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7

Am nächsten Abend um sechs Uhr trat Nagel in die Stube des Doktors. Er glaubte zu früh gekommen zu sein; aber die Gesellschaft vom vorhergehenden Abend war bereits versammelt. Es waren auch noch ein paar neue Gäste da, ein Rechtsanwalt und ein junger, blonder Student. An zwei Tischen trank man schon Selters und Kognak; an einem dritten Tisch saßen die Damen, der Bevollmächtigte Reinert und der junge Student und sprachen miteinander. Der Adjunkt, dieser schweigsame Mann, der selten oder niemals ein Wort von sich gab, war einfach schon betrunken und in erregter Stimmung, mit flammenden Wangen sprach er laut über alles mögliche. Da haben wir nun Serbien, wo achtzig Prozent der Bevölkerung weder lesen noch schreiben können, ist dort alles so viel besser? Ja, das möchte er doch wirklich fragen! – Und er sah mit grimmiger Miene umher, obwohl ihm niemand widersprochen hatte.

Die Frau des Hauses rief Nagel heran, machte ihm am Tisch der Damen Platz und fragte, was er am liebsten trinken wolle. Sie sprächen eben von Kristiania, sagte sie. Es sei doch eine sonderbare Idee von ihm, in einer Kleinstadt sich niederzulassen, wenn er die Wahl habe und sogar in Kristiania leben könne.

Nagel fand dies nicht so sonderbar; er wollte doch den Sommer auf dem Land verbringen und Ferien machen. Übrigens möge er auf gar keinen Fall in Kristiania sein; Kristiania wäre der letzte Ort, den er wählen würde.

Wirklich? Aber es sei doch immerhin die Hauptstadt, sei der Treffpunkt für alles, was es im Lande an Größen und Berühmtheiten, an Kunst und Theater und allem möglichen gebe.

Ja, und dann alle die Fremden, die dort zusammenströmen! bemerkte Fräulein Andresen; Schauspieler, Sänger, Musiker, Künstler aller Art.

Dagny Kielland saß schweigend da und hörte nur zu.

Ja, ja, das könne schon sein, räumte Nagel ein; – er wisse selbst nicht, woher es käme, aber jedesmal, wenn von Kristiania die Rede sei, sähe er ein Stück der Graensenstraße vor sich und habe den Geruch von ausgehängten Kleidern in der Nase. Das sei wirklich wahr und keine Erfindung. Er wisse nicht, woher das käme. Kristiania mache ihm den Eindruck einer prahlerischen Kleinstadt mit ein paar Kirchen, ein paar Zeitungen, einem Hotel und einem gemeinsamen Pumpbrunnen – und mit den größten Menschen der Welt. Nirgends habe er die Menschen sich so brüsten gesehen wie dort, und, Herr du mein Gott, wie oft habe er sich nicht weggewünscht, wenn er dort gelebt hatte!

Der Bevollmächtigte konnte nicht begreifen, daß jemand eine solche Abneigung haben könne – nicht nur gegen einen einzelnen Menschen, sondern gegen eine ganze Stadt, gegen die Hauptstadt des Landes. Kristiania sei in Wirklichkeit jetzt nicht mehr so klein; es beginne unter den Städten von Rang seinen Platz einzunehmen. Und das Grand-Café sei kein unbedeutendes Café.

Nagel erhob zunächst keinen Einspruch gegen das Grand. Aber kurz danach runzelte er die Stirne und bemerkte so laut, daß alle es hören konnten:

Das Grand ist ein einzig dastehendes Café.

Das scheint nicht Ihre wirkliche Meinung zu sein.

Doch. Das Grand sei jener Ort der Stadt, wo alles Große einander begegne. Da säßen die größten Maler der Welt, die hoffnungsvollste Jugend der Welt, die elegantesten Damen der Welt, die gewandtesten Redakteure der Welt und die größten Dichter der Welt! Hehe, da säßen sie und bliesen sich voreinander auf – jeder seelenvergnügt, weil er von den anderen anerkannt würde. – Ich habe Herrn Jedermann dasitzen und sich darüber freuen sehen, daß andere Jedermanns ihn beobachteten.

Diese Antwort erregte allgemeines Ärgernis. Der Bevollmächtigte beugte sich zu Fräulein Kiellands Stuhl hinüber und sagte ziemlich deutlich:

So eine lächerliche Anmaßung!

Sie erwachte. Schnell sah sie zu Nagel hin. Ganz bestimmt hatte er die Worte des Bevollmächtigten gehört, aber er schien sie sich nicht zu Herzen zu nehmen. Im Gegenteil, er trank dem jungen Studenten zu und begann mit gleichgültiger Miene von etwas anderem zu sprechen. Sein überlegenes Wesen ärgerte auch sie; Gott weiß, was er von ihnen allen denken mochte, wenn er glaubte, ihnen solch ein hochmütiges Geschwätz bieten zu dürfen! Welche Einbildung, welch ein Größenwahn! Als der Bevollmächtigte sie fragte: Ja, was meinen nun Sie? antwortete sie mit absichtlich lauter Stimme: Was ich meine? Ich meine: Kristiania ist mir gut genug.

Auch das störte Nagels Ruhe nicht. Als er diese laute Stimme hörte, die halb an ihn gerichtet war, begann er Fräulein Kielland mit nachdenklicher Miene anzusehen, als wolle er sich besinnen, womit er sie wohl ärgerlich gemacht haben könnte. Länger als eine Minute sah er sie beharrlich an, blinzelte mit den Augen, dachte nach und machte eine betrübte Miene dazu.

Jetzt aber hatte auch der Adjunkt erfaßt, wovon die Rede war, und protestierte dagegen, daß Kristiania kleiner sei als zum Beispiel Belgrad. Überhaupt sei Kristiania nicht kleiner als andere Hauptstädte von gleicher Größe …

Alle begannen zu lachen. Der Adjunkt sah zu komisch aus mit seinen heißen Wangen und seiner unerschütterlichen Überzeugung. Rechtsanwalt Hansen, ein kleiner dicker Mann mit einer goldenen Brille und einem blanken Schädel, lachte endlos über ihn, schlug sich auf die Schenkel und lachte.

Von gleicher Größe, von gleicher Größe! rief er. Kristiania ist nicht kleiner als andere Hauptstädte von gleicher Größe, von genau der gleichen Größe. Nicht viel kleiner. Ach du meine Güte! Prost!

Nagel begann wieder mit dem Studenten Öien zu sprechen. Ja, in seinen jüngeren Tagen habe auch er – Nagel – für Musik geschwärmt, und da besonders für Wagner. Aber das habe sich mit den Jahren verwischt. Er sei auch nie weiter gekommen, als daß er die Noten gelernt habe und ein paar Töne spielen konnte.

Auf dem Klavier? fragte der Student. Klavier war sein Fach.

Nein, pfui! Auf der Geige. Aber wie gesagt: ich erreichte nichts und hörte sofort damit auf.

Zufällig streiften seine Augen Fräulein Andresen, die jetzt seit mindestens einer Viertelstunde in einem Winkel am Kachelofen gesessen und sich mit dem Bevollmächtigten unterhalten hatte. Ihr Blick begegnete dem Nagels, rasch, unversehens, aber trotzdem rückte sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und blieb mitten in ihrer Rede stecken.

Dagny schlug sich mit einer zusammengefalteten Zeitung auf die Hand. Ihre langen weißen Finger trugen keine Ringe. Nagel musterte sie heimlich. Großer Gott, wie hübsch sie heute abend war! In dieser Beleuchtung sah ihre dicke helle Haarflechte vor der dunklen Wand noch heller aus. Ihr Körper verriet beim Sitzen eine kleine Spur von Üppigkeit, wenn sie sich aber erhob, verging dies wieder. Sie hatte einen leichten, wiegenden Gang, als sei sie viel Schlittschuh gelaufen.

Er stand auf und ging zu ihr hin.

Einen Augenblick nur hatten ihre dunkelblauen Augen auf ihm geruht, und ohne darüber nachzudenken, brach er plötzlich in die Worte aus:

Mein Gott, wie schön sind Sie!

Diese Offenherzigkeit machte sie ganz verwirrt, sie brachte den Mund nicht mehr zu und wußte sich nicht zu helfen. Dann flüsterte sie:

Aber so seien Sie doch ein wenig vernünftig!

Bald darauf erhob sie sich, ging zum Klavier und begann mit flammenden Wangen in einigen Noten zu blättern.

Der Doktor, der darauf brannte, über Politik zu sprechen, fragte plötzlich laut:

Haben Sie heute die Zeitungen gelesen? Der Teufel hol' mich, aber das »Morgenblatt« treibt es in diesen Zeiten doch zu arg! Das sind nicht mehr die Worte von gebildeten Menschen, das ist nur noch Pöbelei und Geschimpfe.

Wenn aber dem Doktor nicht widersprochen wurde, kam er nicht richtig in Schwung. Dies wußte Rechtsanwalt Hansen, und deshalb sagte er schlau und behaglich:

Wir wollen doch lieber zugeben, daß auf beiden Seiten Fehler gemacht werden.

Was meinst du damit? rief der Doktor und sprang auf. Du willst doch wohl nicht sagen, daß …

Der Tisch war gedeckt. Die Gesellschaft begab sich in das Eßzimmer, der Doktor sprach weiter. Das Gespräch wurde bei Tisch fortgesetzt. Nagel, der seinen Platz zwischen der Dame des Hauses und dem jungen Fräulein Olsen, der Tochter des Polizeimeisters, bekommen hatte, nahm nicht daran teil. Als man sich vom Tisch erhob, war man bereits weit in die europäische Politik vorgedrungen. Man äußerte seine Meinung über den Zaren, über Konstantin, über Parnell, und als man schließlich auf die Balkanfrage zutrieb, fand der betrunkene Adjunkt wieder Gelegenheit, sich über Serbien zu werfen. Er habe eben die »Statistische Monatsschrift« gelesen; es seien fürchterliche Zustände in Serbien, die Schulen vollkommen vernachlässigt …

Nur eines freut mich über alle Maßen, sagte der Doktor mit ganz feuchten Augen, das ist, daß Gladstone noch lebt. Aber jetzt brauen Sie sich eine gute Mischung, meine Herren, dann trinken wir auf das Wohl von Gladstone, ja, von Gladstone, diesem großen und reinen Demokraten, dem Mann der Gegenwart und der Zukunft!

Wart ein wenig, laß uns auch mittun! rief seine Frau. Und sie füllte die Gläser der Damen mit Wein, schenkte vor lauter Eifer daneben und reichte mit bebenden Händen das Brett umher.

Dann tranken alle.

Ja, ist das nicht ein Kerl? fuhr der Doktor fort und schnalzte mit der Zunge. Der Arme, jetzt war er eine Zeitlang erkältet, aber das geht hoffentlich vorüber. Keinen Politiker möchte ich jetzt so ungern verlieren wie Gladstone. Wenn ich an ihn denke, steht er wie ein Leuchtturm vor mir, über die ganze Welt hinausleuchtend! … Sie sehen so geistesabwesend aus, Herr Nagel; sind Sie nicht auch meiner Meinung?

Wie bitte? Natürlich bin ich ganz Ihrer Meinung.

Selbstverständlich. Ja, auch Bismarck imponiert mir in vielem; aber Gladstone!

Dem Doktor wurde immer noch nicht widersprochen, alle kannten seinen unaufhaltsamen Redestrom. Schließlich starb das Gespräch hin, so daß der Doktor ein Kartenspiel vorschlug, die Zeit damit zu vertreiben. Wer wollte mitspielen? Jetzt aber rief Frau Stenersen durch das ganze Zimmer:

Nein, so etwas! Wißt ihr, was mir Student Öien gerade erzählt? Sie, Herr Nagel, seien durchaus nicht immer so begeistert für Gladstone gewesen wie heute abend. Student Öien hat Sie einmal in Kristiania reden hören – war es nicht im Arbeiterverein? – wo Sie Gladstone ganz ordentlich heruntergerissen haben. Sie sind mir ein Netter! Ist das wirklich wahr? Ja, getrauen Sie sich nur!

Frau Stenersen sagte dies völlig arglos, mit lächelndem Mund, und streckte zum Scherz den Zeigefinger in die Höhe. Sie wiederholte, er müsse sagen, ob das wahr sei.

Nagel stutzte und erwiderte:

Das muß ein Irrtum sein.

Ich will nicht sagen, daß Sie Gladstone heruntergerissen haben, sagte Öien; aber Sie opponierten stark, ich erinnere mich auch noch daran, daß Sie sagten, Gladstone sei bigott.

Bigott! Gladstone bigott! schrie der Doktor. Da müssen Sie betrunken gewesen sein!

Nagel lachte.

Das war ich sicher nicht. Doch, vielleicht war ich betrunken, ich weiß es nicht. Es hört sich ja allerdings so an.

Weiß Gott, das tut es! sagte der Doktor zufriedengestellt.

Nagel wollte sich nicht erklären, er vermied, mehr zu sagen, und Dagny Kielland bat wieder Frau Stenersen, es weiter zu treiben.

Veranlassen Sie ihn doch, zu erzählen, was er gemeint hat. Das ist so unterhaltend.

Ja, aber was meinten Sie eigentlich damit? fragte Frau Stenersen. Es war Ihnen doch Ernst, als Sie opponierten? Das müssen Sie mir erklären! Sie machen uns außerdem ein Vergnügen damit; denn wenn Ihr jetzt anfangt, Karten zu spielen, dann wird es schrecklich langweilig.

Ja, wenn ich damit zur Unterhaltung beitrage –! antwortete Nagel.

Wollte er durch diese Bemerkung sich selbst oder seiner Rolle einen kleinen Streich spielen? Sein Mund verzog sich ein wenig.

Er begann damit, daß er sich des Abends, von dem Herr Öien spreche, nicht erinnern könne … Hat jemand von Ihnen Gladstone gesehen und ihn reden hören? Der Eindruck, den man von ihm am Rednerpult bekommt, ist: offener Lebenswandel, große Rechtschaffenheit. Es ist, als könne einfach von nichts anderem die Rede sein als von lauter gutem Gewissen. Wie sollte ein solcher Mann den großen Frevel begehen können, sich gegen Gott zu verfehlen! Und so tief ist er selbst von seinem guten Gewissen durchdrungen, daß er auch bei seinen Zuhörern das gleiche voraussetzt, tatsächlich sogar bei seinen Zuhörern nichts als gutes Gewissen voraussetzt.

Aber das ist doch ein schöner Zug von ihm! Das beweist seine Rechtschaffenheit und humane Denkungsart, unterbrach der Doktor. So etwas habe ich doch noch nicht gehört!

Das ist auch meine Meinung. Ich führe es ja nur zu seiner Charakteristik an, als einen hübschen Zug seines Bildes, hehehe. Ich will eine Begebenheit erwähnen, die mir jetzt eben einfällt; nein, ich brauche vielleicht nicht den ganzen Vorgang zu schildern, sondern nur den Namen Carey zu nennen. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, wie Gladstone, als er seinerzeit Minister war, die Anzeigen gegen den Verräter Carey aufnahm. Übrigens half er ihm später nach Afrika hinüber, um ihn vor der Rache der Fenier zu retten. Na, davon ist hier nicht die Rede, das ist eine andere Geschichte. Ich messe solchen Kleinigkeiten, zu denen ein Minister dann und wann vielleicht gezwungen sein kann, keinen allzu großen Wert bei. Nein, um auf das zurückzukommen, wovon wir ausgingen: es ist sicher, daß Gladstone als Redner aus lauter gutem Gewissen besteht … Wenn Sie nun Gladstone bei einer seiner Reden gehört oder gesehen hätten, brauchte ich nur noch auf seine Mienen während des Vortrages zu verweisen. Er ist seines guten Gewissens so sicher, daß sich dies sogar in seinem Blick, seiner Stimme, seiner Haltung und seiner Geste widerspiegelt! Seine Rede ist einfach und leicht faßlich, langsam und endlos; oh, wie ewig lang sie dauert. Sein Faden hört niemals auf! Sie müßten gesehen haben, wie er seine Bemerkungen rings im Saale verteilt. Diesem Eisenhändler hier ein wenig und jenem Kürschner dort ein wenig. Und wie er seine Worte einzuschätzen scheint, als gelte jedes einzelne eine Krone. Ja, das ist wirklich ein großartiger Anblick! Gladstone ist nämlich Ritter des unbestreitbaren Rechtes, und dessen Sache hält er hoch. Es würde ihm niemals einfallen, dem Irrtum irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Wenn er das Recht auf seiner Seite weiß, so gebraucht er es schonungslos, hebt es hervor, hebt es in den Himmel, läßt es vor den Augen der Zuhörer flattern, macht alle seine Widersacher zuschanden. Seine Moral ist von gesündester und dauerhaftester Art, er arbeitet für das Christentum, für den Humanismus und für die Zivilisation. Würde jemand diesem Mann soundso viele tausend Pfund anbieten, damit er eine unschuldig angeklagte Frau vom Schafott erlöse, würde er die Frau erlösen, das Geld mit Verachtung zurückweisen und hinterher sich das nicht im mindesten als Verdienst anrechnen. Durchaus nicht; er würde sich das nicht als Verdienst anrechnen; so ist er. Er ist ein unermüdlicher Kämpfer und eifrig bestrebt, Gutes auf unserem Erdball zu tun, ist täglich bereit, für das Recht, die Wahrheit und Gott zu kämpfen. Und was für Schlachten gewinnt er nicht! Zweimal zwei ist vier, die Wahrheit hat gesiegt, die Ehre gebühret Gott! … Nun, Gladstone kann es höher bringen als auf zweimal zwei ist vier; ich habe ihn in einer Budgetdebatte nachweisen gehört, daß siebzehnmal dreiundzwanzig dreihunderteinundneunzig ist, und er siegte vernichtend, siegte strahlend, er hatte wieder recht, und das Recht leuchtete aus seinen Augen, bebte in seiner Stimme und hob ihn zur Größe empor. Jetzt aber sah ich mir den Mann ernsthaft an. Ich begriff, daß er voll guten Gewissens war, aber trotzdem sah ich ihn mir genauer an. Ich stehe da und denke über seine dreihundertundeinundneunzig nach und finde, daß es stimmt. Dessenungeachtet aber schmecke ich ein wenig daran und sage zu mir: Nein, halt! siebzehnmal dreiundzwanzig ist dreihundertsiebenundneunzig! Ich weiß wohl, daß es einundneunzig ist, trotzdem aber sage ich gegen mein besseres Wissen siebenundneunzig, um auf einer anderen Seite zu stehen als dieser Mensch, dieser Professionist der Gerechtigkeit. Eine Stimme in mir verlangt: Erhebe dich, erhebe dich gegen dieses ewige Pochen auf das Recht! Und ich erhebe mich und sage vor lauter innerem und brennendem Bedürfnis siebenundneunzig, sage es, um mein Bewußtsein des Rechtes davor zu bewahren, daß es von diesem Mann, der so unbestreitbar auf der Seite des Rechtes steht, in Grund und Boden hineinbanalisiert werde …

Gott straf mich, aber so einen Nonsens habe ich auch noch nie gehört! rief der Doktor. Regt es Sie denn auf, daß Gladstone immer recht hat?

Nagel lächelte – ob aus Sanftmut oder aus Affektation, war nicht gut zu sagen, er fuhr fort:

Es empört mich nicht, auch demoralisiert es mich nicht. Na, ich darf nicht damit rechnen, hierin verstanden zu werden, aber es ist auch gleichgültig. Gladstone ist ein fahrender Herold des Rechtes und der Wahrheit, sein Gehirn ist von anerkannten Resultaten bis obenauf voll. Die größte Wahrheit unter der Sonne ist für ihn, daß zweimal zwei vier ist. Und können wir leugnen, daß zweimal zwei vier ist? Natürlich nicht, ich sage das auch nur, um zu zeigen, daß Gladstone ewig recht hat. Es kommt eben nur darauf an, ob man wahrheitsnärrisch genug ist, sich dies alles bieten zu lassen, ob unsere Erkenntnisfähigkeit vor lauter Wahrheit schon so lahm geworden ist, daß sie sich von einer unumstößlichen Tatsache einfach zu Boden schlagen läßt. Darum handelt es sich … Na, aber in dem Maße hat Gladstone recht, und ein so gutes Gewissen hat er, daß es ihm sicher niemals einfallen wird, freiwillig mit seinen Guttaten gegen unseren Erdball einzuhalten. Er muß ständig unterwegs sein, man braucht ihn überall. Und da schlägt er nun der Welt seine Weisheit in Birmingham und seine Weisheit in Glasgow um die Ohren, bringt einen Korkschneider und einen Advokaten zur gleichen politischen Anschauung, kämpft gewaltig für seine Überzeugung und strengt seine alten und getreuen Lungen auf das äußerste an, damit keines seiner kostbaren Worte den Zuhörern verlorengehen möge. Und wenn der Akt vorüber ist und das Volk gejubelt und Gladstone sich verbeugt hat, geht er des Abends heim und legt sich ins Bett, faltet die Hände, liest sein Gebet und schläft ein, ohne den geringsten Argwohn in seiner Seele zu fühlen, ohne sich darüber zu schämen, daß er Birmingham und Glasgow mit – ja womit erfüllt hat? Er hat nur das Gefühl, seine Pflicht gegen die Menschen und gegen sich selbst getan zu haben, und dann schläft er den Schlaf des Gerechten. Er wird nicht so sündig sein, zu sich selbst zu sagen: Heute hast du deine Sache schlecht gemacht, du hast die zwei Baumwollspinner auf der ersten Bank gelangweilt, der eine hat gegähnt, – er wird sich das nicht sagen, denn er ist nicht sicher, ob dies auch wahr sei. Und lügen will er nicht, denn Lügen ist Sünde, und Gladstone will nicht sündigen. Nein, er wird sagen: Mir war, als habe ein Mann gegähnt, es kam mir so vor. Merkwürdigerweise kam es mir so vor, als habe er gegähnt. Aber ich habe mich ganz sicher geirrt, der Mann gähnte wohl kaum. Hehehe … Ich weiß nicht, ob ich mich in diesem Sinn in Kristiania aussprach; aber das tut nichts. Auf jeden Fall gestehe ich, daß Gladstones Geistesgröße stets einen sehr wenig überwältigenden Eindruck auf mich gemacht hat.

Armer Gladstone! sagte der Bevollmächtigte Reinert.

Darauf antwortete Nagel nichts.

Nein, davon sprachen Sie in Kristiania nicht, erklärte Öien. Sie hatten Gladstone wegen seines Verhaltens gegen die Iren und Parnell angegriffen und sagten unter anderem, er sei kein bedeutender Geist. Das sagten Sie. Er sei groß und brauchbar, aber nur als eine äußerst allgemeine Kraft, als ein ungeheurer Kleiner Finger von Beaconsfield.

Ich weiß schon, man entzog mir das Wort, hehehe. Gut, aber ich bin auch damit einverstanden, warum nicht? Das wird es ja wohl nicht schlimmer machen. Doch richten Sie mich milde!

Da bemerkte Doktor Stenersen:

Nun sagen Sie einmal: gehören Sie eigentlich der rechten Partei an?

Erstaunt sperrte Nagel die Augen auf, dann brach er in Lachen aus und erwiderte:

Ja, was glauben Sie?

In diesem Augenblick läutete es an der Sprechzimmertüre des Doktors. Seine Frau sprang auf; natürlich, jetzt mußte der Doktor wieder fort, leider. Aber sonst dürfe noch niemand aufbrechen, durchaus nicht, auf keinen Fall vor zwölf Uhr. Fräulein Andresen möge sich nur einfach wieder hinsetzen; Anna sollte noch mehr heißes Wasser bringen, viel heißes Wasser. Es sei erst zehn Uhr.

Herr Bevollmächtigter, Sie trinken ja gar nichts.

Doch, er käme nicht zu kurz.

Ja, aber ihr dürft nicht aufbrechen. Ihr müßt alle miteinander hierbleiben. Dagny, du bist so still!

Nein, sie sei nicht stiller als sonst.

Jetzt kam der Doktor aus dem Sprechzimmer herein. Man möge ihn entschuldigen, er müsse fort; ein gefährlicher Fall, Verblutung. Na, es sei nicht so weit weg, in zwei, drei Stunden könne er wieder hier sein; er hoffe, die Gesellschaft dann noch zu treffen. Leben Sie wohl alle miteinander, leb wohl, Jetta.

Dann ging der Doktor schnell fort. Eine Minute später sah man ihn mit einem fremden Mann zusammen den Weg zur Landungsbrücke hinunterlaufen, solche Eile hatte er.

Frau Stenersen sagte:

Jetzt müssen wir uns etwas Lustiges ausdenken … Uff, Sie können mir glauben, oft ist es sehr langweilig, hier so allein zurückzubleiben, wenn mein Mann fortgeht. Besonders in den Winternächten ist es ganz schlimm, da bin ich manchmal nicht einmal sicher, daß er wieder zurückkommt.

Gnädige Frau haben keine Kinder, wie ich sehe? fragte Nagel.

Nein, keine Kinder … Na, allmählich gewöhne ich mich ja an diese langen Nächte; aber im Anfang war es ganz abscheulich. Ich versichere Ihnen, ich hatte solche Angst, Angst vor der Dunkelheit – ja, leider fürchte ich mich vor der Dunkelheit –, daß ich manchmal aufstehen und zum Mädchen hinausgehen mußte, um bei ihr zu schlafen … Nein, jetzt mußt du auch einmal etwas sagen, Dagny! Woran denkst denn du? An den Liebsten natürlich.

Dagny wurde rot, lachte verlegen und antwortete:

Freilich habe ich an ihn gedacht. Das ist doch begreiflich. Aber frag doch lieber, an was der Bevollmächtigte Reinert denkt; er hat den ganzen Abend kein Wort gesagt.

Der Bevollmächtigte erhob Einspruch; er habe mit den Damen Olsen und Andresen geschwätzt, sozusagen im stillen eine größere Tätigkeit entfaltet, sei die ganze Zeit sehr angeregt gewesen, habe sich bemüht, den politischen Auseinandersetzungen der anderen zu folgen, kurz gesagt …

Fräulein Kiellands Verlobter ist nämlich wieder auf See, sagte Frau Stenersen zu Nagel. Er ist Marineoffizier, sein Schiff ist nach Malta gegangen, – war es nicht Malta?

Ja, nach Malta, erwiderte Dagny.

Bei solchen Menschen geht es schnell mit dem Verloben! Er kommt auf drei Wochen zu seinen Eltern heim, und dann eines Abends … Ja, diese Leutnants!

Frische Leute! sagte Nagel. In der Regel schöne, wettergebräunte Menschen mit keckem Sinn und offenen Gesichtern. Auch ihre Uniform sei so schön, und sie trügen sie mit Geschmack. Doch, die Seeoffiziere hätten ihn immer bezaubert.

Da wendet sich plötzlich Fräulein Kielland an Herrn Öien und fragt lächelnd:

Ja, das sagt Herr Nagel jetzt. Was aber hat er in Kristiania gesagt?

Alle lachten; der Rechtsanwalt Hansen rief berauscht:

Ja, was hat er in Kristiania gesagt – in Kristiania? Was hat Herr Nagel dort gesagt? Hahaha, du meine Güte! Prosit!

Nagel stieß mit ihm an und trank. Er habe wirklich immer eine Schwäche für die Seeoffiziere gehabt. Er wolle sogar noch weiter gehen und sagen, wäre er ein Mädchen, würde er nur einen Seeoffizier haben wollen, sonst lieber gar keinen Mann.

Darüber lachte man wieder; begeistert stieß der Rechtsanwalt mit allen Gläsern an, die er auf dem Tisch fand, und trank. Aber Dagny sagte plötzlich:

Aber den Leutnants wird immer nachgesagt, daß sie nicht sehr begabt seien. Das glauben Sie also nicht?

Unsinn. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde er als Mädchen trotzdem einen hübschen Mann einem klugen Mann vorziehen. Unbedingt! Und besonders, wenn er ein junges Mädchen wäre. Was tut man mit einem Gehirn ohne den Körper? Ja – man könne zwar auch sagen: Was tut man mit einem Körper ohne Gehirn? Aber das ist, zum Satan, doch ein Unterschied. Shakespeares Eltern konnten nicht lesen. Nun, Shakespeare selbst konnte wohl auch nicht besonders gut lesen, und er ist doch eine historische Erscheinung geworden. Wie dem aber auch sei, ein Mädchen müsse doch wohl eher eines gelehrten und häßlichen Mannes überdrüssig werden als eines schönen und dummen Mannes. Nein, wenn er ein junges Mädchen wäre und die Wahl hätte, dann würde er vor allen Dingen einen schönen Mann nehmen. Um die Ansichten dieses Mannes über norwegische Politik und Nietzsches Philosophie und Gottes Dreieinigkeit, um die würde er sich den Teufel scheren.

Hier können Sie Fräulein Kiellands Leutnant sehen, sagte Frau Stenersen und brachte ein Album.

Dagny sprang auf. Es entfuhr ihr ein Nein –! Aber gleich darauf setzte sie sich wieder hin.

Das Bild ist schlecht, sagte sie dann; er sieht noch viel besser aus.

Nagel sah einen hübschen jungen Mann mit Vollbart.

Aufrecht und frei saß er an einem Tisch und hatte die Hand am Säbel. Sein etwas spärliches Haar war in der Mitte gescheitelt; er sah ein wenig englisch aus.

Ja, das ist wahr, er ist viel hübscher, als er auf dem Bild aussieht, sagte auch Frau Stenersen. Ich war selbst einmal in meinen Mädchentagen in ihn verliebt …

Aber sehen Sie diese Photographie hier an. Das ist ein junger Theologe, der jetzt gestorben ist, sein Name war Karlsen. Er ist vor kurzer Zeit umgekommen. Das war so traurig. Nicht wahr? Jawohl, wir haben ihn vorgestern begraben.

Das Bild zeigte ein kränklich aussehendes Wesen mit hohlen Wangen und mit Lippen, so schmal und zusammengekniffen, daß sie nur wie ein Strich im Gesicht aussahen. Die Augen waren groß und dunkel, die Stirne ungewöhnlich hoch und klar; doch die Brust war flach und die Schultern nicht breiter als die einer Frau.

Das war Karlsen.

So sah er also aus.

Nagel dachte bei sich, daß diesem Gesicht erfrorene Hände und die Theologie entsprechen müßten. Er wollte eben bemerken, es sei dies ein unheimliches Gesicht, als er beobachtete, wie der Bevollmächtigte Reinert seinen Stuhl zu Dagny rückte und mit ihr zu sprechen begann. Da blätterte er in dem Album weiter, vor und zurück, und schwieg, um nicht zu stören.

Da Sie heute abend über meine Schweigsamkeit geklagt haben, sagte der Bevollmächtigte, ist es mir vielleicht erlaubt, Ihnen ein Begebnis von der letzten Kaiserreise zu erzählen, eine wahre Geschichte. Sie fiel mir jetzt gerade ein …

Sie unterbrach ihn und sagte leise:

Was haben Sie denn den ganzen Abend über in der Ecke dort hinten für Späße getrieben? Sagen Sie mir lieber das. Ich wollte Ihnen doch nur einen Wink geben, als ich sagte, Sie seien schweigsam gewesen. Sie waren natürlich wieder boshaft. Es ist wirklich häßlich von Ihnen, immer die Leute nachzuäffen und alle möglichen Possen zu treiben. Er bildet sich ja wirklich schrecklich viel auf den eisernen Ring am kleinen Finger ein, hält ihn in die Höhe und sieht ihn an und putzt ihn. Na, aber er tut das vielleicht in Gedanken. Jedenfalls haben Sie es übertrieben. Im übrigen aber ist er so hochmütig und verschroben, daß er es gar nicht besser verdient. Du aber, Gudrun, bist wirklich zu weit gegangen. Er hat ganz sicher gemerkt, daß du über ihn gelacht hast.

Gudrun kam näher, verteidigte sich, behauptete, daß die Schuld einzig und allein den Bevollmächtigten treffe, er sei so komisch, so unwiderstehlich gewesen. Schon allein die Art, wie er gesagt habe: Gladstones Größe hat mir nie imponiert – mir!

Still, du sprichst auch jetzt wieder zu laut, Gudrun. Er kann dich hören, ja, wirklich, er wandte sich um. Hast du übrigens bemerkt, daß es ihm gar nichts ausmacht, wenn er unterbrochen wird? Nicht wahr? Er sieht uns dann nur beinahe traurig an. Denk dir, ich bereue schon wieder, daß wir hier sitzen und über ihn klatschen. Ja, erzählen Sie Ihre Geschichte von der Kaiserreise, Bevollmächtigter.

Und der Bevollmächtigte erzählte. Da es kein Geheimnis war, sondern eine ganz unschuldige Begebenheit mit einer Frau und einem Blumenstrauß, sprach der Bevollmächtigte lauter und lauter, so daß ihm schließlich alle Anwesenden zuhörten. Die Geschichte war umständlich und dauerte mehrere Minuten. Als sie zu Ende war, sagte Fräulein Andresen:

Herr Nagel, erinnern Sie sich an gestern abend, an die Geschichte von dem Sängerchor auf dem Mittelmeer …?

Rasch schlug Nagel das Album zu und sah beinahe entsetzt auf. War das Spiel oder Aufrichtigkeit? Er antwortete leise, daß er sich vielleicht in Einzelheiten getäuscht haben könne, aber das sei nicht mit Absicht geschehen, und er habe die Geschichte nicht erfunden, sie sei ein Erlebnis.

Nein, Bester, ich wollte auch nicht sagen, daß Sie sie erfunden haben, antwortete sie lachend. Aber erinnern Sie sich auch, was Sie antworteten, als ich es schön fand? Daß Sie nur einmal vorher etwas Schöneres gehört hätten, und das sei im Traum gewesen.

Doch, er erinnerte sich, er nickte.

Wollen Sie uns nicht auch diesen Traum erzählen! Doch, tun Sie das. Sie erzählen so merkwürdig. Wir bitten Sie alle miteinander.

Aber er schlug es ab. Er brachte viele Entschuldigungen vor, sagte, es sei nur unbedeutend, ein Traum ohne Anfang und Ende, nur der Hauch einer Vorstellung im Schlafe. Nein, das könne mit Worten nicht wiedergegeben werden; es gäbe viele solcher vager, flüchtiger Wahrnehmungen, die man nur wie Strahlen fühlen könne, und die plötzlich wieder weg seien. Man könne verstehen, wie dumm das Ganze sei, wenn er sage, der Traum habe sich in einem weißen Wald aus Silber abgespielt …

Also gut, in einem Wald aus Silber. Und weiter?

Nein. Er schüttelte den Kopf.

Er wolle ihr sehr gerne alles mögliche zu Gefallen tun, – ja, sie solle ihn nur auf die Probe stellen. Aber diesen Traum könne er nicht erzählen, das müsse sie ihm glauben.

Gut, aber dann etwas anderes. Wir bitten Sie alle darum.

Er tauge nicht dazu, nicht heute abend. – Verzeihung.

Dann fielen einige gleichgültige Worte, ein paar kindische Fragen und Antworten, der reine Unsinn. Dagny sagte:

Sie könnten Fräulein Andresen alles mögliche zu Gefallen tun, was könnten Sie da zum Beispiel tun?

Man lachte über diesen Einfall, und Dagny selbst lachte mit. Nach kurzem Bedenken sagte Nagel:

Für Sie könnte ich etwas Schlimmes tun.

Für mich also etwas Schlimmes? Lassen Sie hören. Einen Mord zum Beispiel?

O ja. Ich könnte einen Eskimo erschlagen, ihm die Haut abziehen und daraus eine Briefmappe für Sie machen.

Nein, wirklich? Jetzt aber zu Fräulein Andresen, was könnten Sie für sie tun? Etwas unerhört Gutes?

Ja, das könnte ich vielleicht, ich weiß nicht. Übrigens, das mit dem Eskimo habe ich einmal gelesen. Sie dürfen nicht glauben, daß das meine eigene Erfindung sei.

Pause.

Sie sind doch alle wirklich außerordentlich liebenswürdige Menschen, sagte er dann. Die ganze Zeit wollen Sie, daß ich mich geltend machen und vor allen anderen meine unwichtigen Dinge besprechen soll. Nur weil ich ein Fremder bin.

Der Adjunkt sah verstohlen auf die Uhr.

Sie wissen doch, sagte Frau Stenersen, Sie dürfen nicht fortgehen, bevor mein Mann zurückgekommen ist. Strengstens verboten. Machen Sie, was Sie wollen – gehen dürfen Sie nicht.

Dann bot man Kaffee an, und alle wurden gleich wieder lebhafter.

Der Rechtsanwalt, der mit dem jungen Studenten disputiert hatte, sprang auf. Dieser dicke Mann schnellte leicht wie eine Feder empor und klatschte laut und entzückt Beifall. Selbst der Student rieb sich die Hände, ging zum Klavier und schlug ein paar Akkorde an.

Ach ja, rief die Hausfrau, wie konnten wir vergessen, daß Sie Klavier spielen. Jetzt müssen Sie uns aber noch mehr zum besten geben, doch, wirklich!

Und der Student wollte ja gerne spielen. Er könne nicht viel, falls man jedoch gegen ein wenig Chopin nichts einzuwenden habe … Oder vielleicht einen Walzer von Lanner …

Nagel applaudierte dem Spiel eifrig und sagte zu Dagny:

Nicht wahr, wenn man solche Musik hört, möchte man gern in einiger Entfernung davon sitzen, in einem Seitenzimmer, irgendwo, die Hand des geliebten Wesens festhalten und schweigen! Ich weiß nicht – ich habe mir immer vorgestellt, daß dies herrlich sein müsse.

Sie musterte ihn. Meinte er wirklich, was er da zusammenschwätzte? In seinem Gesicht war keine Ironie, und deshalb ging sie auf den gleichen banalen Ton ein:

Ja. Aber dann dürfte es nicht zu hell im Zimmer sein; nicht wahr? Und man müßte in weichen und niedrigen Stühlen ruhen. Und draußen müßte es regnen und dunkel sein.

Sie war an diesem Abend ganz ungewöhnlich schön. Diese dunklen Augen in dem lichten Gesicht übten eine starke Wirkung aus. Obwohl sie keine ganz weißen Zähne hatte, lachte sie gerne, lachte sogar über ganz unbedeutende Dinge; der Mund war rot und voll, man wurde sofort auf ihn aufmerksam. Aber das Merkwürdigste war vielleicht: so oft sie sprach, glitt ein roter Schimmer über ihre Wangen und war dann gleich wieder fort.

Nein, jetzt ist der Adjunkt doch schon wieder verschwunden! rief die Frau des Doktors. Natürlich, natürlich! Mit dem ist nichts anzufangen, der bleibt sich immer gleich. Ich hoffe, daß wenigstens Sie, Herr Bevollmächtigter, gute Nacht sagen, bevor Sie gehen.

Der Adjunkt war durch die Küche gegangen, hatte sich in aller Stille, wie er das immer zu tun pflegte, weggeschlichen, müde nach seinem Rausch, bleich und verwacht, und war nicht mehr zurückgekommen. Nagels Gesicht wechselte bei dieser Nachricht plötzlich den Ausdruck. Sie erweckte sofort die Idee in ihm, daß er es wagen könne, Dagny seine Begleitung durch den Wald an Stelle des Adjunkten anzubieten. Er wartete auch nicht damit, sondern bat sie sogleich, bat sie sowohl mit den Augen wie mit seinem gesenkten Kopf, und fügte schließlich hinzu:

Und ich werde so brav sein!

Sie lachte und erwiderte:

Ja, ja, wenn Sie das sein wollen, dann gerne.

Jetzt wartete er nur noch darauf, daß der Doktor käme, damit man aufbrechen könne. Bei der Aussicht auf diesen Weg durch den Wald wurde er lebhafter als vorher, sprach über alles mögliche mit, brachte alle zum Lachen und war ausgesucht liebenswürdig. Er war so hingerissen, so voller Glück, daß er sogar versprach, Frau Stenersens Garten anzusehen und, da er ein halber Fachmann sei, die Erde in der unteren Ecke des Gartens, in der die kranken Johannisbeersträucher standen, zu untersuchen. Doch, er würde mit dem Übel schon fertig werden, wenn er seinen Spruch und seine Beschwörungsformel darüber sagen würde.

Ob er auch hexen könne?

Er pfusche überall hinein. Hier trage er zum Beispiel einen Ring, einen unansehnlichen Ring aus Eisen, der jedoch die wunderbarsten Eigenschaften besitze. Sollte man das glauben, wenn man ihn sehe? Wenn er eines Abends diesen Ring um zehn Uhr verlieren würde, müsse er ihn bis längstens zwölf Uhr wiederfinden, sonst erginge es ihm schlimm. Er habe ihn von einem uralten Griechen bekommen, einem Kaufmann im Piräus. Allerdings habe er diesem Mann einen Dienst geleistet und ihm außerdem einen Ballen Tabak für den Ring geschenkt.

Ob er denn wirklich daran glaube?

Ja, ein wenig. Wirklich! Dieser Ring habe ihn schon einmal geheilt.

In der Richtung des Hafens hörte man einen Hund bellen. Frau Stenersen sah auf die Uhr, ja, das war der Doktor, sie kannte den Hund. Oh, das war schön; erst zwölf Uhr, und er kam schon wieder zurück! Sie klingelte und ließ noch mehr Kaffee bringen.

Soso, ein solch merkwürdiger Ring ist das, Herr Nagel? Und Sie glauben ganz fest an ihn?

Ziemlich fest. Das heißt: er hatte guten Grund, nicht ganz an ihm zu zweifeln. Ja, sei es denn nicht gleichgültig, woran man glaube, wenn man nur selbst, in seinem Innern, das eine für so gut halte wie das andere? Der Ring habe ihn von Nervosität geheilt, habe ihn widerstandsfähig und stark gemacht.

Frau Stenersen lachte zuerst, begann aber dann ihm heftig zu widersprechen. Nein, sie könne dieses blasierte Geschwätz nicht ausstehen – er möge verzeihen, sie nenne es blasiertes Geschwätz – und sie sei überzeugt, daß auch Herr Nagel selbst nicht glaube, was er sage. Wenn man schon von gebildeten Menschen so etwas höre, was müsse man sich da erst vom gewöhnlichen Mann erwarten? Wo käme man da hin? Dann könnten ja auch die Ärzte einpacken.

Nagel verteidigte sich. Eines sei doch beinahe so gut wie das andere. Wille, Glaube und Anlage, darauf käme es beim Kranken an. Die Ärzte aber brauchten deswegen nicht einzupacken, die hätten auch ihre Gemeinde, ihre Gläubigen, die hätten die gebildeten Menschen, und die gebildeten Menschen ließen sich mit Mixturen heilen, während die Ketzer, die gemeinen Leute, mit eisernen Ringen, verbrannten Menschenknochen und Kirchhoferde geheilt würden. Hatte man nicht Beispiele dafür gesehen, daß Patienten vom klaren Wasser gesund wurden, wenn man ihnen nur vorsagte, daß es ein ausgesuchtes Heilmittel sei? Welche Erfahrungen hatte man nicht unter anderem bei den Morphiumkranken gesammelt? Wenn man solche merkwürdigen Ereignisse erlebte, sei es doch denkbar, daß der nichtdoktrinäre Mensch sich den Teufel um das Ganze kümmere und in puncto Glauben an die ärztliche Wissenschaft seine Unabhängigkeit erkläre. Na, im übrigen aber dürfe man nicht den Eindruck haben, daß er sich auf diese Sachen verstehen wollte, er sei kein Fachmann und habe in dieser Beziehung keine Kenntnisse. Und schließlich sei er gerade so guter Laune, daß er auch den anderen die Stimmung nicht verderben möge. Die gnädige Frau müsse ihm wirklich verzeihen, sie alle müßten ihm verzeihen.

Alle Augenblicke sah er auf die Uhr und knöpfte bereits seine Jacke zu.

Mitten in dieses Gespräch platzte der Doktor herein. Er war nervös und verstimmt, wünschte mit erzwungener Lebhaftigkeit guten Abend und dankte seinen Gästen, weil sie noch nicht gegangen waren. Na ja, mit dem Adjunkten war nicht zu rechnen, und Friede sei mit ihm; aber sonst war die Gesellschaft vollzählig. – Ja, das sei ein Kampf in dieser Welt!

Er begann, wie es seine Gewohnheit war, von der Fahrt zu sprechen. Seine saure Miene schrieb sich von seinen Patienten her, die seine Erwartungen enttäuscht hatten. Wie Blödsinnige und Esel hätten sie sich aufgeführt, am liebsten hätte er sie einsperren lassen mögen. Ein solches Haus! Die Frau krank, der Vater der Frau krank, der Sohn der Frau krank. Und ein Geruch in dem ganzen Haus! Na, aber der Rest der Familie trotzdem frisch und rotbackig, die kleinen Kinder von Gesundheit förmlich strotzend. Einfach unbegreiflich, fabelhaft. Nein, das verstehe er nicht! Da lag nun dieser alte Mann, der Vater der Frau, mit einer großen Wunde da, die er sich mit dem Beil zugefügt hatte. Dann habe man eine Frau, die besprechen konnte, kommen lassen, und die hat das Blut auch ganz richtig gestillt. Womit aber hat sie es gestillt? Empörend, strafbar, nicht zu sagen, es stank danach; oh, es war, um aus der Haut zu fahren! Und außerdem wäre bei der nächsten Gelegenheit der kalte Brand in die Wunde gekommen! Ja, wäre er heute abend nicht dort gewesen, dann mochte Gott wissen, was geschehen wäre! Man sollte das Kurpfuschergesetz erweitern, das sollte man wirklich, und es in die Hände von Leuten legen, die … Nun, das Blut war gestillt. Aber jetzt kommt der Sohn, der erwachsene Sohn, ein langer Schweinepelz, der sich im Gesicht einen Ausschlag zugezogen hatte. Ich hatte ihm neulich die Salben gegeben und ausdrücklich gesagt: Diese gelbe Salbe eine – eine – Stunde lang und die weiße Salbe, die Zinksalbe, den Rest des Tages. Was tut er? Nimmt natürlich die falsche Salbe, benützt die weiße eine Stunde lang, und die gelbe, die wie die Hölle brennt und zieht, läßt er den ganzen Tag und die ganze Nacht aufliegen. Und so treibt er es zwei Wochen. Das Merkwürdigste aber ist: der Bursche hält es aus, erholt sich, erholt sich trotz seiner Dummheit, wird gesund! Ein Rindvieh, das gesund wird, wenn es auch das reinste Teufelszeug anwendet! Heute abend zeigt er mir Mund und Wangen, auf denen nicht eine Runzel zu sehen ist. Glück, Schweineglück! Der Mann hätte sein Gesicht auf lange Zeit zerstören können. Glaubt ihr etwa, er zuckte mit der Wimper dabei? … Dann noch die Mutter des Burschen, die Frau. Sie ist krank, entkräftet, matt, schwindlig, nervös, hat schlechten Appetit und Ohrensausen. Baden! sage ich, baden und waschen, Wasser an den Körper, zum Teufel! Iß Kalbfleisch, mach die Fenster auf und laß frische Luft herein! Keine nassen Füße, Bewegung im Freien, wirf das Buch dort, den Johan Arendt, ins Feuer, und so weiter. Vor allem aber baden und Abreibungen und wieder baden, sonst hilft meine Medizin nicht. – Nun, Kalbfleisch konnte sie sich nicht leisten, das mochte noch angehen; aber sie badet, badet, wäscht sich ein wenig Dreck ab, dann aber friert sie, friert, die Zähne klappern ihr von so viel Reinlichkeit, und da hört sie wieder auf mit all dem Wasser! Sie könne es nicht mehr aushalten, so sauber zu sein! Was nun? Ja, sie habe sich jetzt eine Kette verschafft, eine Gichtkette, ein Voltakreuz, oder wie es heißt, und das hängt sie sich um. Ich frage, ob ich das Ding sehen könne, eine Zinkplatte, ein Fetzen, ein paar Haken, ein paar kleinere Haken, das ist das Ganze. Zum Teufel sage ich, wozu benützen Sie das? Ja, das habe ihr ein wenig geholfen, wirklich geholfen, es habe die Schmerzen im Kopf gelindert, habe sie wieder ein wenig erwärmt. Jawohl, diese Haken und diese Zinkplatte haben ihr geholfen! Was soll man da machen? Ich könnte auf ein Stück Holz spucken und es ihr geben, und es würde ihr genau soviel helfen. Aber sagen Sie ihr das einmal! Werfen Sie den Schund weg, rufe ich, sonst behandle ich Sie nicht mehr, rühre Sie nicht mehr an! Und was glauben Sie, daß sie tut? Sie hält die Zinkplatte fest und läßt mich gehen! Hihihi, läßt mich gehen! Großer Gott! Nein, man sollte nicht Arzt werden, man sollte Medizinmann sein …

Aufgeregt setzt sich der Doktor zum Kaffee. Seine Frau wechselt einen Blick mit Nagel, dann sagt sie lachend:

Herr Nagel hätte es genau so wie diese Frau gemacht. Wir haben eben, bevor du kamst, darüber gesprochen. Herr Nagel glaubt nicht an deine Wissenschaft.

So, Herr Nagel tut das nicht! bemerkte der Doktor kurz. Ja, ja, das muß Herr Nagel halten, wie er will.

Ärgerlich, gekränkt, voller Zorn auf diese schlechten Patienten, die seine Anordnungen umgangen hatten, trank der Doktor schweigend seinen Kaffee. Er war erbittert darüber, daß alle dasaßen und ihn ansahen. – So tut doch irgend etwas, rührt euch, sagte er. – Nach dem Kaffee aber wurde er wieder munter, sprach eine Weile mit Dagny, machte sich über den Mann, der ihn zu den Kranken gerudert hatte, lustig, kam wieder auf seine Unannehmlichkeiten als Arzt zu sprechen und wurde von neuem erregt. Noch war es ihm unmöglich, dieses Versehen mit den Salben zu vergessen. Das alles miteinander sei nur Roheit und Aberglaube und Eselei. Im großen und ganzen herrsche bei dem gemeinen Volk doch eine schreckliche Unwissenheit.

Ja, aber der Mann war doch gesund.

Der Doktor hätte Dagny am liebsten aufgefressen, als sie das sagte. Er richtete sich auf. Der Mann wurde gesund; ja, aber was weiter? Das schließt doch nicht aus, daß die Dummheit bei dem gemeinen Volk himmelschreiend ist. Der Mann wurde gesund, ja, das wurde er; wenn nun aber der Bursche sich das Maul ganz weggebrannt hätte? Wollte man etwa eine so viehische Dummheit verteidigen?

Dieser schmähliche Zusammenstoß mit einem Bauernlümmel, der seinen Vorschriften gerade entgegen gehandelt hatte und doch geheilt worden war, irritierte den Doktor mehr als alles andere und machte seinen sonst so milden Blick hinter den Brillengläsern ganz wild. Er war von dem hinterlistigsten Zufall hinters Licht geführt, um einer Zinkplatte willen auf die Seite gesetzt worden, und er vergaß dies nicht, ehe er außer dem Kaffee auch noch ein Glas starken Toddys getrunken hatte. Dann sagte er plötzlich:

Du, Jetta, ich gab dem Mann, der mich holte, fünf Kronen, damit du Bescheid weißt. Hahaha, so einen Burschen habe ich auch noch nie gesehen, sein ganzer Hosenboden war weg; aber eine Körperkraft und eine Gleichgültigkeit! Der reine Satan! Den ganzen Weg über sang er. Er glaubte steif und fest, daß er den Himmel mit einer Angelrute berühren könne, wenn er auf dem Gipfel des Etjeberges stehen würde. Du müßtest da wohl auf den Zehen stehen, sagte ich. Das verstand er nicht, er nahm es für Ernst und schwor darauf, daß er so gut wie nur irgendeiner auf den Zehen stehen könne. Hahaha, hat man so etwas gehört! Aber unterhaltend war er.

Endlich erhob sich Fräulein Andresen, um zu gehen, und da standen alle auf. Als Nagel gute Nacht sagte, dankte er so warm, so aufrichtig, daß er den Doktor, der in der letzten Viertelstunde ein wenig süß-sauer gegen ihn gewesen war, vollständig entwaffnete. Kommen Sie doch bald wieder! Sagen Sie, haben Sie eine Zigarre? So nehmen Sie sich noch eine Zigarre mit auf den Weg. Und der Doktor nötigte ihn noch einmal hinein, damit er sich eine Zigarre mitnehme.

Unterdessen stand Dagny bereits fertig angezogen auf der Treppe und wartete.


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