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Constanzia Zierenberg-Kerschenstein saß an einem der Straßenfenster ihres Hauses und blickte gedankenvoll vor sich hin. Eine von den Handarbeiten, in deren kunstvoller Anfertigung sie weit und breit berühmt war, hatte sie vor sich im Schoß liegen. Sie mochte ihr mitten in der Träumerei, von der sie befallen war, aus den Händen entglitten sein.

Plötzlich schrak sie zusammen. Unten war die Haustür auf- und wieder zugegangen. Wahrscheinlich war es ihr Mann, der Ratsherr, der jetzt zur Mittagsstunde aus seiner Amtsstube im Rathaus zurückkehrte. Wieder spielte bei dem Gedanken daran der flüchtige Schein dieses Lächelns, das noch keiner so recht ergründet hatte, um ihre Mundwinkel. Sie strich sich mit der Hand leicht über ihre Stirn.

Wo war sie gewesen? Was waren das für Erinnerungen, die aus dem immer mehr sich vertiefenden Nebel der Jahre um so klarer und zum Greifen sichtbar vor sie hintraten, so daß sie wie von einem unerklärlich bangen Weh an ihr Herz greifen mußte? Nein, es war nicht der junge franzmännische Baron, mit dem sie damals – mein Gott! es war nun schon im vierten Jahr seitdem – jene französischen Lieder in gewohnter italienischer Manier gesungen und sich dann auf dessen französische Modulation eingeübt hatte. Wie hätte sie, die reife Frau, um die nun schon große Kinder aufwuchsen, ihr Herz an einen nichtssagenden jungen Fant, dessen einzige Vorzüge seine wohllautende Stimme und gute Manieren waren, verlieren sollen? Konnte man ihr wirklich dergleichen Selbstvergessen und Verblendung zutrauen? Und doch hatten es gewiß so manche von den lieben Verwandten und nun gar von den noch lieberen Freundinnen getan. Ach! Wozu die alte Wunde wieder aufreißen? Sie hatte in dieser dumpfen Stadt, in dieser engen Welt, darin ihr Leben verfloß, keine Menschenseele, mit der sie sich einmal aus tiefstem Herzensgrund aussprechen, der sie sich anvertrauen, sich entdecken, von der sie sich verstanden, begriffen fühlen konnte. Wo sie um sich blickte, wo ihr Herz auch suchte, es war niemand da: nicht ihr Mann, der Ratsherr, dem sie auch in wärmeren Stunden kaum mehr als respektvolle Achtung, gepaart mit dem Mitgefühl für sein quälendes Leiden, entgegenbrachte; nicht ihre Base Anna, die seit Jahren kaum mehr ihren Fuß in die Stadt gesetzt hatte und da draußen bei ihrem Proen, bei ihren Kühen, Pferden und Jagdhunden langsam zu verbauern schien. Aber auch nicht er, auf den sie damals vor Jahren bei seinem ersten Erscheinen noch alle ihre Hoffnung gesetzt hatte, er, der Meister der deutschen Poeterei, Martin Opitz: war nicht auch er nur eine Enttäuschung, nur ein Blendwerk mehr gewesen? Zu seiner Göttin, zu seiner Muse hatte er sie erkoren, hatte ihren Namen an den Sternenhimmel schreiben wollen gleich dem einer Laura des großen Petrarca! Und was war aus allen den schönen Reden, den großen Worten des Leichtfertigen geworden? Was hörte man jetzt von ihm? Als ein zügelloser Libertiner und Abenteurer, dessen Muse zu sein man sich schämen mußte, paradierte er vor dem Angesicht der ganzen Stadt! Nein, nur einer hatte die ganze Empfindsamkeit ihrer mimosenhaften Seele richtig verstanden! Hatte das Feuer seiner Liebe – ja, wozu es vor sich selbst verhehlen? –, seiner Leidenschaft, seiner Anbetung in strenger Zucht bis zum allerletzten Moment gezügelt, gebändigt, so daß es zu reiner klarer Flamme geläutert gleich dem Scheidegruß der untergehenden Sonne die Stunde des Abschiednehmens »pour toujours« sanft und hold verklärte und weiterleuchtete bis heute nach so manchen Jahren noch. Ruhte nicht ein zärtlicher Schimmer davon auch noch auf dem Brief, den ihr an diesem Morgen die Post aus Paris von ihm, dem Grafen d'Avaux, dem einstigen Chef der gallischen Ambassade, ins Haus gebracht hatte und den sie jetzt wieder aus ihrem Busen zog, um ihn ein fünftes oder sechstes Mal wiederzulesen? Welch ein Meister des galanten und doch so beherrschten, niemals über das Ziel schießenden Briefstils ebenso wie einst der mündlichen Rede und Gegenrede war doch dieser überlegene weltmännische Kavalier! Welch ein Genuß für den nachempfindenden Geist, nicht nur für eine trügerische weibliche Eitelkeit, war es doch, sich dem Zauber dieser volltönenden französischen Sätze und geschmeidigen Wendungen hinzugeben, hinter deren jeder sie die zeitüberdauernde unverbrüchliche Verehrung und Anbetung des fernen platonischen Liebhabers zu vernehmen glaubte!

Sie hörte ein leises Geräusch hinter sich und steckte mit einer raschen Wendung den teuren Brief wieder an die Stelle zunächst ihrem Herzen zurück. Gleich darauf fühlte sie den Hauch von zwei bärtigen Lippen, die ihr Haar berührten.

»Du bist es, bester Mann?« sagte sie, in ihrer zurückgelehnten Stellung verharrend.

»Ja, ich bin es, Constanzia! Ich, dein Mann! ... Wer sollte es denn sonst sein?«

»Ja, du hast recht, Kerschenstein. Wer sollte es sonst sein!« erwiderte sie mit einem kaum noch hörbaren Seufzen. »Verzeih'! Es war dumm und albern von mir. Man verfällt nur zu leicht in das Alltägliche und Triviale und sollte doch darauf bedacht sein, es von sich fernzuhalten, wie man den Rost von seinen Messern und Gabeln fernhält.«

»Wie hübsch du das wieder in Worte gefaßt hast, Constanzia!« erwiderte er, jetzt vor ihr stehend. »Man merkt, daß du immer noch bei deinen einstigen Freunden von jener Ambassade in die Schule gehst.«

Sie errötete leicht und nahm ihr Tüchel zur Hand.

»Es waren auch die deinen, Bester.«

»Doch wohl mehr aus zweiter Hand, Constanzia.«

Er stand noch vor ihr, wiegte den Kopf, wie es seine Gewohnheit war, und blickte auf sie hinunter. »Was schreibt Seine Erlaucht, der Graf?«

»Willst du es lesen?« lächelte sie und machte eine Bewegung, wie um den Brief hervorzuziehen.

Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.

»Ich bin nicht eifersüchtig, Constanzia. Ich war es nicht auf den gegenwärtigen Verehrer. Wie sollte ich es auf den Abwesenden sein?«

»Sage das nicht, lieber Mann. Manchmal kann der Abwesende gefährlicher sein als der Anwesende.«

»Wieder eine von deinen beliebten Paradoxien, Constanzia, mit denen der einfache Verstand von Alltagsmenschen, wie ich einer bin, nicht so leicht fertig wird. Nein, nein, ich will es gar nicht verstehen. Versuche erst gar nicht, es mir zu erklären. Ich könnte ja doch nichts damit anfangen,« sagte er, ihre schon beginnende Erwiderung mit einer entschiedenen Handbewegung abschneidend, und ging zu einem nahen Stuhl, um sich zu setzen.

Sie wandte sich zu ihm um und musterte ihn.

»Du hast Verdrießlichkeiten gehabt, Bester?«

»Wer hat sie nicht, der ein Amt versieht und dem Gemeinwohl dient?«

»Willst du mir nicht anvertrauen, was es wieder gegeben hat, Mann? Sprich dich aus. Es wird dich erleichtern. Oder ist das auch wieder eine von meinen beliebten Paradoxien, wie du es wenig freundlich nennst?«

Kerschenstein stand vom Stuhl auf, trat neben sie und strich ihr leicht über das Haar.

»Nimmst du es mir übel? Es kann dich doch eigentlich nicht kränken?« äußerte er, sich zu ihr hinunterbeugend. »Aber du weißt ja, wir Alltagsmenschen ...?!«

Sie machte eine unwillige Gebärde.

»Was hast du nur heute immer mit deinen Alltagsmenschen?«

»Weil es mit denjenigen, welche keine sind, nur zu leicht Anstoß und Widrigkeiten gibt.«

»Ich wüßte nicht, daß ich dir Anlaß dazu gegeben hätte, Kerschenstein.«

»Wer spricht denn von dir

»Nun ja, wegen des Briefes aus Paris?«

»Habe ich mich je mit solchen Nichtigkeiten abgegeben oder gar Rechenschaft von dir gefordert, Constanzia?«

Sie senkte schweigend den Kopf.

»Na also! Du gibst es zu?« fuhr er fort. »Nein, es handelt sich um den Magister. Um unsern poeta laureatus.«

»Ah! Du sprichst von ihm?« nickte sie. »Man hat mir schon allerhand zugetragen.«

Der Ratsherr lachte kurz auf.

»So? Haben die Basen und die Tanten sich schon gemeldet?«

»Hast du es anders erwartet, Kerschenstein? Von dir bekommt man ja doch nichts heraus. Was die öffentlichen Dinge anbetrifft, so hast du ein Schloß vor dem Mund.«

»Wie sich das für jemand gehört, der im Dienste unserer löblichen Stadt steht.«

»So muß ich es mir also von den Tanten und Basen zutragen lassen.«

»Es ist ja auch gleich,« wehrte er mit einer müden Gebärde ab. »Erfahren mußt du es ja doch, so sehr es dich betrüben mag.«

»Ist es so schlimm?« fragte sie, sich aufrichtend.

»Schlimm genug für einen hergereisten Skribifax, dem wir Gastrecht in unserer Stadt und obendrein ein Salär auf unbestimmte Zeit für nichts und wieder nichts gewähren.«

»So sage es mir,« entschied sie. Ihre Stimme klang klar und bestimmt. »Ich weiß offenbar noch nicht alles.«

»Gut denn!« hub er an. Das Maß der Sünden des Herrn Opitz sei voll und übervoll und schreie zum Himmel. Er sei ein notorischer Verführer, habe Buhlschaft getrieben mit seines Nächsten Weib, mit des Predigers Nigrinus angetrauter Ehegemahlin, die allerdings, das müsse leider gesagt werden, das Kind von des Predigers leiblicher Schwester sei. So habe eine Sünde die andere im Schoß getragen und was ans Licht getreten, sei ein Greuel vor Gott und Menschen. Das pflichtvergessene Weib sei aus der ehelichen Behausung schmählich fortgelaufen und kein Mensch wisse, wo sie sich herumtreiben möge. An den Schandpfahl gehöre sie und aus der Stadt gepeitscht, zusammen mit ihm, mit dem sie es getrieben habe!

Das sei allerdings schlimm genug und schlimmer, als man ihr bisher überbracht habe, gab sie zu. Aber woher man denn wisse, daß grade der Herr Opitz von Boberfeld, der Magister, der schuldige Verführer sei. Er sei ja gewiß kein Tugendspiegel, wie man es in Ansehung seines gehabten Lebensweges nur zu begreiflich finden und gewiß auch er selbst zugestehen werde. Aber ehe man ihn dieses Frevels schuldig spreche, müsse man ihn gerechterweise selbst gehört haben. Wer denn der eigentliche Ankläger gegen ihn sei? Etwa der hochwürdige Herr Nigrinus selbst, der seiner leiblichen Schwester Kind geheiratet habe, für einen Diener Gottes immerhin ein starkes Stück?

Ja, dies sei eben der schwache Punkt in dem ganzen Gewebe, fiel der Ratsherr mit einer nahezu hilflosen Miene ein. Jedermann wisse, daß besagter Nigrinus, wenn auch leider der gleichen calvinistischen Konfession mit ihm zugehörig, ein unerträglicher Streithammel und Besserwisser, zudem auch ein Augenverdreher sei, der Gottes Wort nur auf den Lippen, aber nicht im Herzen trage, wofür diese sündhafte Kopulation mit seiner eigenen Nichte der schlüssigste Beweis sei. Aber dürfe man deshalb diesen himmelschreienden Skandal einfach ad acta legen und gegenüber dem vermuteten und vermutlichen Verführer ein Auge oder gleich beide Augen zudrücken?

»Dem vermuteten Verführer? Von wem denn nun vermutet?« fragte sie.

»Von wem?« wiederholte er mit scharfem Ton. »Von aller Welt! Alle Welt weiß etwas! Was sich die ganze Stadt erzählt, daran wird ja wohl nicht zu rütteln sein?«

»Aber Kerschenstein? Ich kenne dich nicht mehr!« rief sie und faßte seine Hand. »Willst du einen, der womöglich schuldlos ist, ungehört verdammen? Ist das deine ganze Gerechtigkeit, auf die du dir soviel zugute hältst?«

Kerschenstein sann schweigend vor sich hin. Endlich sah er auf.

»Was rätst du mir zu tun, Constanzia? Es hängt viel davon ab. Wisse denn, daß der Alte den ganzen Kasus in meine Hand gelegt hat.«

»Du sollst entscheiden, Kerschenstein? Und Vater will es? Oh, dann wird noch alles gut!«

Sie ging mit lebhaften Schritten hin und her, trat dann wieder an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Also wie wollen wir es halten? Unkraut und übles Gerede soll man mit der Wurzel ausjäten. Zuvörderst müssen wir uns aber vergewissern, was Wahres daran und was nicht, und ob außer der schuldigen Frau auch Opitz mit im Spiel oder nicht. Natürlich wäre es in aller Vorsicht und Geheimhaltung zu bewerkstelligen.«

Der Ratsherr nickte lebhaft zustimmend.

»Zur Vermeidung von noch mehrerem öffentlichen Ärgernis! Wie klug von dir, Constanzia! Wie klug! Ich habe mir schon öfter gedacht, du hättest auch einen jener doctores utriusque juris abgeben können, wie ich ihrer so manche auf der Hohen Schule zu Padua habe dozieren hören.«

Sie machte von neuem ein paar Schritte, hielt plötzlich inne und warf den Kopf zurück.

»Willst du mich also gewähren lassen, Kerschenstein? Ich glaube, es wäre etwas für mich. Und mir scheint, auch Vater wird es recht sein?«

»Das glaube ich auch,« erwiderte er trocken.

Sie sah ihn forschend an und kam näher.

»Du hast wieder deine ironische Miene. Warum?«

»Weil mich bedünken will, der Alte habe mir den ganzen vertrackten Fall nur deshalb aufgehalst, damit du ihn dann in die Hand bekommest.«

»Zuzutrauen wäre es Vater schon,« lächelte sie und legte ihre Arme um seinen Hals. »Also du überläßt es mir? Ich führe das Verfahren und fälle die Entscheidung nach Recht und Billigkeit als angehender Baccalaureus utriusque juris.«

Er nahm ihre Stirn in seine Hände und drückte einen leisen Kuß darauf.

»So sei es!« sagte er und dann nach einem Weilchen, in die Betrachtung ihrer Stirn versunken: »Diese klare, reine, kluge Stirn! ... Vielleicht nur allzu klug!« fügte er plötzlich im gewohnten trocknen Ton hinzu und ließ seine Hände heruntersinken.

»Möchtest du mich anders haben als ich bin?« flüsterte sie.

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Bleibe, die du bist: die baltische Sirene. Für mich bist du grade die Rechte. Und vielleicht wärest du es auch für ihn gewesen?«

»Für wen?«

»Nun! Für den Grafen! Für deinen Seladon in Paris!«

*

Die Dämmerung dieses trüben feuchtkalten Wintertages, dessen dichte Nebeldecke kein Sonnenstrahl hatte lichten können, war frühzeitig über die Stadt herniedergesunken. Martin Opitz hatte nach längeren Wochen wieder seinen gewohnten Platz in dem Damenzimmer des Ratsherrnhauses eingenommen. Die Frau des Hauses hatte ihn mit der ihr eigenen heitern Gelassenheit empfangen und an den Tisch zu seiner Schokolade komplimentiert. Nun saß sie ihm gegenüber und schwieg. Nur ihr Auge ruhte beobachtend, forschend, ja, wie ihm scheinen wollte, quasi inquirierend auf ihm. Nein, es war nicht wie sonst zwischen ihnen. Es fehlte das vertraute Behagen früherer Stunden bei flackerndem Kerzenschein, während die Holzscheite im Ofen prasselten und hier und da eins der Großvater- und Großmutterbilder an den Wänden im Widerschein aufleuchtete.

Es fehlte ... ja, wie sollte er es anders nennen? ... es fehlte das gewohnte Vertrauen zwischen ihnen. War es möglich, daß auch sie ihn verurteilte? Ungehört verdammte? Er fühlte, daß seine Stunde gekommen war. Er mußte sprechen, mußte sich verantworten. Dieses Schweigen war bedrückend. Es durfte nicht länger dauern! Eben wollte er den Mund zum Sprechen öffnen, als er ihre klare kühle Stimme über den Tisch hinweg vernahm:

»Was habt Ihr mir zu sagen, Herr Herzogl. Rat?«

»O viel! Viel, edle Frau!« brach er aus. »Und doch vielleicht nur die paar Worte: Verurteilt mich nicht, ehe Ihr nicht alles wißt! Ehe Ihr es nicht aus meinem Munde gehört habt!«

»Und wenn ich nun schon selbst alles wüßte?« entgegnete sie kühl.

»So wüßtet Ihr immer nur das, was alle Welt weiß oder zu wissen glaubt!« warf er erregt ein. »Was die ganze Stadt sich erzählt und behauptet! Ohne den Schatten eines Beweises behauptet! Will eine Dame von Eurem Geist und von Eurem Rang das einfach nachsprechen, was die Mägde am Brunnen sich ins Ohr tuscheln und was Hinz und Kunz wiederum von andern Hinz und Kunz gehört haben wollen?«

Constanzia schwieg nachdenklich. Dann fuhr sie fort:

»Also Ihr streitet ab, daß Ihr mit der Flucht jener unseligen Predigersfrau auch nur das geringste zu schaffen habt?«

»Nicht das geringste,« erklärte er. Ganz im Gegenteil! Als er vom Begräbnis seines Freundes Peter Krüger heimkehrend und noch völlig in düstern Gedanken befangen ihr auf der Treppe ihres Hauses begegnete und sie im Begriffe fand, voll größter Erregung das Haus zu verlassen, habe er sie von diesem höchst voreiligen und überstürzten Entschluß abzubringen gesucht, aber – Gott sei es geklagt – nur tauben Ohren gepredigt.

So sei es denn, fiel sie nicht ohne Schärfe ein, offenkundig und klar vor aller Augen liegend, daß er an dem Geschick dieser Leichtfertigen wärmeren Anteil nehme und womöglich ihre verwerfliche Handlungsweise noch zu entschuldigen suche.

Wie es denn anders sein könne! rief er erregt. Habe er doch über drei Jahre im gleichen Hause des Nigrinus mit ihr gewohnt und Zeit genug gehabt, sie, die damals noch im unverehelichten Stande, als ein gutherziges und frohgemutes Menschenkind kennenzulernen, das weit über das Maß von andern Frauenzimmern bürgerlichen Standes hinaus Kenntnisse und Wissensdurst mit angebornem Geist vereinigt, eben dadurch auch sein rein menschliches Interesse erweckt habe, und dies in einer Zeit, da er, kaum erst in Danzig angelangt, hier noch ganz fremd gewesen und noch nicht des näheren Umganges in den Patrizierhäusern dieser Stadt gewürdigt worden sei, die unter der Ägide von Damen erlesensten Geistes und einer außergewöhnlichen Bildung stünden, wovon das leuchtendste Beispiel die hier vor ihm sitzende Herrin dieses Hauses sei. Vor ihr, der Pallas Athene dieser Stadt, beuge er in geziemender Ehrerbietung sein Knie und erbitte von ihr, gleich einem Schutzflehenden im Tempel der Minerva, ein gerechtes und huldreiches Urteil, wie es einem schuldlos Verklagten zustehe.

»Erhebet Euch! Ich bitte Euch! Ihr beschämt mich!« rief Constanzia mit abwehrend erhobenen Händen dem Dichter zu, der sich im Feuer seiner Rede auf ein Knie vor ihr niedergelassen hatte. »Wenn Euch mein Mann so erblickte, was sollte er sich von Euch, von mir denken?«

Opitz war aufgestanden und verneigte sich tief vor ihr.

»Verzeiht, edle Frau! Das Bewußtsein meiner Schuldlosigkeit riß mich hin. Es sollte keine Vorwegnahme Eures Urteils bedeuten. Und wie auch immer es lauten möge, ich werde es in Erinnerung an alle Eure mir erwiesene Freundschaft und Huld ergeben hinnehmen.«

Constanzia schwieg und schien nachzusinnen. Plötzlich sah sie mit jenem unbestimmten Lächeln um ihre Mundwinkel auf.

»Ihr seid ein nicht ungefährlicher Rattenfänger, Herr Magister von Boberfeld. Wie nun, wenn ich Euch dessenungeachtet in der fraglichen Sache als mitschuldig ansprechen müßte?«

Opitz erbleichte und trat einen Schritt zurück.

»So wäre dies meine Abschiedsstunde von Euch, edle Frau, und von dieser Stadt, die mir eine zweite Heimat hätte werden sollen.«

Er wandte sich zum Gehen und war schon nahe der Tür, als er ihre befehlenden Worte vernahm:

»Bleibt! ... Seid Ihr in Eurem Leben immer so vorschnellen Handelns gewesen?«

»Nur da, wo es mir mein Gefühl und meine Ehre zu gebieten schienen, edle Frau.«

»Kommt! Und nehmt wieder Euren Platz ein, den Ihr mit einer Übereilung verlassen habt, welche eines Jünglings würdig wäre. Niemand tastet Eure Ehre an. Hat man je gehört, daß in Sachen der Venus dem Manne, möge er auch noch so schuldig sein, irgendein Makel anhaftete, sondern immer nur der Frau, obwohl sie doch selbst eine Frau, die hohe Göttin? Und was Euer Gefühl anbetrifft, auf das Ihr Euch berufen habt, Herr Opitz von Boberfeld, so könnte man wohl verlangen, daß es sich nicht bloß für eine leichtsinnige, wenn auch noch so anziehende Predigersfrau dokumentiere, sondern ein bißchen auch für Eure andern Freunde und Freundinnen hier in unserer Stadt und nicht zuletzt auch in diesem Hause, die es bedauern würden, wenn sie aus einem solchen Grunde Eurer geschätzten Persönlichkeit verlustig gingen.«

Opitz hatte sich während dieser mit immer größerer Wärme gesprochenen Worte Constanzias Schritt um Schritt wieder dem Tisch genähert und beugte sich jetzt ergriffen auf ihre Hand nieder.

»Ihr macht mich durch Eure Güte und Freundschaft zum Glücklichsten der Sterblichen, Madame Constanzia! Wie soll ich Euch danken für alle Huld, mit welcher Ihr Euch meiner annehmt?«

»Indem Ihr Euch, Meister Opitz, mit erhöhtem Eifer wieder Euren poetischen Arbeiten und Studien zuwendet, von welchen Ihr mir seit langem nichts mehr vorgelegt habt. Glaubt Ihr nicht, daß Ihr und wir mit Euch so am schnellsten über das gegenwärtige Ärgernis hinwegkommen werden, so daß in Kürze keine Rede mehr davon sein wird?«

Sie schwieg und blickte, während ihre Gedanken in die Ferne schweiften, gesenkten Kopfes vor sich hin. Der Dichter hielt es an der Zeit, sich zurückzuziehen und erhob sich.

»Ich bewundere Eure Klugheit und Weisheit, edle Frau, womit Ihr Euren anfänglich so harten Richterspruch zu einem so beglückenden Ende für mich geführt habt.«

Noch lange, nachdem der Dichter gegangen war, saß Constanzia, bei tief heruntergebrannten Kerzen in ein ihrem Wesen sonst fremdes Grübeln versunken. Hatte sie richtig gehandelt? War durch ihre Nachsicht, womit sie dem zweifelsohne in den Skandal verwickelten Poeten goldene Brücken gebaut und sein ferneres Verbleiben in der Stadt ermöglicht hatte, denn wirklich der Gerechtigkeit Genüge getan und das Unkraut des Ärgernisses mit der Wurzel ausgejätet, wie sie es Kerschenstein voreilig zugesagt? Hatte sie sich nicht von den honigsüßen Schmeichelreden des Dichters betören lassen? War sie nicht wie irgendein beliebiges Bürgergänschen der Schwäche ihres Geschlechts erlegen? Hatte denn dieser mit allen Wassern gewaschene Abenteurer und Libertiner auch nur mit einem triftigen Argument seine Unschuld dargetan? Jetzt war er gegangen, gebläht von seinem Erfolg, den er mit billigsten Mitteln errungen, und mochte sich im stillen ins Fäustchen lachen, wie ihm wieder einmal ein Weiberherz ins Garn gegangen ... Nein, es durfte nicht sein! Der Gedanke war unerträglich!

Sie sprang auf und ging zwischen den Bildern der Großmütter und Großväter erregt hin und her. Die Kühle, die sie von diesen Bildern anwehte, tat ihr wohl. Hatten hinter diesen kalten hochmütigen Gesichtern wohl jemals solche Zweifel an sich selbst gewühlt wie die, mit denen jetzt sie zu kämpfen hatte? Waren sie um soviel stärker gewesen als die Enkelin jetzt? Gewiß! Weltklug und selbstsicher waren sie alle gewesen, das sah man ihren Mienen an, und bis zu ihrem letzten Stündlein erfüllt von dem Bewußtsein, daß all ihr Tun ohne Fehl und Tadel gewesen, sie sich also keine weiteren Skrupel zu machen brauchten! Geist von ihrem Geiste war es, den sie brauchte. Sie setzte sich wieder und fühlte, daß sie ruhiger geworden war. Hatte sie ihn denn nicht, diesen klaren, kühlen, selbstgewissen Geist der Ahnen? War nicht ihr ganzes Leben der Beweis dafür, daß sie ihn besaß wie nur je eine von denen da an der Wand? Hatte nicht etwas gleiches auch dieser Opitz ihr schon einmal vor Jahren in eben diesem Zimmer gesagt? ... Schon wieder er! Sie mußte mit dem Fall dieses Menschen fertig werden, den zu entscheiden ihr von ihrem Mann aufgetragen war. Und jetzt wußte sie auch, wie durch eine Eingebung, auf welche Weise sie ihr Handeln gegen den leichtfertigen Poeten selbst anzusehen hatte und in welchem Lichte sie es Kerschenstein würde erblicken lassen.

Als in späterer Stunde der Ratsherr zum Zimmer hereinsah und sich erkundigte, wie es mit dem Besuch des Herrn Poeten gegangen sei, trat sie ihm mit der ganzen ihr eigenen und nun aufs neue gesammelten Sicherheit ihrer Natur entgegen.

»Höre mich ruhig an, Bester,« sprach sie, ihre Hand auf seine Schulter legend, »und wenn du meine Gründe vernommen hast, so bin ich gewiß, daß du mir recht geben und meiner Entscheidung zustimmen wirst, ja noch mehr, daß ich im Grunde nur das getan habe, was du selber tun wolltest und wovon du nur noch nichts wußtest ...«

Das klinge ja, meinte er stirnrunzelnd, als habe sie dem durchtriebenen Windbeutel eine Art von Generalpardon erteilt?

»Und wenn es nun so wäre?« nickte sie, überlegen lächelnd. »Zuerst schuldig- und dann freigesprochen. Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich diesen Ausweg gefunden habe. Es wird ihm in alle Zukunft zur Lehre dienen, dem Herrn Windbeutel, wie du ihn gar zu respektlos benennst. Denn er ist ja doch unser größter gegenwärtiger Poet und Präzeptor der ars poetica. Und weil du dir das auch selbst gesagt haben würdest, hätte er so vor dir gestanden wie vor mir, darum hast du es für richtig befanden, die Entscheidung in meine Hand zu legen, damit ich den Spruch täte, den du selbst zu tun dich scheutest und doch in Ansehung aller Umstände als unumgänglich erkanntest. Nun sage selbst, Bester, habe ich nicht ganz in deinem Sinne gehandelt? Runzle nicht die Stirn! In deinem Innern mußt du mir ja doch recht geben.«

Der Ratsherr hatte nur mit Mühe seinen aufsteigenden Zorn zurückgedrängt, jetzt lachte er grimmig auf:

»In Zukunft wird es also in unserer einsamen Stadt so gehalten werden, daß jeder hergelaufene Skribifax in eine vor Gottes Altar geschlossene Ehe einbrechen kann, wie es ihm beliebt, und sich seines Nächsten Weib holen darf und wir ihm noch ein anständiges Jahressalär dafür zahlen? Es ist weit mit uns gekommen! Und das soll mein Wille gewesen sein? Das willst du mir vom Gesicht abgelesen haben? ... Du lachst, Constanzia? Du lachst noch? Willst du mich etwa auslachen, daß ich für Sitte und Moral in unserer alten Stadt eintrete? Meinst du, daß unsere Väter und Mütter da an der Wand sich so etwas hätten einfallen lassen?«

Er machte einige heftige Schritte, die in ein Humpeln übergingen, da er sein altes Leiden wieder im Anzug fühlte.

Constanzia trat zu ihm hin, legte ihm die Arme um den Hals und suchte ihn auf einen Stuhl niederzudrücken.

»Rege dich nicht auf, lieber Mann. Es tat dir nicht gut. Ich habe nicht über dich gelacht. Nur über einen Gedanken, der mir plötzlich aufstieg und so absurd erschien, daß ich lachen mußte ...«

»Was war das für ein Gedanke, Constanzia?« fragte er.

Sie beugte sich über ihn.

»Ich dachte, aber fahre nicht hoch, Bester, ich dachte, da du von Moral in unserer Stadt sprachst, daß es vielleicht verschiedene Arten von Moral geben könne und daß unsere Moral nicht grade die des Herrn von Opitz zu sein brauche.«

»Und solche Gedanken,« fuhr er auf, so daß sie ihn nur mit Mühe auf dem Stuhl festhalten konnte, »solche Gedanken hegst du, Constanzia, die nur von Satanas herkommen können?«

»Ich weiß es wohl, Bester,« nickte sie und senkte wie schuldbewußt den Kopf. »Aber lesen wir nicht schon in der Heiligen Schrift von Versuchungen, die selbst dem Herrn vom Teufel kamen?«

»Und die der Herr niederkämpfte!« fiel Kerschenstein ein.

»Auch ich, Kerschenstein, habe meine Versuchungen niedergekämpft. Das glaube mir, so wahr ich selig werden will!«

Der Ratsherr heftete einen langen Blick auf sie. Dann zog er sie in einer plötzlichen Wallung an sich.

»Du bist mein besseres Selbst, Constanzia. Ich weiß es wohl. So weit ich auch in der Welt herumgekommen, ich bin nie einer Frau begegnet, so groß, so klug, so starkmütig wie du!«

Sie breitete die Arme um ihn und legte den Kopf an seine Schulter. »Bester Mann!« Und nach einem Weilchen: »Nun sage mir, Bester, war es nicht doch das Richtige so, daß ich diesem Herrn Dichter Generalpardon, wie du es nanntest, erteilt habe? Erwäge doch nur, was es erst für ein Ärgernis gegeben hätte, wenn ich bei meinem anfänglichen Schuldspruch geblieben wäre und er daraufhin die Stadt verlassen hätte, und er war schon auf dem Wege, es zu tun? Wäre das nicht wie ein Anerkenntnis seiner Schuld vor der ganzen Stadt gewesen? Hättest du das verantworten können?«

Er schüttelte schweigend den Kopf.

»Na also!« lächelte sie. »So habe ich doch nur das getan, was du selbst getan hättest. Vielleicht kann ich doch noch zum Baccalaureus utriusque juris promoviert werden?«


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