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12

Eine verschleierte Dame kam vom Kai herauf, wo sie soeben mit einem Dampfer angekommen war. Sie schritt geradeswegs auf das Zentralhotel zu.

Nagel stand zufälligerweise in seinem Zimmer am Fenster und sah hinaus. Den ganzen Nachmittag war er rastlos auf und ab gegangen und nur ein paarmal stehengeblieben, um ein Glas Wasser zu trinken. Seine Wangen waren ungewöhnlich rot, fieberrot, und seine Augen brannten. Jetzt hatte er Stunde auf Stunde an das gleiche gedacht: an seine letzte Begegnung mit Dagny Kielland.

Einen Augenblick hatte er sich einbilden wollen, daß er nur abzureisen brauchte, um das Ganze zu vergessen. Er öffnete den Koffer und nahm Papiere heraus, ein paar Instrumente aus Messing, eine Flöte, einige Notenblätter, Kleider, darunter einen neuen gelben Anzug, der dem bisher getragenen genau glich, und verschiedene andere Dinge, die er auf dem Boden umherstreute. Ja, er wollte reisen. Diese Stadt gefiel ihm nicht mehr, nie mehr wurde geflaggt, und die Straßen waren tot. Warum sollte er nicht abreisen? Und außerdem, zum Teufel, warum hatte er überhaupt seine Nase hier hereinstecken müssen? Ein Krähwinkel war das, ein kleines Elsternnest von einer Stadt, mit kleinen, langohrigen Menschen.

Doch er wußte gut, daß er nicht abreisen würde, er wollte sich nur straff machen und sich damit selbst zum Narren halten. Mißmutig packte er alle seine Sachen wieder ein und stellte die Koffer wieder an ihren Platz. Dann ging er vollkommen verstörten Sinnes zwischen Türe und Fenster auf und ab, auf und ab mit schnellen Schritten, während die Uhr unter ihm einen Schlag nach dem anderen tat. Mit dem sechsten Schlag hörte sie auf …

Als er am Fenster stehenblieb und die verschleierte Dame, die gerade die Hoteltreppe heraufstieg, sah, veränderte sich sein Ausdruck vollkommen, und er griff sich ein paarmal an den Kopf. Ja, warum nicht! Sie hatte genau soviel Recht, in diesem Haus zu wohnen, wie er. Das ging ihn nichts an; er hatte anderes zu denken, und überdies waren sie beide miteinander quitt.

Sofort zwang er sich zur Ruhe, setzte sich auf einen Stuhl, nahm vom Boden eine Zeitung auf und warf ab und zu einen Blick hinein, als lese er. Kaum waren ein paar Minuten vergangen, als Sara die Tür öffnete und ihm eine Karte übergab, auf der mit Bleistift geschrieben stand: Kamma. Nur Kamma. Er erhob sich und ging hinunter.

Die Dame stand im Gang; sie hatte den Schleier noch vor dem Gesicht. Nagel verbeugte sich stumm.

Guten Tag, Simonsen! sagte sie mit lauter, bewegter Stimme. Simonsen sagte sie.

Er stutzte, faßte sich aber sofort und rief Sara zu:

Wo können wir einen Augenblick miteinander sprechen?

Sie wurden in ein Zimmer neben dem Speisesaal geführt, wo die Dame, sowie die Türe hinter ihnen geschlossen war, auf einen Stuhl sank. Sie war in großer Erregung.

Das Gespräch der beiden war abgebrochen und dunkel, mit halben Worten, deren Sinn nur sie allein verstanden, und mit vielen Andeutungen auf die Vergangenheit. Sie hatten sich schon früher getroffen und kannten einander. Die Zusammenkunft währte keine ganze Stunde. Die Dame sprach mehr dänisch als norwegisch.

Entschuldige, daß ich dich noch Simonsen nannte, sagte sie. Der alte, nette Kosename! Wie alt und nett er doch ist! So oft ich ihn vor mich hin sage, sehe ich dich ganz leibhaft vor mir.

Wann sind Sie angekommen? fragte Nagel.

Jetzt, eben jetzt, vor kurzem; ich kam mit dem Dampfer … Ja, ich reise gleich wieder fort.

Schon gleich?

Hören Sie, sagte sie, Sie sind froh darüber, daß ich schon gleich wieder abreise; glauben Sie, ich sehe das nicht? … Nein, was könnte ich doch nur für meine Brust tun, geben Sie mir doch einen Rat! Fühlen Sie her, nein höher! Ja, was meinen Sie? Ich glaube, es ist jetzt etwas schlimmer, es hat sich also seit dem letztenmal um einiges verschlimmert; nicht wahr? Na, das ist gleichgültig … Sehe ich unordentlich aus? Sagen Sie es mir. Ist mein Haar in Ordnung? Vielleicht bin ich auch schmutzig, geradeheraus gesagt schmutzig, denn ich bin jetzt vierundzwanzig Stunden unterwegs … Sie haben sich nicht verändert, Sie sind noch ebenso kalt, ebenso kalt … Haben Sie vielleicht einen Kamm bei sich?

Nein … Wie verfielen Sie darauf, hierher zu kommen? Was ist …

Gleichfalls, gleichfalls, nämlich: wie verfielen Sie darauf, sich an einem solchen Ort zu verstecken? Glaubten Sie etwa, daß ich Sie nicht finden würde? … Höre, du bist ja Agronom hier, nicht? Hahaha, ich traf auf dem Kai einige Leute, die sagten, du seist Agronom und habest dich im Garten einer gewissen Frau Stenersen nützlich gemacht. Du habest dich einiger Johannisbeerstauden angenommen und hättest dort zwei Tage lang in Hemdärmeln gearbeitet. Welch ein Einfall! … Ich habe so eiskalte Hände; ja, das habe ich immer, wenn ich erregt bin, und jetzt bin ich erregt. Du hast nicht viel Mitleid mit mir, obwohl ich dich wie in alten Tagen Simonsen nenne und fröhlich und lustig bin. Noch während ich heute früh in der Kabine lag, dachte ich: Wie er wohl gegen mich sein wird, wird er nicht auf jeden Fall du sagen und mir unter das Kinn greifen? Und ich war beinahe überzeugt, daß Sie es tun würden, aber ich habe mich geirrt. Beachten Sie: Ich bitte Sie jetzt nicht, es zu tun. Dies bitte ich Sie zu beachten. Jetzt ist es zu spät, ich will nichts mehr davon wissen … Sagen Sie, warum sitzen Sie da und zwinkern ununterbrochen mit den Augen? Denken Sie die ganze Zeit an etwas anderes, während ich spreche?

Er antwortete nur:

Ich fühle mich heute wirklich nicht ganz wohl, Kamma. Könnten Sie mir nicht gleich sagen, warum Sie mich aufgesucht haben? Sie würden mir damit eine große Wohltat erweisen.

Warum ich Sie aufgesucht habe? rief sie. Mein Gott, wie fürchterlich Sie doch sein können! Haben Sie vielleicht Angst, daß ich Sie um Geld bitten werde, daß ich einzig und allein gekommen sei, Sie auszuplündern? Gestehen Sie es nur, wenn Sie wirklich so etwas Schwarzes in Ihrem Herzen denken … Ja, warum habe ich Sie wohl aufgesucht? Raten Sie einmal! Wissen Sie denn gar nicht, welch ein Tag und welch ein Datum heute ist? Haben Sie vielleicht Ihren eigenen Geburtstag vergessen?

Und schluchzend warf sie sich vor ihm auf die Knie und ergriff seine beiden Hände, in die sie ihr Gesicht legte und die sie an ihre Brust drückte. Sofort wurde er von dieser heftigen Zärtlichkeit, die er jetzt nicht mehr erwartet hatte, seltsam gerührt; er zog sie zu sich empor und setzte sie auf seine Knie.

Ich habe deinen Geburtstag nicht vergessen, sagte sie; ich denke immer daran. Du weißt nicht, wie sehr ich in vielen Nächten, in denen ich vor lauter Denken nicht schlafen kann, um dich weine … Mein Junge, du hast immer noch den gleichen roten Mund! Auf dem Schiff dachte ich so oft daran, ich dachte: Ob sein Mund noch ebenso rot ist? … Wie deine Augen umherirren! Du bist doch nicht ungeduldig, nicht wahr? Sonst bist du der gleiche, aber deine Augen irren wirklich umher, als säßest du da und sännest darüber nach, wie du mich so bald wie möglich loswerden könntest. Laß mich lieber auf dem Stuhl neben dir sitzen, das ist auch dir gewiß lieber; nicht wahr? Ich habe so vieles, so vieles mit dir zu besprechen, und ich muß mich beeilen, denn bald geht der Dampfer, und nun verwirrst du mich nur mit deiner gleichgültigen Miene. Was soll ich sagen, damit du mir genauer zuhörst? Im Grunde bist du mir nicht im geringsten dankbar dafür, daß ich mich dieses Tages erinnert habe und hierhergekommen bin … Hast du viele Blumen bekommen? Ja, das hast du gewiß. Frau Stenersen hat wohl auch an dich gedacht? Sag mir doch, wie sieht sie aus, diese Frau Stenersen, für die du Agronom bist? Hahaha, nein, so etwas! … Ich hätte dir auch einige Blumen mitgebracht, wenn ich Geld dazu gehabt hätte; aber gerade jetzt war ich zu arm … Herrgott, hör mich doch jetzt diese elenden paar Minuten lang an, willst du nicht? Wie doch jetzt alles verändert ist! Erinnerst du dich – aber daran erinnerst du dich natürlich nicht, und es ist unnötig, es dir wieder ins Gedächtnis zu bringen; aber einmal erkanntest du mich schon von weitem nur an meiner Hutfeder und kamst gelaufen, sowie du sie nur sahst. Du weißt sehr gut, daß das wahr ist, nicht wahr? Das geschah einmal beim Festungsgraben. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich von dieser Sache mit der Hutfeder spreche, lieber Gott, ich habe vergessen, wozu ich es gegen dich gebrauchen wollte, obwohl es ein gutes Argument war … Was gibt es? Warum springst du auf?

Er erhob sich, ging auf den Zehen über den Boden hin und riß mit einem Ruck die Tür auf.

Man schellt und schellt Ihnen im Speisesaal, Sara! sagte er zur Tür hinaus.

Und als er zurückkam und sich auf den Stuhl setzte, nickte er Kamma zu und flüsterte: Ich habe mir's gleich gedacht, daß sie dastehen und durch das Schlüsselloch sehen würde.

Kamma wurde ungeduldig.

Und wenn sie hereinsähe? sagte sie. Nein, warum in aller Welt sind Sie gerade jetzt mit tausend anderen Dingen beschäftigt? Seit einer Viertelstunde sitze ich hier, und Sie haben mich nicht einmal gebeten, den Schleier zu lüften. Ja, unterstehen Sie sich nur nicht, mich jetzt nachträglich darum zu bitten! Sie bedenken nicht, daß es doch fürchterlich, ist bei dieser Hitze, einen Winterschleier vor dem Gesicht zu haben. Na, das ist der verdiente Lohn; was wollte ich auch hier? Ich hörte sehr wohl, daß Sie das Mädchen um Erlaubnis baten, einen Augenblick hier hereingehen zu dürfen. Nur einen Augenblick! sagten Sie. Das bedeutete wohl, daß Sie hofften, in ein oder zwei Minuten mit mir fertig zu werden. Ja, ja, ich werfe Ihnen das nicht vor, ich bin nur so unsagbar betrübt darüber. Gott helfe mir! … Warum kann ich mich niemals von dir losreißen? Ich weiß, daß du verrückt bist, daß deine Augen ganz verrückt sind, ja, denk dir, das habe ich gehört, und ich glaube es gerne. Aber ich kann mich trotzdem nicht von dir befreien. Doktor Nissen hat gesagt, du seist verrückt, und weiß Gott, du mußt verrückt sein, da du dich an einem solchen Ort wie diesem hier hast niederlassen und dich Agronom nennen können. So etwas habe ich noch nie gehört! Und immer noch hast du den Eisenring am Finger und trägst unablässig diesen schreiend gelben Anzug, den kein anderer als du am Leib haben möchte …

Hat Doktor Nissen gesagt, daß ich verrückt bin? fragte er.

Ja, das hat er geradeheraus gesagt! Willst du wissen, zu wem er das gesagt hat?

Einen Augenblick fiel er in Gedanken. Dann sah er wieder auf und fragte:

Sagen Sie mir aufrichtig, dürfte ich Ihnen nicht mit ein wenig Geld helfen, Kamma? Sie wissen, ich kann es.

Niemals! rief sie, niemals, hören Sie! Aber um alles in der Welt, dürfen Sie mir denn eine Beleidigung nach der anderen ins Gesicht schleudern?

Pause.

Ich weiß nicht, sagte er, warum wir hier sitzen und es einander schwer machen sollen …

Jetzt aber unterbrach sie ihn weinend und überlegte nicht mehr, was sie sagte:

Wer macht es denn schwer? Ich vielleicht? Wie hast du dich doch in diesen wenigen Monaten bis ins letzte verändert! Ich komme hierher, um … Ich erwarte nicht mehr, meine Gefühle erwidert zu sehen, du weißt, es ist nicht meine Art, darum zu betteln; aber ich hatte gehofft, du würdest mich ein wenig nachsichtig behandeln … Herrgott im Himmel, wie traurig ist mein Leben! Ich sollte dich aus meinem Herzen reißen und kann es nicht, ich laufe dir nach und werfe mich dir zu Füßen. Erinnerst du dich an damals, als du auf dem Drammensweg einem Hund über die Schnauze schlugst, weil er an mir heraufsprang? Ja, das war meine Schuld, ich schrie, denn ich glaubte, er wolle mich beißen; nun, das wollte er nicht, er wollte nur spielen, und als du ihn geschlagen hattest, kroch er vor uns auf dem Bauch und legte sich hin, anstatt davonzulaufen. Damals weintest du über den Hund und streicheltest ihn, du weintest heimlich, ich sah es gut; jetzt aber weinst du nicht, obwohl … Aber das soll kein Vergleich sein; du bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich mich mit einem Hund vergleiche? Gottvater mag wissen, was du in deinem Übermut denkst. Ich kenne dich, wenn du dieses Gesicht machst. Ich sehe, du lächelst, doch, das tatest du, du hast gelächelt! Du verhöhnst mich offen ins Gesicht. Das sage ich dir ganz frei heraus … Nein, nein, nein, vergib mir! Ich bin jetzt wieder so verzweifelt. Du siehst hier eine gebrochene Frau vor dir, ich bin vollkommen gebrochen, gib mir die Hand! Oh, daß du niemals die kleinen Versehen vergessen kannst. Es war doch nur ein kleines Versehen von mir, wenn du es dir überlegst. Es war schlecht von mir, daß ich an dem Abend nicht zu dir hinunterging; du gabst mir ein Zeichen nach dem anderen, und ich ging nicht hinunter, bei Gott, ich bereue es so tief! Aber er war nicht bei mir, wie du glaubtest; er war dagewesen, aber dann war er nicht mehr da, er war fortgegangen. Ich gestehe es ja ein und bitte um Gnade. Ich hätte ihn fortjagen sollen, ja, ihn fortjagen, das gebe ich zu, alles gebe ich zu, und ich hätte nicht … Nein, ich verstehe nicht … ich verstehe nichts mehr …

In der eintretenden Stille hörte man nur Kammas Schluchzen und das Klirren der Messer und Gabeln im Speisezimmer. Sie weinte immer noch und trocknete sich mit dem Taschentuch unter dem Schleier ab.

Denk dir, er ist schrecklich hilflos, fuhr sie fort, er taugt nicht dazu, hart gegen hart zu setzen. Manchmal schlägt er auf den Tisch und wünscht mich zum Teufel, ja, er zankt mich aus, sagt, daß ich ihn ruiniere, und ist mehr als grob; aber gleich darauf ist er wieder so unglücklich und kann sich nicht entschließen, mich gehen zu lassen. Was soll ich da machen, wenn ich sehe, wie schwach er ist? Von Tag zu Tag verschiebe ich es, mit ihm zu brechen, obwohl ich es nicht allzu gut habe … Aber beklagen Sie mich nicht; wagen Sie es nur nicht, mir Ihr unverschämtes Mitleid zu zeigen! Auf jeden Fall ist er besser als die meisten und hat mir mehr Freude gemacht als irgendein anderer, mehr als Sie. Ich liebe ihn noch immer so wie früher, das kann ich Ihnen sagen. Ich bin nicht hierher gefahren, um schlecht über ihn zu sprechen. Wenn ich heimkomme, will ich ihn auf den Knien um Verzeihung bitten, für das, was ich hier nun schon über ihn gesagt habe. Ja, das will ich!

Nagel antwortete:

Liebe Kamma, seien Sie nun ein wenig vernünftig! Lassen Sie mich Ihnen helfen, hören Sie doch! Ich glaube, Sie brauchen es. Wollen Sie nicht? Es ist häßlich von Ihnen, es mir abzuschlagen, wenn ich es doch jetzt so gut kann und so gerne tun will.

Damit zog er seine Brieftasche heraus.

Wütend rief sie: Habe ich denn nicht nein gesagt? Können Sie nicht hören, Mensch?

Aber was wollen Sie denn dann? fragte er bestürzt.

Sie setzte sich jetzt auf einen Stuhl und hörte auf zu weinen. Es schien, als bereue sie ihre Heftigkeit.

Hören Sie, Simonsen … erlauben Sie mir, Sie noch einmal Simonsen zu nennen, wenn Sie nicht böse werden, würde ich gerne etwas sagen. Was bedeutet das, daß Sie in einem solchen Ort wie diesem hier wohnen, und warum in aller Welt tun Sie das? Ist es vielleicht so merkwürdig, daß die Leute sagen, Sie seien verrückt? Ich muß mich erst besinnen, wie diese Stadt heißt, so klein ist sie, und hier gehen Sie umher und spielen Komödie und setzen die Bewohner mit sonderbaren Einfällen in Erstaunen! Sollte gerade Ihnen wirklich nichts Besseres einfallen? … Nun, das geht mich ja nichts an, ich sage es auch nur aus alter … Nein, was glauben Sie, daß ich für meine Brust tun sollte? Mir ist jetzt, als wollte sie zerspringen! Glauben Sie nicht, daß ich den Arzt wieder aufsuchen muß? Aber wie um Gottes willen soll ich den Arzt aufsuchen, wenn ich keinen Öre besitze?

Aber ich will Ihnen ja so herzlich gerne etwas vorstrecken, hören Sie. Sie können es mir ja einmal zurückgeben.

Na, es ist ja auch gleich, ob ich zum Arzt gehe oder nicht, fuhr sie wie ein eigensinniges Kind fort. Wer sollte um mich trauern, wenn ich sterbe? … Plötzlich aber schlug sie um, tat, als bedenke sie sich, und sagte: Wenn ich es mir überlege, warum sollte ich nicht Geld von Ihnen annehmen? Warum nicht jetzt ebensogut wie früher? Ich bin doch nicht so ungeheuer reich, daß ich aus diesem Grund … Ja, aber jetzt haben Sie immer wieder gerade den Augenblick benützt, es mir anzubieten, in dem ich so gereizt war, daß Sie im voraus wissen mußten, ich würde es abschlagen. Ja, das haben Sie! Sie haben das genau berechnet, nur um Ihr Geld zu sparen, obwohl Sie jetzt so viel haben; glauben Sie, daß ich das nicht gemerkt hätte? Und selbst, wenn Sie es mir jetzt wieder anbieten, noch einmal anbieten, dann tun Sie das nur, um mich zu demütigen, und Sie freuen sich, daß ich schließlich doch genötigt bin, es anzunehmen. Aber da hilft nun nichts, ich nehme es doch an und bin dir dankbar. Wollte Gott, ich brauchte dich nicht! Aber das will ich Ihnen sagen, deshalb bin ich heute nicht hierhergekommen, nicht des Geldes wegen, ob Sie mir nun glauben oder nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie so niedrig sind, das zu denken … Aber wieviel kannst du denn entbehren, Simonsen? Mein Gott, du sollst dich nicht so sehr entblößen, ich bitte dich, und du darfst mir glauben, daß ich jetzt aufrichtig bin …

Wieviel brauchen Sie?

Ja, was brauche ich? … Gott, der Dampfer geht doch wohl nicht ohne mich ab? … Ich brauche vielleicht viel, aber … vielleicht mehrere hundert Kronen, aber …

Hören Sie, Sie sollen sich durchaus nicht gedemütigt fühlen, weil Sie dieses Geld annehmen; wenn Sie wollen, können Sie es sich bei mir verdienen. Sie könnten mir einen außerordentlich großen Dienst erweisen, wenn ich Sie darum bitten dürfte …

Wenn du mich darum bitten dürftest! rief sie außer sich vor Freude über diesen Ausweg. Gott, wie du so reden kannst! Welchen Dienst, welchen Dienst, Simonsen? Ich bin zu allem bereit! Ach, mein liebster Junge!

Sie haben noch dreiviertel Stunden Zeit, bis der Dampfer geht …

Ja. Und was soll ich tun?

Sie sollen eine Dame aufsuchen und einen Auftrag ausrichten.

Eine Dame?

Sie wohnt in einem kleinen niederen Haus unten am Kai. Es sind keine Vorhänge an den Fenstern, aber es pflegen dort einige weiße Blumen zu stehen. Die Dame heißt Martha Gude, Fräulein Gude.

Aber ist es die … Ist es denn nicht Frau Stenersen …?

Hören Sie, Sie sind auf einer falschen Spur, Fräulein Gude ist sicher gegen vierzig Jahre alt, aber sie hat einen Stuhl, einen alten Lehnstuhl, den ich in meinen Besitz bringen möchte, und dabei müssen Sie mir helfen … Stecken Sie nun übrigens Ihr Geld ein, dann werde ich Ihnen inzwischen alles erklären.

Es begann ein wenig zu dämmern; die Gäste des Hotels verließen den Speisesaal mit viel Lärm, und Nagel saß noch da und setzte ihr seine Absichten wegen des alten Lehnstuhls auseinander. Es müsse da ein wenig vorsichtig vorgegangen werden, die große Geste nütze hier nichts. Kamma wurde immer eifriger, diese verdächtige Mission versetzte sie in Entzücken, sie lachte laut und fragte beständig, ob sie sich nicht ein wenig verkleiden, auf jeden Fall eine Brille aufsetzen solle. Habe er nicht einmal einen roten Hut gehabt? Den könnte sie aufsetzen …

Nein, nein, Sie sollen keine Kniffe anwenden. Sie sollen einfach auf den Stuhl bieten, den Preis hinauftreiben, sollen bis zu zweihundert Kronen gehen, ja bis zu zweihundertundzwanzig Kronen. Und Sie können sicher sein, daß er nicht an Ihnen hängenbleibt. Sie bekommen ihn nicht.

Gott, was für eine Menge Geld. Weshalb sollte ich ihn für zweihundertundzwanzig Kronen nicht bekommen?

Weil ich ihn mir bereits ausbedungen habe.

Aber gesetzt den Fall, sie nähme mich beim Wort?

Sie nimmt Sie nicht beim Wort. Wollen Sie jetzt gehen?

Sogar im letzten Augenblick bat sie noch einmal um einen Kamm und sprach ihren Kummer darüber aus, daß ihr Kleid verknüllt sein könnte. Aber ich leide es nicht, daß du dich so viel bei dieser Frau Stenersen aufhältst, sagte sie und zierte sich. Ich leide es nicht, ich bin sonst untröstlich. – Noch einmal sah sie nach, ob sie ihr Geld wirklich gut verwahrt habe. Wie süß du bist, daß du mir all dies Geld gegeben hast! rief sie aus. Und mit einer raschen Bewegung schlug sie den Schleier hoch und küßte Nagel auf den Mund, mitten auf den Mund. Aber sie war trotzdem ganz von ihrem sonderbaren Auftrag an Martha Gude erfüllt und fragte:

Wie kann ich dich davon benachrichtigen, daß alles gut gegangen ist? Ich kann den Kapitän bitten, die Dampfpfeife ziehen zu lassen, wenn es dir recht ist, vier- oder fünfmal ziehen zu lassen, geht das nicht? Da siehst du nun, ich bin nicht so dumm. Nein, vertraue mir nur. Sollte ich dir nicht einmal diesen Gefallen tun, wenn du … Höre, ich bin heute nicht wegen des Geldes gekommen, glaube mir! Ja, laß dir jetzt noch einmal danken! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!

Noch einmal fühlte sie nach dem Gelde.

Eine halbe Stunde später hörte Nagel wirklich kurz fünfmal hintereinander das Signal einer Dampfpfeife.


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