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15

Unerwartet nach einer langen Folge von schier hoffnungslosen nebelgrauen Novembertagen entstieg ein leuchtender wolkenloser Novembersonntag dem grünblau flimmernden und glitzernden Spiegel der jenseits der Stadtmauern am Horizont sich weitenden See. Ein leichter Frost wie in allen diesen Tagen, der mit seinem Reif das hundertfach verschlungene Liniengewirr und Schnörkelwerk all der Dachgiebel, Kamine und Firste und die kahlen Äste der die engen Gassen säumenden alten Bäume bestreute, gemahnte an die nahe Bereitschaft des Winters und wollte auch vor den sich erwärmenden Strahlen der langsam höhersteigenden Tagessonne nicht weichen. Von den ungezählten Türmen der Stadt riefen, in einem einzigen Chorus sich vereinigend, die hohen und tiefen Stimmen der großen und kleineren Kirchenglocken Lutheraner und Kalvinisten ebenso wie die Gläubigen der alten Papstkirche zur sonntäglichen Andacht in die spitzbogigen Pfeilerschiffe der mächtigen Backsteinkirchen, die nach dem Beispiel des sie alle überragenden Baues von Sankt Marien sämtlich wie Trutzburgen einer wehrhaften und recht irdischen Gläubigkeit mitten in einem bürgerlichen und nüchternen Alltag dastanden.

Martin Opitz, sonntäglich gekleidet und zum Ausgehen bereit, mit Pelzkragen und würdiger weißer Halskrause, den Stock mit dem goldenen Knauf, ein Geschenk des Liegnitzer Herzogs, in der Hand, tat noch einen letzten Blick durch das Fenster seiner Studierstube auf die Brotbänkengasse hinab, die als das sich verengende Endstück der breiteren Jopengasse zur Langen Brücke kaum je von Wagenrollen oder Pferdegetrappel widerhallte und, wenn nicht gerade Kindergeschrei zwischen den Beischlägen gellte, im allgemeinen sehr still war, nur an Sonntagen wie eben heute durch die zur nahen Marienkirche vorüberwandelnden Gläubigen ein lebhafteres Ansehen gewann.

Martin Opitz, wiewohl sonst ein durchaus rechtgläubiger evangelisch-lutherischer Christenmensch, der es auch mit der Sonntagsheiligung ernst zu nehmen pflegte, meinte heute, dem so ganz regelwidrigen, scheinbar von Gott dem Herrn selbst den Menschenkindern herniedergesandten Sonnentage zuliebe einen Schritt vom vorgeschriebenen Pfade abweichen und den Tag des Herrn draußen unter Gottes strahlend blauem Himmelszelt begehen zu dürfen. So trat er, im Innersten dennoch nicht ganz frei von einem leisen Murren des Gewissens, auf die glücklicherweise grade wieder ganz menschenverlassene Straße hinaus und wandelte würdigen Schrittes, das Haupt nachdenklich auf die Halskrause gesenkt, um die Ecke einer der nächsten Gassen dem Langen Markt, dem Mittelpunkt der Stadt entgegen, um von hier den Weg durch die Langgasse zum Tor und hinaus zu dem freien Gelände vor dem Stadtgraben und der Umwallung einzuschlagen. Die sonst von Fußgängern, Reitern und Fahrzeugen als Herzader der Stadt belebte Langgasse lag an diesem feierlich schönen Sonntagvormittag zur Stunde des Gottesdienstes in ungewöhnlicher Stille da, so daß der Dichter ausgreifenden Schrittes schnell vorankam und sich nahe dem Tor befand, als durch dessen geöffnete Enge zwei Reiter kurz hintereinander ihm entgegensprengten, von denen der hintere in einer grünen Jägermontur der Reitknecht des vorderen, eines Offiziers des Danziger Militärs, zu sein schien. Opitz, der, von seinen Gedanken hingenommen, nicht viel auf die ihm Begegnenden acht gab, stutzte dann doch und blieb festgebannt stehen, da der voranreitende Offizier knapp einen Schritt vor ihm sein Pferd parierte und mit einem Satz aus dem Sattel sprang, daß die Sporen auf dem Steinpflaster klirrten.

»Kennt Ihr mich denn gar nicht mehr, Herr Herzogl. Rat?« rief der Ankömmling mit einer hellen Stimme, die dem erstaunt blickenden Poeten sofort die klare Erinnerung an die Person des ihn Anredenden wachrief. Es war Hauptmann von Proen, der den verblüfften Dichter mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter begrüßte und, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, in seiner Rede fortfuhr:

»Oder habt Ihr Euren Reisekameraden damals vom polnischen Hoflager nach Danzig ganz und gar aus dem Gedächtnis verloren vor lauter Gelehrsamkeit und Poeterei?«

Opitz, wiewohl eingedenk der letzten wenig freundlichen Begegnung mit dem Feldhauptmann und seiner dabei gefallenen scharfen Worte, war gewandt genug, auf die ausgesucht kordiale Tonart des anderen einzugehen, so unvermutet sie ihm kam, und auf eine überaus herzlich klingende Weise zu antworten:

»Wieder einmal hat sich die alte Erfahrung bestätigt, daß die Phantasie, Herr Feldhauptmann, der Wirklichkeit vorauseilt, sie gleichsam als ihr dazu bestellter Kurier anmeldet. Denn Ihr mögt es mir glauben oder nicht, ich beschäftigte mich in meinen Gedanken grade mit Euch, meinem hochgeschätzten Reisegefährten von Thorn, und fragte mich, ob und warum Ihr meiner so gänzlich vergessen hättet? Und so kam es, daß ich Euch vor lauter Erinnerung nicht gleich erkannte, wie man eben den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.«

Der nach dem Feldhauptmann dahergekommene Grünrock war nun ebenfalls von seinem Braunen abgesessen und stand respektvoll salutierend hinter seinem Herrn.

»Ihr kennt doch meinen Jäger und Reitknecht Gottfried, Herr Magister? Unsern getreuen Kurier und Quartiermacher auf dem Ritt von Thorn nach Danzig, wenn Ihr ihn auch nicht viel zu Gesicht bekommen habt, da er uns ja meist ein paar Stunden voraus und morgens schon mit dem ersten Hahnenschrei unterwegs war, um Quartier für uns zu machen. Daß er sich dabei höchst geschickt und anstellig gezeigt und sich mit seinen Nachtlagern für uns mit Ruhm bedeckt hat, werdet Ihr ihm, so Ihr Euch erinnern wollt, bezeugen können. Er hatte sich eine Belohnung von mir verdient. Deshalb habe ich ihm auch die Hochzeit mit seiner Veronika gleichzeitig mit meiner eigenen Hochzeit ausgerichtet. Na, stimmt's, Gottfried, junger Ehemann?«

Er klopfte dem Jäger ermunternd auf die Schulter. Der stand noch immer salutierend in dienstlicher Haltung da.

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!« kam es von seinen Lippen. »Herr Hauptmann hat mir große Ehre angetan!«

»Schon gut! Schon gut!« winkte Proen ab und wandte sich von neuem an Opitz.

»Von meiner Hochzeit vor einigen Wochen werdet Ihr Kunde haben. Wie könnte es in unserer lieben Stadt, in dieser Hochburg der Tanten und Basen, auch anders sein? Was hat man Euch denn Schönes erzählt? Ich hätte als ein neuer Achill eine sich sträubende Amazone auf meinen Armen davongetragen? Hieß es nicht so? So hat sich denn das kleine lustige Stückchen, das ich vorher mit meiner Jungangetrauten aufs Stichwort haargenau einstudiert hatte, ganz nach Wunsch abgespielt und alle Welt hat es für bare Münze genommen, ist uns also auf den Leim gegangen. Als wir nach der scharfen Fahrt durch die verteufelt dunkle Nacht dann in unserem behaglichen Nest Sobbowitz saßen, haben wir uns über den gelungenen Spaß vor Lachen geschüttelt und Gevatter Schuster und Korkenmacher wird an den langen Winterabenden beim Kienspan was zum Klatschen und Erzählen haben.«

Opitz hatte mit verbindlichem Lächeln der etwas kühnen Auslegung Proens zugehört und verbeugte sich jetzt mit vollkommener Politesse.

»Kein Zweifel, daß Ihr Eure Rolle meisterhaft gespielt habt, Herr Feldhauptmann. Es ist Euch gelungen, alle Welt am Narrenseil zu führen, soweit sich meine Kenntnis davon erstreckt.«

»So? Ist es das? Dann wäre also der eigentliche Zweck unserer kleinen Farce erreicht. Meine Frau wird sich freuen, wenn sie das hört. Ihr solltet einmal zu uns nach Sobbowitz in unsere alte Baracke, denn mehr ist es nicht, hinauskommen und meiner Frau in persona berichten, was sich die Danziger von uns beiden Verrückten erzählen.«

»Es wird mir eine besondere Ehre sein,« erwiderte der Dichter, sich verneigend.

»Ihr könnt Euch dann auch gleich durch den Augenschein überzeugen, wie meiner Eheliebsten der Sprung von der Stadt direktament in die Landklütern hinein bekommen ist. Ihr werdet sie kaum wiedererkennen. Sie kommandiert von morgens in der Frühe bis in den späten Abend auf dem Hof und im Kuhstall bei den Mägden herum, und einen neuen Flügel muß ich auch an die ›alte Baracke‹, das Wort stammt von ihr, anbauen lassen.«

Opitz nickte mehrmals zustimmend vor sich hin.

»Wenn ich aufrichtig sein soll, Herr Feldhauptmann, so hätte ich nie etwas anderes von Eurer Gemahlin, die damals ja erst Eure Erwählte, Eure Braut war, angenommen. Es überrascht mich keineswegs, daß die hochzuverehrende Dame mit ihren großen Gaben des Geistes und des Herzens sich allen an sie herantretenden neuen Pflichten als Hüterin und Walterin über Euer Hauswesen gewachsen zeigt.«

»So? Dann habt Ihr mehr von ihren Talenten gewußt als ich selbst!« lachte Proen. Es klang dem sehr hellhörigen Poeten wie eine etwas betretene Lache.

»Also wann kommt Ihr nach Sobbowitz?« fuhr der Feldhauptmann fort. »Vor Weihnachten, in der dritten Adventwoche, haben wir kalendergemäß unser großes Schweineschlachten. Auf die Leberwurst, die es da gibt, freue ich mich immer das ganze Jahr. Ich würde Euch dazu einladen, wenn der blutige Anlaß, ich meine das Schlachtfest, Eurem poetischen Genius nicht allzusehr wider den Strich geht.«

Opitz lächelte.

»Ihr scheint mein leiblich und sterblich Teil, das sich mein poetischer Genius als Behausung erwählt hat, doch für gar zu zerbrechlich und ätherisch zu halten, Herr Feldhauptmann, als ob mich die Teilnahme an einem Schlachtfest auf einem Gutshof aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Wenn ich in meinem stürmischen Leben nicht von mehr Blutvergießen Zeuge gewesen wäre als man beim Schweineschlachten ansichtig wird ... Gerechter Gott! Wie friedlich wäre mein Weg dann verlaufen!«

»Macht das mit meiner Eheliebsten persönlich aus, die Euch immer noch sehr wohlgesinnt ist!« rief der Feldhauptmann schon im Steigbügel. »Sie hat mir versichert, Ihr könnt keine Blutwurst sehen, geschweige denn schmecken, weil sie Euch an das Blutvergießen unserer Tage erinnert.«

Proen hatte dem Zurückbleibenden die letzten etwas spöttischen Worte bereits im Davonreiten vom Sattel aus zugeworfen und wandte sich jetzt, als reuten sie ihn, noch einmal zu Opitz zurück.

»Also Ihr seid willkommen auf Sobbowitz! Ich schicke Euch Gottfried mit einem Briefchen, worin Ihr feierlichst invitiert werdet, wenn es soweit ist.«

Damit salutierte er und zog seinem Gaul die Zügel an. Als Opitz so recht wieder zu sich kam und den beiden Reitern nachblickte, waren sie bereits ein Stück weit die Straße entlanggeritten. Er selbst wandte sich dem nahen Tor zu und setzte an der Wache und dem Stockturm vorbei seinen unterbrochenen Spaziergang durch das die Fortifikation abschließende, erst kürzlich neuerbaute Hohe Tor fort. Als er sich außerhalb des Festungswalles und des ihn umschließenden breiten Grabens befand, auf dem sich bereits eine Eisdecke andeutete, atmete er tief auf und sog die von der See hereinkommende kräftige Brise mit Behagen in seine Lungen ein. Er wollte die Stadt heute einmal aus der Vogelperspektive in Augenschein nehmen und schlug zu diesem Behuf den Weg zum Bischofsberg ein, der durch ein Netzwerk enger sandiger Gassen hügelan führte. Es fiel seinen durch das fortgesetzte Stubenhocken aus der Übung gekommenen Gliedmaßen nicht ganz leicht, sich durch die gefrorenen Lehmklütern und den mahlenden Sand bis nach oben hindurchzuarbeiten. Als er endlich die Höhe erstiegen hatte, mußte er erst ordentlich Atem schöpfen und merkte an seinem schnell klopfenden Herzen nun vollends, daß er binnen wenig mehr als Jahresfrist ein Vierziger sein werde. Sein Gesicht verzog sich zu einer Falte des Unmuts.

Wie doch in diesen letzten Wochen und Monden alles und jedes Erleben sich zu einer Mahnung an die Vergänglichkeit, zu einem richtigen memento mori wandelte! Selbst hier auf dieser beherrschenden Höhe, angesichts des zu seinen Füßen sich breitenden unvergleichlichen Stadtbildes, aus dessen Mitte die »dicke Marie«, der wuchtige wettergebräunte Turm von Sankt Marien gebietend über das Dächermeer und die anderen vor ihm verschwindenden Türme emporstieg, wollte der Gedanke an Freund Hein, den großen Rätsellöser und Friedensstifter, nicht von ihm weichen; und als sei es nicht genug der bis ins innerste Gebein erkältenden Mahnung, kam ihm in diesem Augenblick auch wieder das Gedicht jenes jungen Schülers, jenes schlesischen Landsmannes in den Sinn, jenes ... wie hieß er doch gleich? Und sofort fiel ihm der Name wieder ein, jenes Andreas Gryphius, den er, lächerlich genug, eine Zeitlang für seinen Nebenbuhler in Marie Dorothees Gunst gehalten hatte. Nein! Da hatte ihn kindische Eifersucht auf den Holzweg geführt. Nicht in der Gunst des Mädchens war der junge Mensch, dessen Namen man sich merken mußte, sein Nebenbuhler! Das hatte mit der angeborenen List des Frauenzimmers schon einen besseren Fang getan! Nein, nein! In der Gunst eines anderen Frauenzimmers, eines rühmlicheren, wichtigeren, in der Gunst der Muse war der unbeholfene junge Adept mit den melancholischen schwarzen Augen sein Nebenbuhler, ein ganz gefährlicher sogar. Denn wie hätte es sonst sein können, daß ihn dessen Gedicht von der Vanitas der Welt, das der blutjunge Anfänger ihm, dem anerkannten Meister, dem gekrönten Dichter, zur Beurteilung vorgelegt hatte – daß ihm dieses Versifikat eines Schülers erst der Dichtkunst seitdem nicht mehr aus dem Kopf wollte und ihn oft mitten in der Nacht, wenn er Schlaf suchte, mit seiner dunklen Klage überfallen und ihn zu peinlichen, ja, er gestand es sich, zu äußerst peinlichen Vergleichen mit den Erzeugnissen seiner eigenen Muse herausgefordert hatte?

Opitz hatte sich auf ein verfallenes Mauerstück gesetzt und sann, indem er den Kopf in den Händen vergrub, tiefversunken in sein Leben zurück, das ihm in diesem Augenblick wie ein bleicher, gestaltloser Nebelstreif erschien. Wieviel hätte er darum gegeben, wenn er es noch einmal und besser, glücklicher, größer hätte repetieren können! Ihm war zumute, als säße er in der engen Schulstube zu Bunzlau, seiner Vaterstadt, und vor ihm, dem Dreizehnjährigen, stünde sein gestrenger Oheim, der Konrektor Opicius, mit den faltigen Gesichtszügen wie von Pergamentleder, und gäbe ihm auf, sein lateinisches Skriptum über Cäsars de bello Gallico, das mit Strichen und roter Tinte über und über bedeckt und verunziert auf dem Pult vor ihm lag, noch einmal und grammatisch sowie stilistisch besser zu machen. Und dann, ja, weiß Gott! dann hatte er alle seine jungen Kräfte, allen seinen jungen Ehrgeiz zusammengenommen (wo war das alles geblieben!) und hatte dem gestrengen Oheim, der mit seinem spanischen Röhrchen schnell bei der Hand war, das verlangte Skriptum über die Belagerung von Armorica frei nach Julius Cäsars Bericht in glattem, fehlerfreiem Latein zu Gesicht gebracht. O ihr olympischen Götter! Wem ihr doch das Geschenk in die Wiege gelegt hättet, dieses ganze wundersame, nur leider unwiderruflich einmalige Leben, diese so viel größere, so viel wichtigere Schulaufgabe als alle lateinischen Skripta zusammen, noch einmal von vorne anfangen, noch einmal ohne alle die Fehler und Lapsusse von früher repetieren zu dürfen ...! Eine unnennbare Sehnsucht nach einer größeren, schöneren, reineren Welt als je eine war, die seine Augen gesehen hatten, wollte ihm fast die Brust zersprengen. Wer es hätte in Worte fassen, wer das Unnennbare, Unsagbare aus den Schächten der Tiefe hätte ans Licht fördern, es den Geschlechtern der Sterblichen in ihre Sprache hätte übersetzen können! Er wäre der König dieser Zeit, der gefeierte Heros der Nachwelt geworden. Warum war es ihm nicht vergönnt, den Reifen um seine Brust zu sprengen, das erlösende Wort, seiner Bande ledig, in die harrende Welt hinauszurufen, hinauszujauchzen? Warum blieb ihm dieses Höchste, Tiefste, dieses Letzte versagt? Grade ihm versagt, der der Muse sein Leben geopfert wie seit der Minnesänger Zeiten kein anderer in deutschen Landen?

»Haho? Narrt mich ein Trugbild meiner Sinne?« grollte eine gleichsam schartige Baßstimme in die inneren Gesichte des gänzlich versunken Dasitzenden. »Oder täusche ich mich nicht? Bist du es in leibhaftiger Gestalt, Martine, Herzbruder von der Alma mater Rupertina?«

Opitz fuhr in die Höhe und starrte die vor ihm stehende zweifelhafte Gestalt im zerschlissenen Mäntelchen an, das nach welscher Manier über die linke Schulter zurückgeschlagen war und seinem Träger etwas von einem fahrenden Schüler, um nicht zu sagen von einem lauernden Briganten verlieh. Es war ein untersetzter stämmiger Mann mit einem wilden Gelock rötlicher, da und dort schon ergrauender Haare, die ein bärtiges, von einem wilden Leben durchfurchtes Gesicht einrahmten. Zwei Augen wie glühende Kohlen starrten Opitz aus diesem gelblich bleichen Gesicht an, während die Arme des Fremden zur Begrüßung gegen ihn erhoben waren. Woran erinnerte ihn die kuriose Erscheinung doch nur?

»Heiterlin?!« rief er plötzlich etwas unsicher und streckte dem anderen seine Hand entgegen.

»Heiterlin ist tot und begraben, Herzbruder Martin! Auf seinem Grabe wachsen längst Disteln und Brennesseln!« versetzte der Fremde und schloß den etwas zögernden Herzogl. Rat in seine branntweinduftende Umarmung.

»Der hier vor dir steht, Martine, ist Serenius, des am Suff untergegangenen Heiterlin besseres und würdigeres Ich, sozusagen seine Steigerung, sein Komparativ, wie ja auch schon die Namensbildung Serenius zu wissen tut.«

»Also doch Heiterlin von der Heidelberger Alma mater vor zwanzig Jahren!« lachte Opitz nicht ohne Verlegenheit, indem er sich vorsichtig aus der Umarmung des anderen zu lösen suchte, denn nichts war ihm so verhaßt als das bewußte Rüchlein, das ihm aus der Sphäre des wiedergefundenen Jugendfreundes, mochte er sich nun Heiterlin oder Serenius heißen, entgegenwehte.

»Daß ich dich an diesem schönen Sonntagmorgen justament auf dem Bischofsberg bei Danzig nach zwanzig Jahren wiederfinde, Freund Martin, und zwar auf einem Steine sitzend, wie unser großer Vorfahr in Apoll, weiland der Vogelweider, nachdem ich dich in deiner Brotbänkenklause vergeblich besucht und dabei von einer resoluten Schönen eine derbe Abfuhr erlitten! ...«

Der Fremde hatte Opitz seine Hände auf die Schulter gelegt und schien in dessen Gesichtszügen nach etwelchen Merkzeichen der Vergangenheit zu suchen.

»Ja! Du bist es!« fuhr er nach ein paar Augenblicken fort und ließ seine Hände sinken. »Kein Trugbild narrt mich! Es ist Martin Opitz aus Bunzlau, des Fleischermeisters Sohn, der vor mir steht! Der gleiche, nur alamodisch frisierte und geschniegelte Martinus Opitz, mit dem ich mich so manchesmal in den Heidelberger Rinnsteinen gewälzt, als ich noch Heiterlin hieß!«

»Nun, nun!« wehrte Opitz, sichtlich unangenehm berührt, ab. »Gar so arg war es nun doch nicht. Ich erinnere mich nur an ein einzigesmal, wo mich der Deidesheimer Heurige, ich glaube, es war der 1618er, aus dem Sattel warf. Aber du hattest ja immer die Angewohnheit, die Dinge zu multiplizieren, zuvörderst dich selbst und so jetzt auch den einen kleinen Rausch, wo ich neben dir in der Gosse gelegen haben soll.«

Heiterlin alias Serenius trat unversehens einen Schritt zurück und musterte den Wiedergefundenen mit einer Miene unendlichen Hochmuts.

»Wie kommst du mir vor?« legte er los. »Du kleiner, armseliger Gauch, der mir gegenüber ein bloßes Nichts ist! Ein Herr Nihil! Ein Herr Nemo! Es wäre Ehre genug für dich, wenn du nicht nur die Dutzendmale in Heidelberg, sondern dein ganzes Leben lang in der Gosse neben mir gelegen hättest! Du könntest dir etwas darauf einbilden, dieser Ehre von mir gewürdigt worden zu sein!«

Er brach ebenso plötzlich in seinem Wutausbruch ab, wie er angefangen hatte, und ging mit großen Schritten, die Arme über der Brust verschränkt, vor Opitz auf und ab, der sich wortlos wieder auf sein Gemäuer gesetzt hatte und gespannt den Bewegungen und der von neuem einsetzenden Philippika des alten Freundes und Saufbruders mit Augen und Ohren folgte.

»Haho?!« krächzte der. »Das spreizt sich und plustert sich mit seinem alamodischen Gefieder wie ein kalekuttischer Hahn und ist doch weiter nichts als ein hundsordinärer Hausgockel, der auf dem Misthaufen sein alltägliches Lied kräht! Das will sich mit unsereinem messen, der auf seinen zwei Beinen durch alle Lande Europiens gepilgert ist und ein halbes Dutzend Ozeane durchschifft hat! Der um ein Haar Großwesir beim Sultan von Belutschistan geworden und ebenfalls auf ein Haar auf dem Berg Popokatepetl dem Aztekengott, dem Vitzliputzli zu Ehren, geschlachtet worden wäre! Und so einem Häufchen Dreck, das da auf dem Stein kauert und Gesichter schneidet, fliegen die Ehren dieser Welt zu, die Lorbeeren, die Titel, die Pelzschauben, die güldenen Halsketten! Indes unsereinem, dem heimlichen König, die Gedärme im Leib vor Hunger kullern und das Gebein vor Frost klappert!«

Opitz hatte sich von seinem Sitz erhoben und griff in seinen Hosensack.

»Du hungerst? Du frierst, Heiterlin? Glaube nicht, daß mir das erspart geblieben ist auf meinem Wege. Du hättest besser getan, es gleich zu sagen, anstatt mich zu beschimpfen, dem dein Schicksal in der Seele wehtut! Hier! Nimm!« Er steckte dem Stillgewordenen und vor sich hin Starrenden ein paar Silbermünzen zu. »Und jetzt, jetzt gehe jeder von uns seines Weges! Unsere Straßen trennen sich! Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Heiterlin! Fahr' wohl!«

Er trat, von dem Vorfall wie von einer nicht weichenwollenden Vision benommen, seinen Rückweg zur Stadt hinunter an. Es schien nun schon ein Tag der Überraschungen und der unerwarteten Begegnungen für ihn werden zu wollen. Er war noch keine hundert Schritte auf die unten im winterlichen Sonnenlicht sich breitende Stadt zugegangen, als er an einer Biegung ganz nahe vor sich zwei hügelan steigende junge Leute gewahrte, die ihrer Tracht nach Schüler des Akademischen Gymnasiums sein mochten und gleichzeitig seiner, wie er selbst ihrer, ansichtig zu werden schienen. Denn sie stießen sich gegenseitig an und traten ehrerbietig zur Seite, um ihn grüßend vorüberzulassen. Opitz, der für Gesichter kein besonderes Erinnerungsvermögen besaß, erkannte erst jetzt den einen, größeren und offenbar älteren von ihnen als jenen jungen Adepten der Dichtkunst, dessen Poem »Vanitas« ihn fort und fort beschäftigt und ihm nicht aus dem Sinn hatte kommen wollen. Es war sein junger schlesischer Landsmann Andreas Gryphius.

Als Opitz an den beiden ihn respektvoll grüßenden Jünglingen schon fast vorbei war, fiel ihm auf, daß der größere und ältere dunkelhaarige, eben dieser Gryphius, eine Bewegung machte, als ob er ihm etwas zu sagen habe. Er blieb daher stehen und sah den jungen Menschen fragend an.

»Nun? Ihr habt etwas auf dem Herzen, junger Freund? Nur heraus damit!«

»Oh! Wie freundlich, daß Ihr's mir erleichtert, Herr Herzogl. Rat!« stammelte der junge Mensch, und dann sich lebhaft zu seinem Gefährten wendend: »Habe ich's dir nicht gesagt, Christian? Das ist unseres großen Meisters erhabene Seele! Er nimmt sich aller derer an, die da kommen wollen, gleich als ein hilfreicher Gärtner seiner Pflänzchen! Ein edles Vorbild für alle!«

»So seid Ihr auch einer von den Pagen an Apolls Musenhof, junger Freund?« wandte sich Opitz an den kleineren der beiden, einen sorgfältig gekleideten schlanken, nahezu weißblonden Jüngling mit kühngeschnittenen Zügen. »Nennt mir doch Euren Namen, den man sich hoffentlich ebenso wird einprägen müssen wie den Eures Freundes Gryphius,« setzte Opitz gutgelaunt hinzu.

»Christian Hofmann von Hofmannswaldau,« erwiderte der Gefragte mit einer wohlklingenden, fast noch knabenhaften Stimme von ausgesprochen schlesischem Tonfall, indem er sich tief vor dem Meister verneigte.

Opitz hatte ein flüchtiges Lächeln. Der junge Mensch gefiel ihm; er wußte selbst nicht recht warum.

»Ich höre, Ihr seid auch ein Schlesier, junger Mann, ebenso wie Euer Freund hier, der düstere Melancholikus. Und auch wie ich selbst. Drei schlesische Landsleute zugleich hier auf dem Bischofsberg bei Danzig! Ja, ja, der große Krieg mit allen seinen Schrecknissen und Nöten! Was bleibt Apoll anderes übrig, als seinen Musenhof hierher auf diese Friedensinsel zu verlegen!«

Er nickte den beiden freundlich zu und schickte sich zum Gehen an, wandte sich aber noch mit einem plötzlichen Einfall an den Jüngeren, der sich Hofmannswaldau nannte.

»Besucht mich einmal, junger Freund! Euer Gefährte wird Euch meine Behausung sagen. In der Brotbänkengasse.«

»Oh! Ich weiß! Ich weiß!« entfuhr es dem Angeredeten, der vor Freude ganz rot geworden war. »Ich stand schon oftmals vor Eurer Tür und vor Euren Fenstern!«

Opitz lächelte wieder.

»Wie heißt es in der Schrift, in dem Buch der Bücher? Klopfet an und es wird euch aufgetan. Warum habt Ihr nicht angeklopft?«

»Weil er sich nicht getraut hat, Meister!« rief jetzt Gryphius, der das bittere Gefühl hatte, bei Opitzens Gespräch mit dem anderen übergangen worden zu sein und sich wieder in Erinnerung bringen wollte.

»Ja, wer nicht anklopft und sich nicht traut,« nickte Opitz, »dem wird nie und nirgendwo in dieser Welt aufgetan. Also traut Euch nur das nächstemal, junger Freund, wenn Ihr etwas vorzulegen habt, das sich sehen lassen kann.«

»Dank, Meister! Dank!« stammelte Hofmannswaldau. »Ich weiß nicht, wie es kam ... Ich trau' mich doch sonst! Du weißt es, Andreas?«

»Ja, bei Gott! Ich weiß es! Manchmal ist es, als ob du den Himmel stürmen möchtest! Und dann wieder ... Man wird nicht recht klug aus dir.«

»Vielleicht ist das auch ein Weg, den Parnaß zu erobern?« erwiderte der Angeredete mit einem vielsagenden Lächeln.

»Daß man die Menschen in die Irre führt, meint Ihr, junger Mann?« rief Opitz und lachte hell auf. »Nun, Ihr habt es gut vor! Aber hütet Euch! Es ist nicht ganz ungefährlich, auch für Euch selbst!«

Er wandte sich zu Gryphius, der wieder stirnrunzelnd beiseite stand. »Ihr wolltet doch in die Heimat zurück, sagtet Ihr jüngst?«

»Vielmehr die Heimat will mich zurück! Es verlangt sie nach dem verlorenen Sohn, der lieber hier in der Fremde die Schweine hüten als dort an des verhaßten Vormunds vollbesetztem Tisch sitzen möchte! Aber was hilft es! Ich muß mich auf den Weg gen Schlesien machen. Schon morgen schlägt die Abschiedsstunde. Erlaubt Ihr, Meister, daß ich mich hier so ohne alle Umstände von Euch verabschiede? Nehmt meinen tiefgefühlten Dank für alle Eure Güte!«

»Lebt wohl, junger Freund! Denkt an mein Wort! Ihr werdet Euren Weg machen.« Er reichte beiden jungen Leuten die Hand. »Und Ihr, Hofmannswaldau, besucht mich bald! Bringt mir mit, was Euch die Muse in einer glücklichen Stunde eingegeben hat.«

»Und Ihr wollt mir Euer Urteil sagen?« stammelte der weißblonde Jüngling.

Opitz nickte ihm mit einem olympischen Lächeln zu und wandte sich zum Gehen.

»Oh! Meister! Meister!« rief Hofmannswaldau ihm entzückt nach. »Möchtet Ihr dann doch auch zu mir sprechen können, wie eben hier zu meinem Freund, daß auch ich dereinst meinen Weg machen werde!«


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