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17

Nach so manchem Jahr eines unbehausten Wanderlebens und herzzehrender Heimatlosigkeit war es nun wieder das erstemal, daß Martin Opitz, der weitberühmte Verfasser der »Deutschen Poeterey« und lorbeergekrönte Poet, dem hohen Fest der Geburt des Herrn und dem mit ihm einziehenden Winter im Besitz einer festen Heimstätte und ohne sonderliche Geldnöte entgegensehen konnte. Der Dichter mußte bis weit in seine Jugendzeit im Bunzlauer Elternhaus zurückdenken, wenn er sich eines ähnlichen Gefühls sicherer Geborgenheit am heimischen Herd erinnern wollte. Es verschlug ihm in diesem verhältnismäßigen Glückszustand auch nichts, daß das Einerlei dieser nebeldurchsponnenen vorwinterlichen Tage durch kein persönliches Erlebnis besonderer Art noch auch durch irgendwelchen öffentlichen oder gesellschaftlichen Vorgang des städtischen Lebens ein eigenes Licht oder eine sich vom Gestern oder Morgen abhebende Buntheit erhielt.

Habe ich nicht, so fragte er sich manchmal, wenn er vor dem Einschlafen seine tagesmüden Glieder auf dem Lager ausstreckte, habe ich nicht in meinem bisher verflossenen Leben mich genugsam an so mancherlei aufregenden Aktionen ersättigen können und der blutigen Moritaten rings um mich herum eine hinreichende Menge verüben gesehen, so daß es eines Mehren hiervon für meine noch übrige Lebenszeit fürderhin nicht bedarf?

In jedermanns Leben gibt es solche meist freilich nur kurz währenden Zwischenzeiten, wo alles, was geschieht, gleichsam von selbst zu geschehen und uns in den Schoß zu fallen scheint; wo in dem großen Gespinst, das wir Leben nennen, Masche sich an Masche, Lage sich zu Lage fügt, ohne daß wir den Finger zu rühren brauchen; wo aus unmerklichem Werden, Sprießen und Reifen dem geduldig Harrenden eine kaum noch erhoffte Frucht in die Hand wächst, am Ende sogar ein ungeahnter Aspekt der Zukunft sich eröffnet. Ein solcher Zustand bereitwillig hinnehmender Empfängnis war es, der den von den Stürmen der Zeit an den Strand dieser gegenwärtigen Friedensinsel verschlagenen Poeten mit einer Art von wohliger Erschlaffung überkam. Die ehedem so unstet flackernde Flamme des Ehrgeizes schien bis zu einem schwach glimmenden Fünkchen heruntergebrannt. Liebe und Haß, vormals oft eine gefahrdrohende Brandung, lagen wie zu einem spiegelglatten Gewässer gesänftigt nur noch als ein ferner Traum hinter ihm. Kaum vermochte er sich zu erinnern, wie es gewesen war, als ihre Wogen ihn noch hin und her schleuderten.

Vielleicht hing es mit der durch den drückenden Novembernebel noch geförderten Selbsteinkehr dieser besinnlichen Zwischenzeit zusammen, daß auch das persönliche Verhältnis zwischen Opitz und seinem Gastgeber Nigrinus, um das es nicht gerade zum besten gestanden hatte, wieder ein freundlicheres Gesicht gewann. Man suchte sich nicht mehr, wo man konnte, aus dem Wege zu gehen, mied auch nicht mehr ein gelegentliches freundliches Wort zu der schon üblich gewordenen stummen und steif zeremoniellen Begrüßung. Hatte der Prediger inzwischen das bindende Jawort für seine Werbung von Marie Dorothee erhalten? Fühlte er sich seines Besitzes bereits sicher genug und wollte er dies seinem Gast durch eine überlegene Haltung zu verstehen geben? Opitz wußte es nicht und wünschte auch nicht einmal es zu wissen, da es ja nur einer Frage an das Mädchen bedurft hätte, um es zu erfahren. Aber eben dies wollte er unter allen Umständen vermeiden und merkte auch bald, daß er damit nur ihrem eigenen Wunsche begegnete. Sie suchte sich jedem Zusammentreffen oder Alleinsein mit ihm, wo es nur ging, zu entziehen, mochte es nun begreifliche Scham ihm gegenüber, wohl gar Reue und schlechtes Gewissen sein.

Opitz hatte mehr und mehr Stunden, wo er ihr ob ihres »Verrats«, wie er es noch vor kurzem genannt hätte, nicht einmal gram sein konnte. Er wunderte sich über sich selbst. War das wirklich alles in ihm erloschen? Ein Häufchen Asche? Lohnte es sich dann überhaupt noch zu leben, zu atmen, über Gottes Erde zu wandeln? Wozu war er überhaupt noch da? Nein! Dies zu denken war Frevel! Bis zu welchem Abgrund war er auf der Flucht vor sich selbst geraten! Hatte ihn die gewohnte Klarheit des Geistes denn auf einmal verlassen? Er mußte zu sich selbst zurückfinden. Mußte ergründen, wie es um ihn stand.

Nicht zum erstenmal ging er daran, eine Rechnung über sein bisheriges Leben anzustellen. Mit dem Fazit, das herauskam, konnte er zufrieden sein. Gewiß, so manches war verfehlt, mißglückt. Aber war es nicht genug, daß der Sohn des Fleischermeisters, dessen erste Sinneseindrücke die geschlachteten Ochsen und Schweine an den Wandhaken des väterlichen Schlächtergewölbes gewesen, der aufgewachsen war in der dumpfen Enge einer kleinen Ackerbürgerstadt, in ungestümem Anlauf alle diese einengenden Fesseln von Geburt, Abstammung, Umgebung gesprengt und von sich geworfen und in weniger denn einem Jahrzehnt die höchste Sprosse der geistigen Ruhmesleiter im Heiligen Römischen Reich erklommen hatte?

Hatte es dabei ausbleiben können, daß auch Frau Venus in Gestalt so mancher blonden oder braunen Schönen in allen Landen, wohin er seinen Fuß gesetzt, ihm für kürzer oder länger ihre Gunst geschenkt und sein Blut erhitzt, seine Sinne in Fesseln geschlagen hatte? Ein flüchtiges, nur allzu vergängliches Glück! So gestand er sich selbst. Aber trug er die Schuld daran? War es nicht vielmehr das allmächtige Schicksal, das die Schuld dafür traf? Hatte es ihn irgendwo auf Erden eine bleibende Stätte gewährt, so daß er es hätte wagen dürfen, sein eigenes Geschick mit dem eines geliebten Weibes auf immer zu verbinden? Und konnte man es allen denen, die seine Straße gekreuzt und sie bis zum nächsten Meilenstein mit ihn geteilt hatten, verdenken, daß sie vernünftig genug gewesen waren, ihn seinen Weg in den Nebel der Zukunft allein weitergehen zu lassen? Gehörte denn diese blonde Danzigerin, dieses gegenwärtige Mädchen Marie Dorothee, das sich ihm in einer selbstvergessenen Stunde an den Hals geworfen hatte und jetzt nichts mehr davon wissen wollte, nicht auch zu der Schar dieser klugen, vielleicht allzu klugen Jungfrauen, die einen auftrumpfenden Innungsmeister oder wohlbestallten Stadtschreiber, nun gar einen ehrwürdigen Gottesmann dem Leben an der Seite eines unbehausten, landfahrenden Poeten vorzogen und sich lieber in ein gutgemachtes Federbett hinter festen Mauern und Wällen als auf ein Strohlager in einer schmutzigen Herberge an der Landstraße legten? Nein, entschied der Dichter bei sich, hier sei kein Grund zu Zorn und Haß. Freilich auch nicht zu einem besonderen Maß von Liebe und Leidenschaft noch zu irgendeiner Art von Selbstanklage oder Verantwortung vor Gott und Menschen.

So fügte es sich denn wie von selbst, daß die Beziehung des Dichters zu der Nichte des Herrn Nigrinus, die wohl in Kürze berufen war, dessen angetraute Zweite zu werden, mit der Zeit wieder zur Alltäglichkeit zurückkehrte, wie sie vor der heißen Stunde gewesen war, als Opitz sich zu jener von den Ereignissen erzwungenen abermaligen Reise nach Thorn angeschickt hatte. Aber wenn es nach dem Wort jenes alten Weisen, der den Dingen bis tief auf den Grund blickte, wahr ist, daß keiner in den gleichen Fluß steigt, somit nichts im Leben auf dieselbe Weise wiederkehrt, noch das gleiche Gesicht zeigt, so war auch bei aller wiederhergestellten Alltäglichkeit im Verkehr zwischen Opitz und Marie Dorothee doch ein früher nicht vorhandenes Wissen beider um einige nicht auszulöschende Vorfälle mit dabei, was jedem von ihnen, zuvörderst dem weiblichen Teil, die natürliche Unbefangenheit nahm und Rede und Gegenrede eine gewisse Gezwungenheit, wenn nicht Verfänglichkeit beimischte. Gereiztheit, die bis zur Feindseligkeit wuchs, wenn man sich beieinander befand, war die begreifliche Folge.

Wo anders hätte der Dichter Ersatz finden können für das, was ihm so entging und was doch beinahe wie Lebensbrot für ihn war? Wo anders, wenn nicht im Austausch mit einer hochgestimmten Frauenseele? Ein von den obern Göttern gelenkter Zufall, so wollte es Opitz erscheinen, führte ihm, als er sich an einem sonnigen, schneeglitzernden Dezembertag auf der am Höhenrande über dem Stadtgraben entlangziehenden Promenade erging, die Dame Constanzia über den Weg. Sie begrüßte ihn mit offenbarer Freude und schalt ihn aus, warum er sich so versteckt gehalten und jedem Umgang mit seinen Freunden und Verehrern in der Stadt entzogen habe. Der Dichter entschuldigte sein Fernbleiben von allem geselligen Verkehr mit den gelehrten Studien und Arbeiten, denen er sich während der letzten dunkeln Wochen mit verdoppeltem Eifer hingegeben habe, und deutete mit schwachem Lächeln an, man werde wohl bei seinen hiesigen Freunden ihn nicht allzusehr vermißt haben, da es ja sonst ein leichtes gewesen wäre, ihm in sein Verlies, wie er seine Unterkunft beim Prediger Nigrinus nennen möchte, ein briefliches Zeichen des Gedenkens zukommen zu lassen und ihn für ein paar gesellige Stunden seinen Studien zu entführen.

»Oh! Ihr tut mir bitter unrecht, hochgeschätzter Herr Herzogl. Rat!« rief Constanzia lebhaft abwehrend. »Wer von uns Frauenzimmern, die in Danzig etwas vorstellen, hätte sich getraut, Euch der Zwiesprache mit Eurer Muse zu entziehen, wofern Ihr nicht selbst den Wunsch danach kundgabt?«

Der Dichter, der zwischen diesen schmeichelhaften Worten einen leisen Klang wie von Spott und eine Anspielung auf die etwa dem Mädchen Marie Dorothee zugeschriebene Rolle einer Muse zu vernehmen glaubte, machte eine gemessene Verbeugung und schien sich verabschieden zu wollen.

»Nein! Nein!« rief wiederum Constanza in ihrer lebhaften Art. »So einfach entkommt Ihr mir nicht, bester Herr Rat! Nennt mir einen Tag oder eine Stunde, die Ihr für unser Haus, für mich und auch für meinen Mann freihabt, der Euer dichterisches Opus kennt und wahrhaft zu schätzen weiß.«

Das waren Worte, die der wunden Seele des Poeten wie Honigseim eingingen, so sehr er sich auch bewußt war, daß sie im Munde einer Weltdame wie Constanzia nicht viel mehr als die üblichen Komplimente sein mochten, die man jederzeit zur Hand hatte. Höflichkeit nicht nur, sondern auch die Pflicht, in dieser Stadt der unnahbar auf ihren Geldsäcken thronenden reichen Krämer dem eigenen Nutzen zugetan zu sein, rieten jedenfalls, nicht unnötig den Abweisenden oder gar den Gekränkten zu spielen, sondern den Zipfel ihres Mantels, den ihm Fortuna darbot, mit beiden Händen zu ergreifen und recht festzuhalten.

»Da Ihr mich auf eine so schmeichelhafte Weise apostrophiert, edle Frau,« erwiderte er, sich über Constanzias Hand beugend, »so wäre es gegen alle Gebote der Courtoisie und der guten Lebensart ...«

»Ja, nicht wahr?« fiel ihm Constanzia in die wohlgesetzte Rede, »das wäre es, mir etwa einen Korb zu geben! ... Laßt Euch das bei allen Göttern nicht einfallen, Herr Poet! Bedenkt, daß es nicht nur die eine Muse gibt, der Ihr zu huldigen habt, sondern ihrer neun, also eine große Mehrzahl. Und es wäre verkehrt, Euch den Groll dieser Mehrzahl zuzuziehen, wenn Ihr Euch auch vielleicht die Gunst jener einen dadurch verscherzt.«

»Nun, nun, edle Frau!« bemerkte Opitz mit dem Lächeln einer ihm sonst fremden Verlegenheit. »Was eine Vielzahl der mich inspirierenden Musen anbetrifft ... so weit ginge meine Ambition nicht. Ein armer Sterblicher, wie Euer ganz ergebener Diener hier, kann froh sein, wenn ihm wenigstens eine dieser neun Musen zulächelt, zumal, wenn sie in so bezaubernder Gestalt auftritt wie eben jetzt.«

»Oh! Wie charmant!« rief Constanzia und hatte wieder ihr berühmtes rätselhaftes Lächeln um die Mundwinkel. »Also Ihr schwört mir zu kommen? Ihr schwört es bei Apoll und seinem ominösen Musenhof!«

»Ich schwöre es!« beteuerte Opitz entzückt und erhob bekräftigend seine Schwurhand. »Bei allem, was Ihr wollt, schwöre ich!«

»Es ist gut! Ihr werdet von uns hören, von mir und meinem Ehegemahl!« schloß Constanzia und nickte ihm mit einem bezaubernden Blick zu, um dann ihren Weg fortzusetzen.

Schon nach wenigen Tagen hielt Opitz das verheißene Billett des Stadtkämmerers Kerschenstein und seiner Gemahlin Constanzia mit der Einladung zu einem Glas Wein in der Hand. Es war nur ein kurzer Weg von Opitzens Wohnung in der Brotbänkengasse nach dem Kerschensteinschen Hause in der Jopengasse. Er führte den Dichter auch an dem soeben eröffneten Christmarkt bei der Marienkirche mit dem inmitten der Buden aufgestellten und schön behängten Tannenbaum vorbei. Es war für Opitz ein erhebender und herzbewegender Anblick, der hoch- und kerzengerade gewachsene grüne Waldriese, der mit dem steil aufsteigenden gewaltigen Gemäuer der Kirche den Wettbewerb aufnehmen zu wollen schien und, wenn er auch unten in der Tiefe zurückbleiben mußte, doch mit seinen ausladenden grünen Ästen dem festungsartigen Koloß an seiner Seite von der wilden Freiheit seiner Waldheimat zu erzählen schien.

Der Empfang im Hause des Stadtkämmerers war bürgerlich schlicht und anspruchslos und erinnerte in nichts an die den französischen Gästen vor mehreren Wochen bereitete feierliche Aufnahme. Kerschenstein selbst war zugegen, um den Dichter zu begrüßen. Er schien gerade einmal von seinen Gichtanfällen frei zu sein und sich in aufgeräumter Stimmung zu befinden. Auch Constanzia lächelte dem Gast heiter und ungezwungen entgegen. Sie trug ein reich besticktes Samtkleid, dessen mattolivene Tönung aufs beste mit dem kastanienbraunen Haar und den zarten Farben ihres Gesichts zusammenstimmte. Man hätte die dreißigjährige Frau für Mitte Zwanzig halten können und wäre sicher nicht daraufgekommen, daß in einer der Hinterstuben des Hauses bereits zwei Kinder, ein fünfjähriger Junge und ein vierjähriges Mädchen, herumtollten.

Opitz war angesichts des Ratsherrn, dessen Verschlossenheit er kannte, zuerst etwas enttäuscht. Er hatte gehofft, mit Constanzia allein Zwiesprache halten zu können. Aber Kerschenstein schien gegen sonst ganz ausgewechselt und geradezu aufgetaut zu sein, so daß der Poet bald von der guten Laune seines Gastgebers angesteckt wurde und sich in die unerwartete Lage hineinfand. Hatte es nicht auch allerlei für sich, dem mächtigen und einflußreichen Mann, der über den Stadtsäckel gebot, einmal in persona näherzutreten und sich an seinen vielfältigen Erfahrungen und Meinungen zu erfreuen, womit der Ratsherr denn auch nicht hinter dem Berge hielt?

Kerschenstein hatte, wie fast alle diese Danziger Patriziersöhne, in jungen Jahren sich tüchtig den Wind der Fremde um die Nase wehen lassen und war weit in der Welt herumgekommen. Von Sizilien über Italien, Frankreich, die Niederlande und England bis nach Bergen und Drontheim an der atlantischen Küste Skandinaviens war ihm nichts von Europas Landen unbekannt geblieben. Da ja auch Opitz sich in einem ähnlichen Falle befand, wenngleich Italiens klassische Stätten ihm versagt gewesen waren, so gab es nicht wenige Berührungspunkte zwischen den beiden weitgereisten Männern, zumal es sich herausstellte, daß beide ungefähr gleichzeitig in Lutetias Mauern geweilt und beide in der Schwärmerei für die unvergleichliche Stadt übereinstimmten. Auch Kerschenstein hatte, wie Opitz, mit des großen Hugo Grotius' Kreise Fühlung gehabt und teilte Opitzens Bewunderung für die staatsrechtlichen Lehren und die eindrucksvolle Persönlichkeit des großen Gelehrten und jetzigen Staatsmannes.

Madame Constanzia hatte mit schweigender Anteilnahme, wie es einer klugen Frau wohl ansteht, der gelehrten Unterhaltung der beiden Männer zugehört und nur durch ein paar einsichtsvolle Zwischenfragen ihr Interesse am Thema bekundet. Als Opitz jetzt auf des Grotius Doktrin über die Möglichkeit einer alle Völker gleicherweise bindenden rechtlichen Verpflichtung zum Frieden und zu gegenseitiger Achtung zu Sprecher kam und Kerschenstein mit einem bedenklichen Schweigen antwortete, unterbrach die anmutige Frau die etwas reinliche Pause mit der lächelnd gestellten Frage, wo man denn heutzutage ein solches Land Utopia entdecken wolle, dessen leitende Männer vorn ewigen Frieden zu träumen wagten? Seit siebzehn Jahren halle die Welt von Krieg und Kriegeslärm, vom Wehgeschrei der in den zahllosen Schlachten Verwundeten und dem Röcheln der Sterbenden, von den Hilferufen der entehrten Frauen und Mädchen wider, und niemand erhebe seine Stimme gegen alle diene den Herrgott im Himmel und das Menschengeschlecht schändenden Untaten. Also wozu diene das superkluge Gerede vom ewigen Frieden?

Von ewigem Frieden zu sprechen, sei eine Lästerung des Allmächtigen im Himmel, äußerte plötzlich Kerschenstein, und fügte hinzu, als Constanzia und Opitz verwundert fragten, wie er das meine, man könne doch nicht bestreiten, daß der Krieg ein vom Himmel über die sündige Menschheit verhängtes Strafgericht sei, womit sich die von ihm ausgesprochene Folgerung von selbst ergebe. Denn wer vom ewigen Frieden träume, wolle nichts anderes als unserm Herrgott die Zuchtrute aus der Hand nehmen, deren er sich von Zeit zu Zeit bediene, um Gericht über uns zu halten. Erst wenn man sich auf diesen Standpunkt stelle, gewinne man die richtige Perspektive, um auch die gegenwärtige Epoche als das ungeheure Strafgericht zu erkennen, das sie in Wirklichkeit sei, und dem man sich in Demut vor dem Ratschluß des Herrn zu beugen habe.

Da Frau Constanzia auf diese Auslegung ihres streng calvinistischen Mannes hin nur zweifelnd den Kopf wiegte, so hielt es auch Opitz für das beste, keinen Widerspruch dagegen zu erheben und dem sehr selbstherrlichen Stadtkämmerer in dieser heiklen Frage das letzte Wort zu lassen.

Ob der Herzogl. Rat schon von dem großen Siege Kenntnis habe, den die in Kursachsen eingedrungenen Schweden unter Banér vor kurzem über die kurfürstlichen Truppen davongetragen hätten, fragte Kerschenstein. Die Nachricht hiervon sei erst jetzt nach Danzig gedrungen. Der englische Botschafter Gordon habe sie gestern dem Bürgermeister überbracht. Zwölftausend Sachsen seien auf dem Schlachtfelde geblieben. Damit sei ja nun auch den Kurzsichtigen der Wille des Allmächtigen zur Genüge dokumentiert und der endliche Sieg der gerechten Sache auf immerdar gewährleistet.

»Entschuldigt mich, wenn ich Euch jetzt verlasse,« schloß der Kämmerer. »Es gibt zum bevorstehenden Abschluß auf Neujahr noch mancherlei im Rathaus zu tun. Laß es unserem geschätzten Gaste an nichts fehlen,« fügte er zu Constanzia gewandt lächelnd hinzu, »damit er uns nicht in der Stadt herumbringt.«

Es sei sehr klug und überlegt von ihm gewesen, daß er ihrem Mann in der eben besprochenen kitzligen Frage vom ewigen Frieden und dem Strafgericht des Himmels nicht entgegen gewesen sei, meinte Constanzia zu Opitz mit einer beziehungsvollen Kopfwendung nach der Tür hin, die Kerschenstein soeben hinter, sich geschlossen hatte. In Dingen seines calvinistischen Bekenntnisses vertrage ihr Ehegemahl keinen Widerspruch und man tue gut, ihm hierin nicht in die Parade zu fahren, wiewohl er sonst mit sich reden lasse und für ein vernünftiges Wort immer zugänglich sei.

»Ist Euch noch ein Gläschen Aquavit gefällig, Herr von Boberfeld?« setzte sie hinzu. »Ich habe Euch nicht mehr nötigen wollen. Mein Mann hätte sonst die Gelegenheit benutzt, auch noch eines zu nehmen. Und er darf doch nicht wegen seiner Gicht. Unsere Danziger Männer ... Man muß sehr auf sie aufpassen.«

Opitz lachte.

»Welch ein beneidenswertes Schicksal!«

»Für wen?« rief Constanzia ebenfalls lachend. »Etwa, für uns Danziger Frauen?«

Opitz wehrte mit einer komisch übertriebenen Geste ab.

»Wo denkt Ihr hin, edle Frau! Es können doch natürlich nur die Danziger Männer gemeint sein, die so glücklich sind, derart gütige Frauen an ihrer Seite zu haben. Glaubt mir, wem es in den Sternen beschieden zu sein scheint, ledig durch die Welt zu irren, weiß eine solche weibliche Fürsorge erst richtig zu schätzen.«

»Vielleicht richtiger,« nickte Constanzia, »als diejenigen, welchen sie zufolge ihres Trauscheins zugutekommt. Aber jetzt wollen wir mit dem leidigen Aquavit aufhören, der den ganzen Tag nicht vom Tisch käme, wenn es nach unseren Männern ginge.«

Sie schellte und trug dem binnen kurzem erscheinenden Kammermädchen Franziska auf, die bereitgestellte Kanne mit dem spanischen Wein, dem Madeira, hereinzubringen.

Als dann der bernsteingelbe Tropfen in den Kristallgläsern funkelte, erhob Constanzia ihr Glas gegen den sich verneigenden Dichter.

»Ich heiße Euch mit diesem Feuer des Südens willkommen in unserer nordischen Stadt und in diesem altväterlichen Hause, an dessen Wänden Ihr die Konterfeie vergangener Geschlechter erblickt. Lauter Kerschensteins und Zierenbergs! Von meinem Mann und mir die Ahnen.«

»Erlaubt, daß ich sie etwas in Augenschein nehme,« bat Opitz und erhob sich von seinem Eichenstuhl.

»Gern, wenn Euch die Gesichter etwas sagen. Die Kerschensteins sind echter Danziger Schlag und wir Zierenbergs, Ihr wißt es wohl, wir sind vor einem Jahrhundert von Bremen gekommen.«

»Viel Tatkraft, viel Entschlossenheit spricht aus den Gesichtern der Männer, wie es ja begreiflich ist,« bemerkte Opitz mit nachdenklichem Blick über die Reihen der Bildnisse hin.

»Und die Frauen?« fragte Constanzia. »Was haltet Ihr von den Frauen?«

»Ich erblicke kein Antlitz darunter, das Euch gleichkomme an Geist und Klugheit. Nun gar an Anmut und Schönheit.«

»Also ganz und gar aus der Art geschlagen?« rief Constanzia und lachte hellauf. »Seid Ihr nicht allzu galant, mein Herr Dichter, und überhäuft mich mit Komplimenten, über die ich erröten müßte? Es sind doch am Ende meine Tanten und Großmütter und auch,« setzte sie leise hinzu, »meine selige Mutter.«

»Gewiß, gewiß,« erwiderte Opitz. »Und doch läßt sich kein Antlitz mit dem Euren vergleichen. Ist es denn nicht auch in der Natur so, etwa in einem Blumengarten, daß in einem Rosen- oder Lilienbeet zuweilen eine Blüte sich durch ihren zierlichen Wuchs oder durch den Glanz ihrer Farbe weit über ihre Mitschwestern erhebt, die doch aus derselben Wurzel und dem gleichen Erdboden genährt sind, es aber dennoch nicht mit jenem Unikum der Natur, jenem Prachtexemplar aus den Händen des Schöpfers aufnehmen können.«

»Oh! Oh! Oh!« rief Constanzia und hielt sich scheinbar die Ohren zu. »In welche Climax versteigt Ihr Euch?«

»Nicht im geringsten, edle Frau,« versetzte Opitz. »Verzeichnet denn die Chronika aller Zeiten nicht Paradigmata, nicht Exempla, nicht Beispiele genug, wo kein Pinsel eines Raffael oder Apelles, kein Dichterwort eines Ovid oder Vergil noch der Meißel eines Praxiteles den unvergleichlichen Reiz der Wirklichkeit wiederzugeben oder ihm gleichzukommen vermochten? Und könnte es solche mirabilia mundi, solche Wunder der Welt nicht noch in der Jetztzeit geben? Ja, könnten sie nicht leibhaftig sichtbarlich vor uns sitzen, und man müßte nur die Augen haben, das Gegenwärtige auch wirklich als gegenwärtig zu sehen und wahrzunehmen, und müßte den Mut besitzen, vor dem Inbegriff von Geist und Schönheit und Anmut, deren Zeitgenosse man ist, in Verehrung niederzuknien?«

Der Dichter war wie von seinen eigenen Worten berauscht aufgestanden und hatte mit erhobenem Kopf, die Augen in weite Fernen verloren, gesprochen. Es war wie ein Nebel um ihn her. Er fühlte sich schwanken und faßte nach dem Tisch, um sich Halt zu geben.

»Verzeiht meine Kühnheit, edle Frau!« fuhr er fort. »Und laßt mich wieder zu mir selbst zurückfinden. Ich sah den Himmel offen, wie es mir noch kaum je zuteil geworden ist, und Ihr wart es, Eure Huld, Euer Zauber, die mir die Zunge lösten. Also verurteilt mich nicht für eine Schuld, die Ihr, wenn auch ungewollt, mit mir teilt.«

Constanzia hatte sich während dieser wie im Rausch vollführten Rede des Dichters abseits am Kredenztisch zu schaffen gemacht und ihm dabei den Rücken gekehrt. Jetzt wandte sie sich wieder zu ihm und deutete mit einer einladenden Gebärde auf den leeren Stuhl, neben dem der Poet noch immer halb entrückt stand.

»So es Euch gefällig ist, Herr Herzogl. Rat, nehmt wieder Platz. Ihr seid ein unverbesserlicher Schwärmer. Ich will Eure Worte nicht gehört haben und kann Euch daher mit um so besserem Gewissen Absolution erteilen.«

Sie reichte ihm ein paar schmale Finger ihrer Hand hinüber, die er, nun wieder völlig bei Sinnen, respektvoll und gemessen an seine Lippen führte.

»Erzählt mir doch, Herr Herzogl. Rat, von den gelehrten Studien, denen Ihr Euch zur Zeit hingebt!« sagte Constanzia nach einer längeren Pause des Schweigens.

Es sei leider im Augenblick nicht viel Rühmens davon zu machen, gab Opitz zur Antwort. Ja, in finstern Stunden wolle es ihn manchmal bedünken, als habe die Muse ihm für immer ihre Gunst entzogen.

»Haltet es mir darum zugute, edle Frau, wenn es mir eben zuvor fast als ein Gleichnis hiervon erschien, daß Ihr mir den Rücken zuwandtet.«

Constanzia lachte hellauf.

»Mit einem Wort also und ohne alle poetische Verbrämung: Ihr habt mich, bester Herr Herzogl. Rat, in aller Form zu Eurer dichterischen Muse erkoren?«

»Wäre das so sehr zu verwundern, edle Frau? Kann es für den Poeten, der in Euren Zauberkreis gerät, eine andere Wahl geben, als all sein Wirken und Dichten nur Eurem Dienst zu weihen? Und gibt es in der Geschichte der Dichtkunst aller Zeiten und Völker nicht Beispiele genug, die zu edler Nacheiferung anfeuern? Gedenkt des unvergleichlichen Petrarca! Gedenkt des erhabenen Dichters der Göttlichen Komödie! Sie haben die Namen Laura und Beatrice an den Sternenhimmel geschrieben.«

»Und mit dem Namen Constanzia habt Ihr etwas Ähnliches vor?« fiel diese noch immer lächelnd mit leichtem Erröten ein.

»Wenn Ihr mir die Erlaubnis dazu erteilt und des Himmels Gnade es an ihrem Segen nicht fehlen läßt, so soll es mein unablässiges Bestreben sein, Eurem Dienst gleich als dem einer Göttin oder himmlischen Muse hinfüro meine schwachen Kräfte zu weihen.«

Constanzia hatte den geschwellten Worten des Dichters mit tief auf die Brust gesenktem Kopf zugehört und schwieg, sie gleichsam nachkostend, eine Weile, so daß Opitz, unruhig geworden, die Frage herausstammelte:

»Habe ich Euch erzürnt, edle Frau?«

»Man tut Euch doch gewiß nicht unrecht, Herr Herzogl. Rat,« erwiderte sie, wieder mit diesem geheimen, schwer zu enträtselnden Lächeln um die Mundwinkel, »wenn man Euch für einen großen und vielerfahrenen Frauenkenner erklärt?«

Opitz verneigte sich schweigend, mit einer bescheidenen Geste der Abwehr.

»Wie kann es also ein solcher gewiegter Kenner unseres Geschlechts,« fuhr sie unbeirrt fort, »auch nur einen Augenblick sich beikommen lassen, eine Frau von Fleisch und Blut und mit irdischen Sinnen, wie wir alle es sind ... auch ich, mein bester Herr Herzogl. Rat ... wir Frauen also könnten es übelnehmen, wenn einen berühmten Dichter, einen poeta laureatus der schöne Wahn befällt, uns auf das Piedestal einer leibhaftigen Göttin zu erheben und uns zu seiner himmlischen Muse zu machen?«

»Ihr zürnt mir also nicht?« forschte der Dichter.

»Gewiß nicht!« erwiderte Constanzia. Vorausgesetzt, daß Ihr nichts anderes im Sinne habt und nichts anderes von mir begehrt, als was Ihr mir soeben mit so feurigen Worten gestanden habt. Ihr werdet nicht wollen, daß Constanzia Zierenberg einmal vor ihren Kindern erröten müßte. Bleiben wir also beide unserm Pakt treu und besiegeln wir unsere neue Freundschaft mit einem Händedruck.«

Sie reichte ihm ihre Hand, in die er beglückten Herzens einschlug.

»Und wenn Ihr mich das nächstemal besucht ... Ihr könnt ungerufen kommen, nur nicht zu oft (die lieben Nachbarn hinter den Fensterscheiben! ...) so bringt Ihr mir Euer neuestes Elaborat mit und tragt es mir vor. Was behandelt es denn? Etwa Oden? Oder Sinngedichte? Oder gar eine Tragödie antiken Stils?«

»Ins Schwarze getroffen!« rief Opitz. »Es ist die Antigone des Sophokles, die ich ins Deutsche übertragen habe. Ihr sollt sie bald in Händen halten. Es fehlt nur noch der Schlußchor.«

»Ich bin Euer und Eurer Arbeit gewärtig.«


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