, und er sang. Ja, ja, er würde trotzdem – trotzdem! Wartet nur! Als er heimkam, lief er in sein Zimmer hinauf und klingelte; seine Hände zitterten vor Ungeduld, und die Türe war noch nicht aufgegangen, da rief er schon:

Telegrammformulare, Sara!

Der Geigenkasten stand gerade offen, als Sara hereinkam, und sie sah da zu ihrer großen Verwunderung, daß dieser Kasten, den sie immer so vorsichtig behandelt hatte, nur schmutzige Wäsche und einige Papiere und Schreibsachen enthielt, aber keine Geige. Sie konnte sich nicht sogleich losreißen, sondern blieb stehen und starrte hin.

Telegrammformulare! wiederholte Nagel lauter, ich bat um Telegrammformulare.

Als er die Formulare endlich erhalten hatte, schrieb er an einen Bekannten in Kristiania einen Auftrag, an ein Fräulein Martha Gude hierorts heimlich und ungenannt zweihundert Kronen zu senden, zweihundert Kronen, ohne ein Wort zu schreiben. Verlange tiefste Verschwiegenheit. Johan Nagel.

Aber das ging nicht, nein, wenn er es recht überlegte, mußte er diesen Plan aufgeben. War es nicht am besten, er erklärte sich ein wenig ausführlicher und sandte das Geld mit, um sicher zu sein, daß es auch befördert werde? Er zerriß das Telegramm, verbrannte es sofort und schrieb in aller Eile einen Brief. Doch, so war es besser, ein ganz kleiner Brief war vollständiger, so konnte es gehen. Ja, er wollte es ihr zeigen, sie verstehen lassen …

Als er aber das Geld eingelegt und den Umschlag geschlossen hatte, blieb er eine Weile sitzen und dachte wieder nach. Sie könnte immer noch Verdacht schöpfen, sagte er sich selbst; zweihundert Kronen waren eine zu runde Summe, noch dazu eine Summe, die er ihr erst vor kurzem unter die Nase gehalten hatte. Nein, so ging es ebenfalls nicht! Er nahm noch einen Zehnkronenschein aus der Tasche, öffnete den Umschlag und veränderte den Betrag auf zweihundertundzehn Kronen. Nun versiegelte er den Brief und sandte ihn ab.

Noch eine ganze Stunde danach fand er diesen Streich ganz vortrefflich. Das sollte wie ein wunderbarer Himmelsbrief über sie kommen, von oben, aus der Höhe, von unbekannten Händen auf sie herabgeworfen. Und was würde sie sagen, wenn sie dieses Geld bekam? Als er sich aber wieder fragte, was sie wohl sagen würde, wie sie das Ganze aufnehmen würde, verlor er wieder den Mut: Der Plan war gefährlich, zu frech, es war ein dummer und schlechter Plan. Das war es ja eben, daß sie nichts Vernünftiges sagen, sondern sich wie eine Gans betragen würde. Wenn der Brief käme, würde sie es einfach nicht begreifen, sondern alles anderen Leuten überlassen. Sie würde ihn am Postschalter ausbreiten, so daß die ganze Stadt davon erführe; würde das Ganze auf der Stelle dem Ermessen der Postbeamten überlassen, vielleicht sogar störrisch sein und sagen: Nein, behalten Sie Ihr Geld! Und dann legt der Postbeamte den Finger an die Nase und ruft: Warten Sie ein wenig, ich ahne etwas! Und er schlägt in den Büchern nach und findet, daß die gleiche Summe vor ein paar Tagen von hier abgesandt worden ist, genau die gleiche Summe, um nicht zu sagen, die gleichen Scheine, zweihundertundzehn Kronen an die und die Adresse in Kristiania. Als Absender erweist sich ein Johan Nagel, ein Fremder, der zur Zeit im Zentral wohnt … Doch, diese Postbeamten hatten eine Nase so lang wie – – eine Schnüffelnase …

Nagel schellte wieder und ließ den Brief durch den Hoteldiener sofort zurückholen.

All diese nervöse Aufregung, in der er sich den ganzen Tag befunden hatte, machte ihn der Sache schließlich vollkommen überdrüssig. Der Teufel mochte alle miteinander holen! Was ging es ihn an, wenn Gott, der Herr, weit drinnen in Amerika einen Zusammenstoß mit Menschenverlusten auf der Eriebahn zustande brachte? Nein, gar nichts! Na, aber ebenso wenig hatte er mit der ehrengeachteten Jungfrau Martha Gude, hierorts, etwas zu schaffen.

Zwei Tage verließ er das Hotel nicht.


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