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27

Drei Tage später begruben sie Peter Krüger, den Professor der Mathematik und der ars poetica am Gymnasio Academico, auf dem Friedhof der Katharinenkirche. Ein düsterschwerer Himmel, der sich nach kommendem Tauwetter anließ, lastete über Plätzen und Gassen, über den Häusern und Kirchen der alten Stadt. Unter den zahlreichen Trauergästen, die dem allgemein geschätzten und beliebten Manne auf seinem letzten Wege hienieden das Geleit gaben, fehlte mit den vollzählig erschienenen Zechkumpanen der Einhornrunde auch Martin Opitz von Boberfeld nicht. Wieder erklangen aus der Turmeshöhe über ihm in langem, feierlichem Schwunge die Glockentöne, die er an jenem Abend auf dem Wege zu dem sterbenden Freund das Fest des Dreikönigstages hatte einläuten hören, und riefen ihm die Erinnerung an all das Finstere zurück, das sich dann vor seinen Augen begeben hatte.

Es war ja gewiß nicht das erstemal, daß er dem allgebietenden Sensenmann gegenübergestanden und seinen eisigen Hauch verspürt hatte. Aber es wollte ihn bedünken, daß er ihm noch nie so tief hinter das Geheimnis seiner knöchernen Maske geblickt habe wie eben diesmal: ein Schritt nur vom flüchtig wachen Lebenstraum, der unsere irdischen Sinne für eine kurze Weile gefangen gehalten hat, hinüber in die beflügelte Traumseligkeit der immerwährenden Nacht. Wie hatte es Peter Krüger in seinen letzten Minuten genannt? Ihm war, als wüchsen ihm Flügel und er erhöbe sich in die Lüfte. Wie fernab mochte der seiner leiblichen Fesseln entledigte Geist in dieser Stunde, da man sein armseliges, von Irrtümern, Leidenschaften, Lastern beflecktes Irdisches gleich einem verpesteten Gewand in die Erde vergrub, sich bereits auf dem Fluge durch den Weltenraum befinden und nur noch gleich einem schon halb verklingenden Echo die sonoren Töne der schön stilisierten Trauerrede vernehmen, mit welcher der Pastor von Sankt Katharinen, Johann Mochinger, der Gelehrtesten und Berühmtesten einer aus der in Danzig lehrenden und schreibenden Humanistengilde, dem Andenken des so jäh aus dem Leben geschiedenen Freundes und Kollegen vom Gymnasio Academico huldigte.

»Habt Ihr's vernommen, Freund Opitz?« flüsterte der Buchdrucker Hünefeld dem neben ihm am offenen Grabe stehenden Dichter zu. »Gibt es noch irgendeine Tugend, welche unser armer Professor nicht besessen hätte und von welcher weder wir anderen noch er selbst leider etwas gewußt hat?«

»Haltet doch wenigstens jetzt Euren Mund, Hünefeld!« gab der Angeredete ärgerlich zurück und nahm die vom Totengräber dargereichte Schaufel zur Hand, um dem für immer entrückten Freunde die letzten Erdengrüße auf den Sarg hinabzusenden. Als das Trauergefolge dann das Friedhofstor schon wieder hinter sich hatte und jeder sich auf den Heimweg machte, trat Plavius, das Oberhaupt der Einhornrunde, hieran hatte auch Opitzens Erscheinen in Danzig nichts geändert, an diesen heran und begrüßte ihn mit feierlichem Hand- und Augenaufschlag.

»Ein wackrer Mann von hinnen ging;
Wir schätzten ihn nicht gar gering«

reimte er, von einer plötzlichen Eingebung seiner Muse befruchtet, und Opitz sah wieder die ihm wohlbekannte Träne der Rührung im Auge des Dichterkollegen blinken. Aber ihm selbst war nicht nach viel Worten zumute. So nickte er nur und wandte sich schweigend zum Gehen. Unter den älteren Scholaren des Akademischen Gymnasiums, die es sich nicht hatten nehmen lassen, dem beliebten Lehrer die letzte Ehre zu erweisen, befand sich auch Christian von Hofmannswaldau. Opitz hatte den jungen schlesischen Landsmann seit einiger Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen und winkte ihn, als der große Haufe sich verlaufen hatte, zu sich heran. Der junge Mann, der nur darauf gewartet zu haben schien, trat mit einer ihm sonst nicht eigenen Befangenheit an seine Seite. Er hielt den Kopf gesenkt und irgend etwas schien seine Schritte hemmen zu wollen.

»Nun, junger Freund, wie treibt Ihr's?« fragte Opitz im Ton freundlicher Ermunterung. »Man hat Euch lang nicht mehr in der Brotbänkenklause erblickt.«

Der Scholar schwieg, noch immer gesenkten Kopfes.

»Nun?« drängte Opitz und klopfte ihm auf die Schulter. »Hapert es irgendwo mit der Muse? Will der Kastalische Quell nicht sprudeln wie er soll?«

»Ach, wüßtet Ihr!« rief Hofmannswaldau, aus dem es plötzlich wie mit Urgewalt herausbrach. »Wüßtet Ihr, hochgeschätzter Gönner und Meister, wie es einem von allen guten Geistern der heiligen Poeterei Verlassenen zumute ist!«

Opitz lächelte schwach.

»Ich weiß es leider nur zu gut! Beichtet nur! Es wird Euch Herz und Sinn erleichtern.«

Der junge Poet hob zum erstenmal wieder den Kopf und sah dem Älteren ins Gesicht.

»Auch Ihr, liebwerter Gönner? Auch Ihr, der die poetische Form meistert, wie man einen sein störrisches Roß zureiten sieht? Der in allen Sätteln der heiligen Dichtkunst gerecht ist! Der alle poetischen Regeln und metrischen Gesetze in- und auswendig beherrscht wie seit der Minnesänger Zeiten keiner mehr! Auch Ihr wißt von dieser grauenhaften Öde und Dürre zu künden, die sich wie ein Leichenlaken über uns breitet! Von diesem Alpdruck, daß wir bei lebendigem Leibe im Grabe zu liegen meinen!«

»Mir will scheinen, mein Freund, Ihr schätzet mir die äußere Gewandung, die Einkleidung in unserer löblichen ars poetica, mit einem Wort ihre Form und Gestalt allzu hoch ein. Am Ende rührt es daher, daß es Euch nicht recht von der Hand will?«

Dem jungen Mann schien es einen Ruck zu geben.

»Aber habe ich es so nicht aus Eurem eignen Munde, Meister? Lehrtet Ihr mich nicht jederzeit, die Form sei alles in der Poeterei? Und verleugnet Ihr mit Eurem jetzigen Verdikt nicht alles, was Ihr bis dato gewesen seid und dem Zeitalter mit maßgeblichen Worten gleichsam eingehämmert habt? Euren ganzen Kampf gegen die nichtswürdige Reimerei von Gevatter Schuster und Seifensieder, die sich mit ihren holprigen Knittelversen an die göttliche Muse heranmachen und sie zu vergewaltigen trachten? Verleugnet Ihr ihn nicht kurzweg mit Eurem abschätzigen Wort gegen die Form in der Poeterei?«

Opitz erhob abwehrend seine Hand.

»Haltet ein, Hofmannswaldau, und lasset die Kirche beim Dorfe stehen! Was ich habe sagen wollen, sollte nur gegen das ›Zuviel‹ auf der Suche nach edler Form und Gestalt in der Poeterei gesagt sein. Es kann auch eine Übertreibung beim Maßhalten geben, so närrisch es klingen mag, vor allem beim Maßhalten in der Poeterei. Ich weiß wohl, daß ihr Heutigen meine Lehre so auslegt, als hätte ich jedem Jünger Apolls das Maul verbinden wollen, laß keiner mehr seine eigne Sprache reden dürfe, wie sie ihm aus dem Herzen quillt. Ich weiß es wohl, junger Freund, und glaubt es mir oder glaubt es auch nicht, ich schlage manchmal an meine Brust, wenn ich um mich blicke und sehe, was ich angerichtet habe, und ...« er senkte seine Stimme zu einem kaum noch hörbaren Flüstern, »und – da habt Ihr mein Geständnis! – worüber ich auch selbst nicht mehr hinwegzukommen vermag!«

Opitz war stehen geblieben, strich sich über die Stirn und atmete tief auf, um dann gewendet zu dem jungen Scholaren an seiner Seite, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, ruhiger und nicht ohne ein stilles Lächeln fortzufahren:

»Wohin sei ich geraten? werdet Ihr denken. So hört denn auch dieses Letzte für heute noch! Manchmal beneide ich im stillen jenen Nürnberger Schuster, den ich in meiner Jugend für einen schlimmen Verderber in der Poeterei gehalten habe und am liebsten ganz vom Parnaß verjagt hätte!«

Hofmannswaldau konnte sich nicht mehr halten.

»Meister Opitz von Boberfeld! Ihr? Ihr beneidet den Schuster Hans Sachs? Den hölzernen hanebüchenen Gesellen, der Euch nicht bis an den Nabel heranreicht an Gelehrsamkeit und poetischer Kunstfertigkeit?«

Opitz hatte seine überlegene Haltung gegenüber dem jüngeren Adepten wiedergefunden.

»Es ist, wie ich sagte,« erwiderte er mit einem jetzt ganz offenen Lächeln, das dem andern wie Selbstironie vorkommen wollte. »Und wißt Ihr auch warum? Weil jener Nürnberger Schuster noch dichten konnte, wie er wollte, wie es ihm ums Herz war und wie ihm der Schnabel gewachsen war. Seitdem ich als Wächter am Parnaß erschienen bin, steht das keinem Jünger Apolls mehr frei!«

»Auch Euch selbst nicht?« stammelte Hofmannswaldau.

»Auch mir selbst nicht!« gab Opitz grimmig in sich hineinlachend zurück. »Mir am allerwenigsten! Jetzt gehet hin, junger Mann, und verratet mein Geheimnis allen, so es hören wollen!«

»Verstattet vielmehr, hochgeschätzter Meister,« entgegnete Hofmannswaldau mit einem Lächeln halb des Selbstbewußtseins, halb der Ehrerbietung, »daß ich Euer Geheimnis, wie Ihr es mit gutem Grund nennen mögt, streng im Busen bewahre. Denn es taugt bei Gott nicht für den Troß der Hinterhermarschierenden. Mir aber gilt Euer Bekenntnis nicht allein als eine Auszeichnung hohen Grades, deren Ihr mich für würdig erachtet habt. Es bedeutet noch weit mehr für mich ...«

Er schien zu stocken. Opitz, verwundert über die plötzliche Wandlung, die mit dem jungen Mann vorgegangen zu sein schien, wandte ihm seinen fragenden Blick zu.

»Ja, Ihr werdet es vielleicht nicht erwartet haben,« setzte der junge Dichter seinen Satz fort. »Aber was Ihr mir da anvertraut habt, bedeutet für mich gradehin die Erlösung von jenem fürchterlichen Alpdruck, wovon ich Euch vorhin Kunde gab, der mich seit langem bedrängt. Denn jetzt weiß ich, er wird von mir weichen. Eure Worte werden mir die Kraft dazu leihen. Und fortan wird es in deutschen Landen wenigstens einen Jünger Apolls geben, der seine Leier nach dem Puls seines Herzens stimmen wird und nicht nach einem von außen aufgedrungenen Gesetz oder Formelkram.«

»Und wer wäre dieser Vorwitzige? So müßte man ihn wohl heißen?« fragte Opitz mit frostigem Ton.

»Der wäre,« erwiderte Hofmannswaldau und hob nicht ohne einen gewissen Trotz den Kopf, »der wäre, haltet mich nicht für vermessen, der wäre ... ich selbst.«

Opitz lächelte sarkastisch.

»Und glaubet Ihr, mein Bester, daß viele von den jüngeren ebenso von sich dächten, wie Ihr jetzt, wären sie Ohrenzeugen unseres Diskurses geworden oder erführen durch Euch davon? Zum Exempel Euer einstiger Herzbruder hier, der Gryphius?«

»Gryphius ganz bestimmt! Und mancher andre gewiß auch,« erwiderte Hofmannswaldau nach kurzem Besinnen. »Was Ihr mir anvertraut habt, wäre für uns alle einer Befreiung gleichzuachten, wenn jeder der Stimme in seiner eigenen Brust folgen dürfte und nicht mehr auf einen vorgeschriebenen Kodex der ars poetica zu hören brauchte.«

»Sonach das allgemeine Chaos hereinbräche!« warf Opitz unwillig ein. »Bleibt mir mit solchen Deduktionen und Konsequenzen meiner unbedachten Worte, ich gebe es zu, zehn Schritt' vom Leibe! Auch auf dem Parnaß müssen Ordnung und Regel herrschen, so gut wie in allen übrigen Bezirken der Sterblichen. Wohin es führt, wenn dies einmal aufhört, möge jeder aus den gegenwärtigen öffentlichen Zuständen im Reich und wo immer sonst, außer in dieser friedevollen Stadt, abnehmen.« Er blickte auf. »Aber ich sehe, wir stehen schon seit geraumer Zeit vor meinem Hause und holen uns kalte Füße. Also lassen wir es für heute genug sein. Macht Euch ans Werk und berichtet mir wieder einmal von Euren Taten, wenn Ihr ganz mit Euch einig seid, der poetische Messias des Zeitalters zu werden. Wie nennt es sich denn, das jüngste Kind Eurer Muse?«

»Die grausame Tragödie von ›der Jungfrau Judith und dem erschröcklichen Feldherrn Holofernes‹. Judith wird von Holofernes vor dem Publiko entehrt!« antwortete der junge Dichter.

»À la bonne heure!« rief Opitz. »Ich sehe, Ihr geht ordentlich ins Zeug. Aber verfehlt mir nicht den richtigen Weg zwischen Zuviel und Zuwenig. Es wäre nicht nur Euer eignes Verderben. Es wäre auch ein Verderben für so manche, die Euren Spuren folgen wollten.«

Als Opitz gleich darauf die seit Jahren gewohnte Treppe zu seiner Studierstube hinaufstieg, kam ihm plötzlich wieder in den Sinn, wie er in den ersten Monaten seines Hierseins so manches liebe Mal einen gewissen leichten und dennoch festen Schritt sich von obenher hatte nähern hören und gleich darauf begegnend in zwei helle blaue Augen unter einem üppigen blonden Kraushaar geblickt hatte, die seines Grußes, vielleicht gar eines fröhlichen oder mitteilenden Wortes von seinen Lippen zu harren schienen. Wie weit lag das alles nun schon zurück! Seit sie des Nigrinus Ehehälfte geworden, war Marie Dorothee allen diesen häuslichen Begegnungen mit dem Gastfreund ihres Mannes ausgewichen. Opitz entsann sich nicht, daß er sie in diesen drei Jahren noch jemals auf der Treppe angetroffen hatte, wenn er vom Spazierweg oder sonst einem Gang gedankenverloren zu seinen häuslichen Penaten zurückfand. Es war ihm noch nie so zum Bewußtsein gekommen wie heute und er fühlte es grade an diesem Tage des unwiderruflichen Abschieds von dem dahingegangenen Freunde als ein neues Zeichen der Vergänglichkeit, das ihm einen Stich ganz nahe am Herzen versetzte.

Aber was war das? Schloß sich im obern Stockwerk, das über dem seinen lag, nicht grade die Tür hinter jemandem, der gleich darauf mit jenem wohlbekannten Schritt die Treppe hinab ihm entgegenkam und vor seiner Stubentür ihm begegnen mußte? Sollte es wirklich Marie Dorothee, das Weib des Predigers Nigrinus, sein? Täuschte ihm der Puls seines Blutes, das er gegen seine Schläfe hämmern fühlte, nicht irgend etwas Falsches vor?

Aber es war keine Täuschung und kein Selbstbetrug seiner Sinne. Als er, seine Schritte beschleunigend, grade vor seiner Stubentür stand, im Begriff, sie aufzuklinken, traf es sich, daß auch Marie Dorothee, die letzte Stufe hinabsteigend, ebendort anlangte. Einen Augenblick standen sich beide im Dämmerlicht des Treppenflurs gegenüber, ohne Worte zu finden. Nur mühsam rang Opitz sich den ersten Ton ab.

»Seid Ihr's wirklich, Frau Prediger? Ich erkannte Euch nicht gleich mit der Reisetasche in der Hand.«

»Frau Prediger ...?!« stieß Marie Dorothee mit bitterem Lachen heraus. »Nennt mich nicht mehr so! Ich bin's nicht mehr! Will's nicht mehr sein!«

Opitz trat bestürzt einen Schritt zurück.

»Was ist vorgefallen? Ihr erschreckt mich! Euer Mann ...?! Ist er oben? Er könnte uns hören?«

Von neuem gellte ihr bitteres Lachen.

»Mein Mann ...?! Seid ohne Sorge! Er hört Euch nicht. Der Herr Prediger ist vor einer halben Stunde zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und aus dem Hause gestürzt, als sei der Leibhaftige selbst hinter ihm her! Vielleicht war er's auch wirklich!«

Opitz schüttelte aufgeregt den Kopf.

»Ihr redet in Rätseln, Marie Dorothee! Was ist geschehen? Erklärt mir doch! ... Ein Zank, wie oftmals zwischen Eheleuten ...?«

»Kein Zank wie oftmals zwischen Eheleuten!« gab sie mit blitzenden Augen zurück. »Ein Zank vielmehr, wie er nur ein einziges Mal zwischen Mann und Weib sich begeben kann und dann niemals mehr wieder! Ein Zank, das Wort ist viel zu wenig dafür, wonach es aus sein muß für immer und alle Zeit zwischen ihm und mir!«

Opitz suchte besänftigend ihre Hand zu fassen und sah sich fassungslos und nicht ohne Sorge um, ob irgendein Zeuge nahe sei.

»Ich verstehe dich nicht, Marie Dorothee,« sagte er mit halblauter Stimme. »Erzähle mir, was geschehen ist. Aber nicht hier auf der Treppe. Komm in meine Stube.«

Er stand auf der Schwelle und suchte sie durch die halboffene Tür zu sich hereinzuziehen. Aber da sie sich nicht vom Fleck rührte, gab er sein vergebliches Bemühen auf und verharrte in der offenen Tür, Auge in Auge mit ihr.

»Noch immer versteht Ihr mich nicht mit all Eurem Witz und Verstand?« rief sie ihm mit einer höhnischen Lache entgegen.

»Mäßigung! Mäßigung, Marie Dorothee!« mahnte er mit beschwörend erhobener Hand.

»Mäßigung verlangt Ihr von einem zertretenen Weib? Was hat er mir alles vorgeschmissen! Daß ich mit andern zu tun gehabt hab', eh' er mich genommen hat! Mit dem jungen Menschen, mit dem Scholaren, der zu uns ins Haus kam ... Und auch ...!«

Sie stockte, senkte den Kopf und schwieg.

»Doch nicht ...?« stammelte er und wies zögernd auf sich selbst.

»Ja, auch! Auch!« rief sie heftig nickend. »Grade auch das! Und deshalb habe Gott der Herr mich gezeichnet, daß ich ihm keine Kinder bringen solle! Nach drei Jahren noch keine Kinder im Haus! Da ist es mir zuviel geworden! Hab' ihm die Maske heruntergerissen! Die gottesfürchtige Maske, die er vor aller Welt zur Schau trägt! Vor aller Welt! Und was das Schlimmste, auch vor sich selbst! Hab' ihn einen Heuchler genannt! Einen nichtswürdigen Heuchler, der sich mit seiner nackten Gier und Fleischeslust hinter der gottesfürchtigen Maske versteckt. Alles wollt Ihr gewußt haben, wo nichts zu wissen war, schrie ich ihm ins Gesicht, und habt mich dennoch zum Weibe genommen vor lauter Brunst und Gier? Fragt Euch selbst, wie Ihr damit nackt und bloß in all Eurer Verworfenheit vor Gottes Richterstuhl stehen wollt, Herr Oheim! Denn das seid Ihr von jetzt ab nur noch für mich! Wie ich ihm das gesagt hab', war's wie ein Schlag vor den Kopf. Er hat mir den Rücken zugedreht und ist davongestürzt!«

»Und jetzt?« fragte Opitz, dem es gelungen war, die wie von einem wilden Taumel Ergriffene, ihrer selbst unbewußt, in seine Stube hereinzuziehen und die Tür hinter ihr zu schließen. »Und jetzt?« wiederholte er. »Was jetzt?«

Sie sah mit irrem Blick um sich.

»Wo bin ich? Bei Euch? ... Nein! Ich will nicht! Laßt mich hinaus! Ich will nicht hier bleiben! Um alles in der Welt nicht hier!«

»Und wo denn sonst? Arme, arme Frau!« sagte er leise und suchte wieder ihre Hand zu fassen.

»Überall anderswo! Nur nicht hier! Die Welt ist weit!« rief sie. »Ich geh' mich irgendwo als Magd verdingen, wo mich kein Mensch kennt! Wo ich mit meiner Schande allein sein kann! Aber um keinen Preis hier im Hause! ... Hier bei dir! Nicht hier, wo ich glücklich war! Nicht hier! Laß mich fort!«

Sie zerrte an ihrer Hand, die er noch immer festhielt. Aber er gab nicht nach.

»In Nacht und Nebel hinaus?« rief er. »In die eisige Finsternis? Wo kämest du hin? Ins Elend? In Schimpf und Schande? Nein! Ich lasse dich nicht! Es wäre dein Untergang! Es wäre auch der meine!«

Sie senkte den Kopf und schien ruhiger zu werden, zur Besinnung zu kommen.

»Und hier bei dir?« erwiderte sie. »Wär's nicht zehnmal gewisser unser beider Untergang? Frage dich selbst! Er kommt zurück! Der Ohm! Der Prediger! Er findet mich hier! Hat er dann nicht recht gehabt in allem und jedem? Hat er mich dann nicht mit Grund beschimpft? Meinst du, er werde schweigen über dich und mich?«

»Ja, das wird er! Das muß er! Schon um seiner selbst willen!« warf Opitz ein, sich schon halb widerlegt fühlend.

Sie stampfte heftig mit dem Fuß auf.

»Er wird nicht schweigen! Er bringt die ganze Stadt gegen dich auf! Es gibt ein Geschrei, wie schon lange keins war in dieser scheinheiligen Gesellschaft! Der große Opitz und des Predigers Nigrinus ehrvergessenes Weib! Ich hör' sie schon schreien! Ich hör' sie geifern! Du bist verloren, armer Freund, wenn ich bleibe! Nur fort! Fort! Eh' es zu spät ist! Er kann jeden Augenblick wiederkommen! Er sucht mich! Er findet mich hier bei dir! Allmächtiger auf deinem Thron! Fort! Fort!«

Mit einem heftigen Ruck entriß sie sich seiner umklammernden Hand und war, ehe er zu sich kam, zur Tür hinaus.

»Marie Dorothee! Bleib'! Bleib'!« rief er der Enteilenden über die Treppe hinunter nach.

»Leb' wohl! Leb' wohl!« hallte es schon von unten her zu ihm herauf. Gleich darauf hörte er, wie die Haustür hinter ihr ins Schloß fiel.

Halb von Sinnen wankte er in seine Stube zurück und sank auf einen Schemel zunächst der Tür. Alles schien sich um ihn zu drehen.

»Sie ist verloren! ... Verloren!« murmelte er vor sich hin und unaufhaltsam kamen ihm die Tränen.


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