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10

So ritt denn Hauptmann von Proen ebenso erbittert wie vor vierzehn Tagen wieder von Danzig nach Schloß Sobbowitz zurück. Ja, vielleicht war diesmal das Gefühl, nicht nur in seiner Liebe verletzt und betrogen, sondern auch an seiner Mannesehre getroffen zu sein, noch um einiges bohrender als vor kurzem. Da war dieser Herr Opitz von Boberfeld, ein hergelaufener Skribent, der von den Brosamen lebte, die man ihm von den Tischen der Großen, der Mächtigen, der Reichen zukommen ließ! Und dieser Windbeutel und Versedrechsler, den er, Hauptmann Proen, noch dazu der Ehre seiner Bekanntschaft gewürdigt und sich als Reisegefährten hatte gefallen lassen, dieser Herr von Habenichts, kaum daß er in Danzig warm geworden war, nahm sich heraus, mit zwei Damen der ersten Geschlechter der Stadt, wovon die eine überdies seine, Proens, anverlobte Braut war, im verschwiegenen Hintergemach so etwas wie ein Weingelage abzuhalten! Das schrie nach Rache, forderte Blut! Ein Ehrenhandel mit ritterlichen Waffen ...? Aber wer war denn dieser Herr Opitz ...? Schlug man sich mit einem hergelaufenen Skribenten?

Proen, der auch diesmal wieder seine Fuchsstute ritt, jedoch nicht mit verhängtem Zügel wie an jenem Morgen vor vierzehn Tagen, sondern in einem langsamen Trab, wie es seinen sich kreuzenden Gedanken gemäß war, erhob plötzlich den auf die Brust gesenkten Kopf und entdeckte die reife Schönheit des herbstlichen Tages, die ihn von den der Landstraße entlangziehenden Hügeln, Äckern und Gärten anlächelte. Mit reifen Äpfeln schwer behängte Bäume, durch deren krauses Blätterwerk eine goldene Spätnachmittagssonne rieselte, drängten sich in den Obstgärten eng zusammen und schienen einander das winzige Erdenfleckchen zu neiden, das sie trug. In den Gärten der ebenerdigen Häuschen, die die Straße säumten, blühten auf den wie mit dem Zirkel angelegten Beeten Astern, Geranien und anderer herbstlich brennender Flor. Dazwischen funkelten bunte Glaskugeln, die auf hohe Pflöcke gesteckt waren, im Sonnenschein. Hühner und Gänse, breit über die hügelige Landstraße gelagert, flogen kreischend und gackernd vor dem Hufschlag des sich nähernden Reiters empor und quer über den Weg in den Straßengraben.

Gerhard von Proen, der nicht nur ein Mann des Waffenhandwerks war, sondern daneben und darüber hinaus auch einen bedachtsamen und sinnierenden Geist sein eigen nannte, vergaß für ein paar Augenblicke den ihn würgenden Zorn und empfing, durch das eben Erlebte wie von einer Pflugschar durchwühlt und aufgelockert, das Bild der heiteren und in dem herbstlichen Sonnenlicht zugleich ein wenig melancholischen Landschaft mit willig erschlossenen Sinnen.

Wie doch Welt und Leben plötzlich ein anderes Gesicht zeigten! Sein Zorn, eben noch ein loderndes Feuer, war wie ein Wölkchen dort hoch oben im Blau in nichts verraucht. Lohnt es sich, so fragte er sich, um solcher Nichtigkeiten willen, wie es die den Meereswellen gleichenden Launen eines verwöhnten jungen Mädchens sind und immer bleiben werden, auch nur eine Stunde dieses ebenso flüchtigen wie kostbaren und unwiederbringlichen Lebens zu vergeuden? Und Base Constanzia? Trug sie nicht vielleicht mehr Schuld als Anna, dieses unartige, verzogene halbe Kind? War nicht sie die eigentliche Gelegenheitsmacherin, die schöne, die kluge, die allwissende und allweise Constanzia Zierenberg, die ihre Hände überall haben mußte, hinter jeder Intrige und jeder Kabale hierzulande steckte, ihre Fäden vom Rathaus bis in die armseligsten Bürgerhäuser spann und sicherlich auch von dieser Zusammenkunft zwischen seiner Braut und dem in der Welt herumirrenden Abenteurer die Anstifterin und Kupplerin gewesen war?

Je mehr und je ruhiger er darüber nachdachte, desto gewisser wurde es ihm, daß Base Constanzia wieder einmal als Vorsehung sich hatte auftun wollen und auch jetzt wieder ihre Hände im Spiel gehabt hatte. Da galt es also, ruhig Blut zu bewahren und jeden seiner Schritte im voraus klug zu bedenken, denn Constanzia tat nichts ohne Überlegung. Wenn sie also wirklich dahintersteckte, so mußte sie ihre besonderen Gründe dafür gehabt haben und war vermöge ihrer unbestrittenen Klugheit und der beherrschenden Stellung, die sie in ihren Kreisen einnahm, eine nicht zu unterschätzende Gegnerin.

Was sie freilich bewogen haben mochte, den landfremden Eindringling unter ihre Fittiche zu nehmen und ihn in der Verschwiegenheit ihres eigenen Hauses mit Anna zusammenzubringen, das blieb dem gradlinigen Mann, der von den verschlungenen Wegen einer solchen Frauenseele nichts verstand, ein unlösbares Rätsel. Eines jedoch wußte er mit Bestimmtheit, daß es ein unfehlbares und untrügliches Mittel geben werde, den Knoten dieser von Base Constanzia gesponnenen Intrige kurzerhand zu zerhauen. Schon am nächsten Tage wollte er den dazu nötigen Weg antreten. Erleichterten Herzens kehrte er für heute in seine Sobbowitzer Land- und Waldeinsamkeit zurück.

*

Martin Opitz saß zerstreut am Arbeitstisch seiner Wohnstube im Nigrinusschen Haus. Vor ihm lag eine vor kurzem angefangene Übertragungsarbeit des mittelalterlichen Annoliedes, das er der Gelehrtenwelt in zeitgenössischen deutschen Versen vorzulegen gedachte. Vielleicht bestand doch eine Möglichkeit, daß ihn daraufhin eine der trotz des großen Krieges noch bestehenden Hochschulen deutscher Lande auf einen Lehrstuhl beriefe und so das schwankende Gebäude seines Lebens endlich ein festes und dauerhaftes Fundament erhielte. Aber die doch vornehmlich aus gelehrtem Wissen schöpfende Arbeit vermochte immer nur kurze Zeit ihn in Bann zu halten und machte ihm wenig Freude, so sehr er sich darob auch schalt. Seine ungesammelten Gedanken schweiften in jene nun schon so ferne Zeit zurück, da ihm die poetischen Floskeln und Tropen mühelos und ganz von selbst, wie die Tinte aus dem Federkiel, auf das Pergament geflossen waren. Jetzt bedurfte es immer erst eines eigenen Entschlusses, gleichsam eines Anlaufes, um sich in den Sattel seines Pegasus zu schwingen, der sich wie ein hartmäuliger und ausschlagender Gaul gegen ihn aufzuführen schien. Ganz fern und schattenhaft tauchte im Hintergrund seiner Gedanken einer auf, der schon seit längerer Zeit wie ein nächtiger Alpdruck immer wieder kam und sich nicht abweisen ließ. War er noch des poetischen Handwerks mächtig oder hatte die Muse, die ihm in jungen Tagen gefällig genug gewesen war, ihren Sinn gegen ihn gewandt und ihm den Rücken gekehrt?

Er fühlte, wie ihm bei diesem gespenstischen Gedanken das Blut zu Kopfe stieg und der Schweiß von der Stirn rann. Ohne es zu wollen, warf er den Federkiel beiseite, stand auf und trat an das offene Fenster, um frische Luft zu schöpfen. Auf der Gasse draußen war es um diese Tagesstunde still. Die sonst hier tobende und sich bekriegende Jugend war noch in die Schulstuben auf ihre Hosenböden und unter die Fuchtel des gestrengen Herrn Lehrers gebannt. Dann und wann erklang der Schritt eines Vorübergehenden. Und jetzt hallte vernehmlich der Hufschlag eines Reiters auf dem Steinpflaster wider. Opitz beugte sich in einer ihn anwandelnden Neugierde aus dem Fenster und erblickte vor dem Portal seines Hauses eine ihm wohlbekannte Gestalt, die gerade vom Pferde stieg und dessen Zaum um die Steinkugel der Beischlagstreppe schlang.

Es war Feldhauptmann Gerhard von Proen.

Opitz fragte sich erstaunt, wem der unerwartete Besuch wohl gelten möge, seinem Gastgeber und Hauswirt Nigrinus oder etwa gar ihm selbst? Plötzlich kam ihm die gestrige so überraschende Begegnung im Kerschensteinschen Hause wieder in den Sinn. Sie war ihm merkwürdigerweise heute morgen ganz entfallen, so sehr ihn auch das Beisammensein mit den beiden Damen am gestrigen Nachmittag bezaubert hatte. Aber wenn er sich klar zu werden versuchte, welche der beiden Schönen den stärksten Zauber auf ihn ausgeübt habe, ob die ältere und reifere mit der königlichen Haltung einer Vittoria Colonna, von der ihre gelehrten Zeitgenossen des vorigen großen Jahrhunderts in begeisterten Briefen und Berichten zu künden wußten, oder die nicht minder bezaubernde jüngere, die von den Genien der Schönheit und des Witzes umschwebt schien, so mußte er sich, wie schon nach dem ersten Zusammentreffen, die Antwort schuldig bleiben. Und in dieses Spiel des Geistes und der überlegenen Laune, das die beiden Zauberinnen mit ihm vollführten, war dann plötzlich der sporenklirrende Schritt dieses tolpatschigen Landsknechtes hineingetölpelt und hatte den Wettstreit der Grazien und der Musen auf eine plumpe Art unterbrochen.

Der Poet fuhr durch ein hartes Klopfen, das sich an seiner Tür vernehmen ließ, aus seinen Betrachtungen auf. Ehe er noch so recht zu sich selbst zurückfinden konnte, stand die ragende Gestalt des Feldhauptmannes in der jäh geöffneten Tür.

»Gut, daß ich Euch in Eurer Behausung antreffe, Herr Herzogl. Rat,« sprach der soldatische Gast. »Ich habe ein kurzes Wörtchen – mehr denk' ich, wird nicht vonnöten sein – mit Euch zu reden.«

Opitz machte eine wortlose, halb unbewußte Handbewegung auf einen leeren Stuhl, die einer Einladung, sich zu setzen, gleichkommen mochte, und wartete, aufs höchste verdutzt und überrascht, der kommenden Dinge.

Proen schüttelte abweisend den Kopf.

»Ich danke für die Einladung, ziehe es aber vor, keinen Gebrauch davon zu machen.«

»So werdet Ihr mir vielleicht verraten, was mir die Ehre Eures unverhofften Besuches verschafft,« erwiderte Opitz, der sich inzwischen etwas gefaßt hatte.

»Daran soll es nicht fehlen,« sagte der Feldhauptmann und trat einen Schritt näher auf Opitz zu, der im Auge des andern das Weiße glimmen sah. »Ihr werdet hinfüro von jeder Bemühung, Demoiselle Anna Schwarzwald, meiner verlobten Braut, noch einmal nahezukommen, Abstand nehmen und Euch auch nicht bemüßigt fühlen, Eure Besuche im Hause des Ratsherrn Kerschenstein bei dessen Gemahlin Constanzia zu wiederholen.«

»Und wie argumentiert Ihr Euer höchst sonderbares und kurioses Ansinnen, zumal, soweit es Madame Constanzia Kerschenstein anbetrifft, deren Gemahl Ihr ja nicht seid, Herr Feldhauptmann?« fragte Opitz mit mühsam bewahrter Fassung.

Proen lachte kurz auf und trat einen Schritt näher auf Opitz zu, so daß sie jetzt Auge in Auge miteinander standen.

»Argumentieren?« stieß Proen hervor. »Argumentiert man viel, wenn einem der Wolf in den Hof einbricht? ... Mein Argument ist dies hier!« Damit faßte er den Griff seines Degens und fuhr fort: »Solltet Ihr meiner Order auch nur im geringsten zuwiderhandeln, so werdet Ihr mir mit der Waffe in der Hand Genugtuung leisten. Ich hoffe, dieses Argument werdet Ihr verstehen.«

Opitz hatte seine Fassung wiedergefunden. Er lächelte schwach.

»Das wäre mir ein schönes Argumentieren, wonach der eine, der gerade den Säbel zu führen versteht, den anderen, der sein Lebtag nur die Feder geführt hat, kurzerhand niederstechen könnte, weil ihm eben der Sinn danach steht und es ihm die Verdauung stört, wenn er nicht jeden Morgen Blut fließen sieht. Was gibt Euch das Recht, mich anzuschuldigen, ich hätte Eurer Demoiselle Braut auf unziemliche Weise den Hof gemacht oder mir irgend etwas gegen sie zuschulden kommen lassen? Heiratet sie doch, so Ihr Lust habt und sofern sie Euch überhaupt will! Aber laßt mich mit Eurem eifersüchtigen Gehaben aus dem Spiel! ... Ich räume Euch ohnehin den Platz. Diese gottverlassene Stadt soll mich so bald nicht wiedersehen!«

Proen, der ob der unerwarteten Eröffnung seinen Grimm schwinden fühlte, stand schon an der Tür und wandte noch einmal kurz den Kopf zurück.

»Ihr wollt Danzig den Rücken kehren?«

»Für einige Zeit! Ja. Dringende Geschäfte am Königlichen Hoflager zu Thorn.«

Der Feldhauptmann salutierte kurz.

»Nun: Dann also Gott befohlen!«

Opitz hörte seinen sporenklirrenden Tritt draußen sich entfernen und dann nach einer kurzen Pause die Hufschläge seines Gauls auf der Straße verhallen.

Ihm war zumute, als sei ihm eine körperliche Züchtigung widerfahren. Und doch, so fragte er sich wieder und wieder, wie hätte er, der Mann der Feder, der gelehrten Studien, der Wurzellose und Unbehauste, dem Überfall des wütenden Offiziers auf andere Art begegnen sollen als durch würdige Zurückhaltung und ein geschmeidiges Lavieren? Hätte er es auf einen Degenstich des Eifersüchtigen, der zu jeder Tollheit fähig schien, sollen ankommen lassen? Wer hätte ihm in der fremden Stadt gegen deren eigenen höchsten Offizier Schutz gewährt? Ja, es war in dieser Welt – er wußte es längst, hatte es oft genug erfahren – übel genug um Menschen seines Schlages bestellt. Derjenige, der auf dem Ehrenplatz an der Tafel des Lebens hätte sitzen müssen, er, der Mensch des Geistes, der Mensch der über Büchern und Schriften durchwachten Nächte, er, der Gelehrte, der Humanist, der Poet, er war, wie jener reiche Jüngling in dem biblischen Gleichnis, aus dem Hause seines Vaters, darin es von Schätzen überfloß, verstoßen und mußte draußen vor der Tür mit den kümmerlichen Resten vorlieb nehmen, die ihm die Feisten, die Satten, die Dickwanste, die Prasser und Großmäuler drinnen an Vaters Tafel übrig ließen. Warum hatte er, anstatt zur Feder, für deren geschickte Handhabung kaum die unausgesetzte Übung eines Menschenlebens genügte, nicht lieber zum Säbel, zur Muskete gegriffen, die ihre skrupellosen Träger binnen kurzem zu Herren der Welt machten, wie es tagtägliche Exempla lehrten?

Opitz hielt auf seinen Gängen von der Tür zum Fenster und vom Fenster zur Tür plötzlich inmitten der Stube inne und blickte zu den Gestellen und Regalen an den Wänden empor. Bücher! Bücher! Wohin sein Auge fiel, Bücher und wieder Bücher! Pergamente und Bücher, in Schweinsleder gebunden und ebenso ledernen Inhalts! Das war seine Speise gewesen, solange er denken konnte! Davon hatte er gelebt, viele Jahre lang! Ebensoviele Würmer und Blutegel waren aus dieser eklen Speise hervorgekrochen und hatten an seinem Mark gesogen, bis er zu dem leeren Schlauch geworden war, den heute dieser miles gloriosus, dieser bramarbasierende Landsknecht mit einem Fußtritt beehrt hatte!

Was war ihm, dem Wehr- und Waffenlosen, anderes übrig geblieben, als einen möglichst geschickten Rückzug anzutreten, für den ihm der Einfall mit der notwendigen Reise an das polnische Hoflager nach Thorn noch rechtzeitig zu Hilfe gekommen war. Jetzt freilich mußte er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und sich von neuem auf die Wanderschaft machen, wie schon so oft in seinem unsteten, ruhelosen Leben. An einem plausiblen Vorwand, der Welt gegenüber, fehlte es ja gottlob nicht. War es denn nicht ein Gebot selbstverständlicher Klugheit und Courtoisie, dem König Wladislaw für die Ernennung zum Hofhistoriographen nicht nur auf schriftlichem Wege, wie dies bereits vor einigen Tagen geschehen, sondern auch in persönlicher Aufwartung und Audienz seinen untertänigen Dank zu Füßen zu legen? Auch die persönliche Anteilnahme des hohen Herrn konnte bei diesem Anlaß wieder etwas aufgefrischt werden. Ebenso würde einer Wiederbegegnung mit seinen alten Gönnern, den beiden Herzögen, dem von Liegnitz und dem von Brieg, die sich, als Landflüchtige, aller Vermutung nach, auch weiter am Königlichen Hoflager aufhielten, keinesfalls von Nachteil sein. Sprachen somit nicht sehr bedeutende Argumente für diese Reise, die freilich wie der Dieb in der Nacht gekommen war, und kein einziges von Gewicht dagegen, außer vielleicht dem einen, daß er damit seine eben erst im Aufbau begriffene, aussichtsvolle Position in dieser reichen, wohllebigen Stadt vorschnell wieder abbrach und nach seiner womöglichen Rückkehr Mühe haben werde, wieder von vorne anzufangen? Aber das waren Sorgen für später. Das Leben hatte ihn gelehrt, dergleichen Fragen von übermorgen nicht schon heute beantworten zu wollen, sondern dies einer wohltätigen Zukunft zu überlassen, wo sich dann oft genug die Lösung ganz von selbst einfand, gleichsam als ein Geschenk vom Himmel fiel. In etwa vier Wochen, wenn nicht schon früher (was hinderte ihn denn daran?), jedenfalls noch vor Einbruch der kalten und nassen Jahreszeit, konnte ihn sein Roß oder sein Gefährt wieder vor der behaglichen Gelehrtenstube im Nigrinusschen Hause absetzen und ihn der Fürsorge der Jungfer Marie Dorothee zurückgeben, die ihm seit seinem Hiersein schon kaum mehr entbehrlich geworden war, so wenig er sie in letzter Zeit auch zu Gesicht bekommen hatte.

Auf solche Weise im Herzen fühlbar erleichtert, machte er sich daran, ein paar notwendige Utensilien für die vorhabende Reise zusammenzusuchen und sie in den immer bereitgehaltenen Reisesack zu packen. In diesem Augenblick fügte es der Zufall, der ja manchmal weiser und gütiger zu sein pflegt als wir törichten und feindseligen Menschenkinder – ja, fügte es der Zufall, dieser wohltätige deus ex machina, daß nach längerem zaghaften Pochen die Zimmertür sich öffnete und Jungfer Marie Dorothee, der eben noch Opitzens Gedanken gegolten hatten, auf der Schwelle erschien und mit kundigem Auge das Tun und Gehaben des Dichters überblickte.

»Was treibt Ihr da, hochzuverehrender Herr Herzogl. Rat?« rief sie erschrocken. »Ihr habt doch nicht etwa die Absicht, unserer Stadt den Rücken zu kehren und uns wieder zu verlassen, kaum daß Ihr bei uns warm geworden seid?«

Opitz, der gerade ein goldbordiertes Atlaswams in der Hand hielt, um es dem Reisesack einzuverleiben, sah überrascht, beinahe betroffen auf.

»Wäre Euch das leid, Jungfer Marie Dorothee?« fragte er, erregt durch den ungewohnten weichen Ton des Mädchens.

Marie Dorothee hielt den Kopf gesenkt und schwieg, während sie zögernd einen Schritt näher in die Stube trat und leise die Tür hinter sich schloß.

»Wäre Euch das leid?« wiederholte er eindringlich und ging langsam auf sie zu.

»Sehr!« hauchte sie kaum vernehmlich.

»Sag' mir das noch einmal, holdes Mädchen!« flüsterte Opitz jetzt in Atemsnähe vor ihr und hielt seine Arme gegen sie ausgebreitet.

»Sehr! ... Sehr!« seufzte sie hinschmelzend und sank an seine Brust.

»Mädchen! Mädchen! ... Cynthia!« Er bedeckte ihren Mund, Nacken, Busen mit seinen Küssen.

»Nicht! Nicht!« stammelte sie und suchte sich ihm zu entwinden.

Opitz hielt sie noch immer fest umschlossen.

»Und warum dürft' ich's nicht?« fragte sein heißer Atem an ihrem Ohr. »Schöne blonde Nymphe! Warum dürft' ich's nicht? Gehörst du noch immer dem ... jungen Menschen? Dem, wie heißt er denn nur? ... Dem Schüler? Dem Gryphius?«

»Nie hab' ich ihm gehört!« rief sie, noch in seiner Umarmung, mit halb erstickter Stimme. »Es war alles nur Einbildung von Euch! ... Nie hätt' ich mich mit einem so jungen Menschen eingelassen, kaum ein Jahr älter als ich!«

»Ist das wahr, Cynthia?« fragte Opitz, beugte ihren blonden Kopf etwas zurück und suchte in ihren halb geschlossenen Augen zu lesen.

»Warum nennt Ihr mich doch immer Cynthia?« fragte sie, ihn unter ihren kaum geöffneten Lidern schelmisch anblinzelnd.

»Weil du es bist! ... Weil du in meinen Träumen immer Cynthia für mich gewesen bist! Nur Cynthia kann so küssen! Nur Cynthia hat solche schwellenden küßlichen Lippen!« Er zog sie von neuem an sich und drückte seinen Mund auf diese verlangenden Lippen.

»Cynthia!« murmelte sie vor sich hin. »Wie hübsch das klingt! ... So müßt Ihr mich von jetzt ab nennen. Natürlich nur, wenn niemand dabei ist.«

»Abgemacht!« rief er. »Unter der Bedingung, daß du mir öfter Gelegenheit dazu gibst und mich besuchen kommst.«

Sie antwortete nicht und schien über etwas nachzudenken.

»Was kommt dich an, blonde Cynthia?« fragte er. »Worüber denkst du?«

»Ihr habt sogar von mir geträumt? Sagtet Ihr nicht so? Und in Euren Träumen hieß ich Cynthia?«

»So sagte ich und so ist es, blonde Nymphe!« erwiderte er.

»Oh, das ist schön!« rief sie und schlang ihre Arme um ihn, ihren Kopf an seiner Brust bergend. »Ich hab' ja gar nicht gewußt, daß Ihr überhaupt an mich denkt, ein Nichts wie ich bin gegen Euch!«

»O töricht, töricht Kind!« sagte Opitz gerührt. »Muß ich dir den Mund versiegeln?«

Seine Küsse brannten auf ihren Lippen.

Sie senkte ergeben den Kopf und erblickte zu ihren Füßen das schwarze Atlaswams, das Opitzens Händen im Wirbel dieser Minuten entglitten war.

»Ach! Das schöne Atlaswams! Und wir trampeln darauf herum!« klagte sie und bückte sich nach dein Kleidungsstück. Opitz nahm es ihr aus der Hand und legte es zusammengefaltet in den bereits halb gepackten Reisesack.

»Also ist es doch so? Ihr wollt fort? Vielleicht für immer?« fragte sie angstvoll. »Und nehmt mein Herz mit Euch!«

Opitz strich ihr mit der Hand über das Haar.

»Ja, Liebchen, ich muß auf ein paar Wochen fort, es ist keine weite Reise, und dein Herz wird mich begleiten. Das wird das beste Geleit für mich sein, daß ich auch wieder zu dir zurückfinde, bald, bald!«

»Wohin wollt Ihr?«

»Nach Thorn! Ans Königliche Hoflager! Dringende Umstände!«

»Aber von dort seid Ihr ja erst vor ein paar Wochen hergekommen.«

Opitz runzelte die Stirn.

»Es muß sein, Herzensschatz! Frage mich nicht! In wenigen Wochen halte ich dich wieder im Arm. Dann wollen wir glücklich sein miteinander.«

»Geliebter Mann!« rief sie und sank mit einem Seufzer in seine Arme.


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