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26

Dreikönige, an welchem Tage, zufolge der Ankündigung Peter Krügers, eine Sonnenfinsternis vor sich gehen sollte, standen vor der Tür. Opitz hatte den Professor seit jener Silvesternacht nicht mehr zu Gesicht bekommen, nur von Hünefeld, dem Alleswisser, in Erfahrung gebracht, daß Krüger seitdem bettlägerig sei. Die Umstände, unter denen dieser in der eisigen Winternacht seinen Heimweg von Opitzens Wohnung zur eigenen Behausung unternommen hatte und in der Morgenfrühe des Neujahrstages von der Wirtschafterin Malchen, dem »Bären«, auf seiner Haustreppe schlafend aufgefunden worden war, mochten genugsam erklären, wie es zu dieser Unpäßlichkeit gekommen war. Krüger hatte, als er sich auf den Heimweg machte, starrköpfig wie stets, wenn er sich »die Stiebel vollgeschöpft« hatte (so nannte er es), jedes Geleit auf dem Nachhauseweg zurückgewiesen und wäre um ein Haar handgreiflich geworden, als Hünefeld ihn unter den Arm fassen wollte. Man hatte ihn also, wie schon so manches frühere Mal, gewähren lassen und auf den Schutzengel vertraut, der nach dem Volkswort sich der Kinder wie der Betrunkenen anzunehmen pflegt. Aber der hatte in der verhängnisvollen Silvesternacht offenbar alle Hände voll auf den Gassen der löblichen Stadt Danzig zu tun gehabt und darüber den so oft betreuten Professor der Poetik gänzlich aus den Augen verloren, man wußte es nicht genau. Sehr wohl möglich, daß Krüger nicht nur auf seiner Haustreppe, sondern unterwegs auch noch auf irgendeiner Beischlagtreppe im Freien genächtigt und sich dabei, wie nicht anders zu erwarten, meinte Hünefeld, einen Riesenschnupfen geholt haben werde. Jedenfalls handle es sich bei der ganzen Unpäßlichkeit um nichts weiter als um einen mordsmäßigen Katzenjammer, von welchem der Patient sich nach einigem Nächten gründlichen Ausschlafens wieder zum Leben werde zurückgefunden haben. Bis zu »seiner« Sonnenfinsternis am Dreikönigstag werde der in so manchen Sitzungen mit Gott Bacchus erprobte Ritter vom Einhorn bestimmt wieder auf den Beinen sein und an der von ihm, Hünefeld, ins Werk zu setzenden Portwein-Libation, so hatte er es ja am Silvesterabend verheißen, in alter Frische mittun können.

Im ewigen Buch des Schicksals und in der Schrift der am Himmel ihre Bahn beschreibenden Gestirne, deren Erforschung Peter Krüger einst an der Seite Galileis die ganze Kraft seiner jungen Jahre gewidmet hatte, stand es jedoch anders beschlossen. Am Vorabend des ominösen Dreikönigstages sah Martin Opitz in seiner Studierstube eine mit ihren Tränen kämpfende Frau vor sich stehen. Es war der »Bär«, des Professors vollbusige, übrigens sehr resolute und nicht leicht kleinzukriegende Wirtschafterin, die ihm unter verhaltenem Schluchzen erzählte, daß es mit ihrem Brotherrn nicht zum besten stehe. Sie habe dessen Unpäßlichkeit bislang auch keine Bedeutung beigemessen und dahinter nur einen ungebührlich verlängerten Katzenjammer vermutet. Die drei Herren schienen in der Silvesternacht gehörig über die Stränge geschlagen zu haben. Aber das sei man ja gewöhnt und habe es auch kaum anders erwartet. Der Professor sei ja noch immer mit einem blauen Auge davongekommen. Aber seit gestern abend sei sie doch von schwerer Sorge befallen. Es habe eine ernste Wendung mit ihm genommen. Mit einem ganz schlimmen Schüttelfrost habe es angefangen. Fürchterliche Brustschmerzen und Stiche im Rücken seien gefolgt und in der Nacht sei der Kranke ganz von Sinnen gekommen, habe wie verrückt um sich geschlagen, auch irrezureden begonnen und im Wahn nach »seiner Sonnenfinsternis« gerufen. Ihr sei ganz angst und bange geworden, da sie ja schon immer geahnt habe, daß es mit dieser schon seit langem von ihm prophezeiten Sonnenfinsternis kein gutes Ende für ihn und für sie alle nehmen werde. Gott der Allmächtige lasse sich nun einmal nicht ins Handwerk pfuschen, auch nicht von ihrem Herrn Professor, so neunmal klug und gescheit er auch sei, das habe ihr auch einer der heiligen Väter in Altschottland draußen vor der Stadt, der hochwürdige Jesuitenpater Athanasius, schon vor Wochen gesagt und ihr ins Gewissen geredet, ihm keinen Glauben zu schenken, was immer er ihr auch erzählen möge von einem Erdball, der ringsherum rund sei und oben und unten abgeplattet, so daß doch von Rechts wegen wir alle herunterfallen müßten. Aber das sei eine Irrlehre des Teufels, der sich klüger dünke als Gott der Herr selbst, und es werde ein Ende mit Schrecken nehmen, wenn verblendete Geister wie der Professor und alle, die mit ihm seien, nicht endlich zu Vernunft kämen und in sich gingen, ehe es zu spät sei. Sie habe ihren Herrn daraufhin auch ordentlich ins Gebet genommen, wie es Christenpflicht sei. Aber der habe sie nur ausgelacht und sie ein total vernageltes Frauenzimmer geheißen. Jetzt liege er zur Strafe für seine Vermessenheit auf den Tod darnieder, und Satanas stehe schon in der Tür und präsentiere seine Rechnung.

Ob sie denn nach keinem Medikus geschickt habe? fragte Opitz.

Sogar nach dem allerberühmtesten in der ganzen Stadt, gab sie weinend zurück. Nach dem Doktor Sartorius, dem Wunderdoktor, wie man ihn allgemein nenne. Aber selbst der schüttle bedenklich den Kopf und mache ein sehr ernstes Gesicht. Es sei ein akuter Brustkrampf, den lateinischen Namen habe sie nicht behalten können, in Kommunikation mit einem pernaziösen, ja so habe er es genannt, mit einem pernaziösen Nervenfieber. Wenn der Kranke die heutige Nacht mit der kommenden Krisis überstehe, so sei vielleicht noch Hoffnung, durchzukommen. Wenn aber nicht, so werde er die morgige Sonne schwerlich mehr erleben, die ja sowieso, nach des Kranken Prophezeiung, kaum am Himmel sich werde erblicken lassen. Als sie das gehört habe, da habe sie genug gewußt und sich auf alles gefaßt gemacht und sei zum Flause raus und auf den Weg zu ihm, dem Herrn Herzogl. Rat, für den Fall, daß er den teuren Mann noch einmal sehen und sprechen wolle.

So der zuletzt von einem Tränenstrom fast erstickte Bericht der aufgeregten Frau. Opitz war bereits in seinen Pelz gefahren und stand schon in der geöffneten Tür, um keine vielleicht kostbare Minute zu verlieren. Krügers Wohnung lag ein gutes Stück weit weg in einem der schmalen himmelhohen Giebelhäuser der Altstadt, die sich auf höchstens doppelte Armlänge gegenüberstanden und schon bei Tage die dazwischenliegende Gasse mit halbem Dunkel zudeckten, nun gar bei Nacht sie in eine Art von ägyptischer Finsternis hüllten. Der Weg dahin führte den Dichter und die ihm voraneilende Frau über die zugefrorene Radaune an der Großen Mühle und der hoch und schlank zum Schneehimmel emporragenden Katharinenkirche vorbei, auf der grade die Glocken den morgigen Dreikönigstag einläuteten. Klangen die feierlichen durch die Lüfte dahingetragenen Glockentöne dem im Innersten aufgewühlten Dichter nicht schon wie das Sterbegeläut für den scheidenwollenden Freund?

Als Opitz dann in der von zwei Talgkerzen nur schwach erleuchteten Stube am Lager des schwer röchelnden Kranken stand und dessen tief eingefallene Wangen sah, aus denen die starken Backenknochen und die zwischen den flackernden Augen scharf sich abzeichnende Nase vorsprangen, da fühlte er auch den letzten Schimmer von Hoffnung für das Leben des andern dahinschwinden und glaubte, das Antlitz eines Sterbenden vor sich zu haben. Dem schienen freilich die Worte, mit denen Krüger sich aus seinen Kissen aufzurichten suchte, gradehin zu widersprechen.

»Seid Ihr's, Freund Opitz?« keuchte er fast tonlos. »Kommt Ihr Euch auch mal ... nach dem Höllenbraten ... umsehen ... den es diesmal ... gründlich erwischt ... hat? ... Eine schöne Bescherung, was? ... Aber was man sich eingebrockt hat ... muß man auch ... auslöffeln ...« Seine Hand langte nach der Hand des andern, und Opitz fühlte es wie glühendes Eisen in der seinen.

»Nur Mut, alter Freund! Nur Mut!« suchte er den Kranken zu trösten und empfand selbst, wie fremd seine Stimme klang und wie wenig Mut sie hergab. »Alles wird wieder gut,« setzte er nach einem Augenblick, sicherer werdend, hinzu. »Ihr werdet wieder hochkommen. Wir werden noch manches Glas miteinander leeren.«

»Werden wir auch!« rief der Kranke mit einer plötzlich ganz hellen Stimme und machte eine Bewegung, als wolle er sich aus den Kissen emporschnellen, fiel aber sogleich kraftlos wieder zurück. »Und hochkommen ...? Eo ipso ... wird man wieder ... hochkommen ...« fuhr er, immer mühsamer Atem holend, fort. »Seit nachmittag ... oder heute früh ... man weiß ja gar nicht ... was für eine Zeit ist ... hab' ich das Gefühl ... als ob ich mich ... in die Luft erheben müßte ... als ob ich Flügel angewachsen ... bekäme ... und weit, weit weg ... fliegen müßte ... hoch hinauf ... bis an die Sonne ... und mitten hinein ... in die Finsternis ... Es wird ... schon ganz ... dunkel ... um mich ... ich sehe ... nur noch ... Protuberanzen ... und ... da ist ... Galileo Galilei ... irgendwo ... im Weltraum ... Lebt wohl!«

Der ein wenig erhobene Kopf des Sterbenden sank in die Kissen zurück. Es war zu Ende. Peter Krüger war von seinem Fluge in den Weltraum und von der Begegnung mit seinem einstigen Meister Galilei nicht wieder hierher zurückgekehrt. Opitz, der sich auf einem Stuhl am Bett niedergelassen hatte, fühlte die Hand des Entschlafenen, die die seine umklammert hielt und sie nicht lassen zu wollen schien, langsam erkalten und wie ein Stück Eis in der seinen liegen. Ein Schauer schüttelte ihn. Dicht neben ihm schrillte die Stimme der Frau.

»Jesus Maria! ... Tot! ... Tot!«

Er sah die völlig entgeisterte Frau sich in maßlosem Jammer über den Toten werfen und löste sacht und behutsam seine Hand aus der fest geschlossenen Hand des in der Unendlichkeit untergetauchten Freundes.


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