Rider Haggard
Das unerforschte Land
Rider Haggard

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20. Kapitel

Zurück! Zurück!

Auf der Spitze des Hügels hielten wir einen Augenblick an, um unsere Pferde sich verschnaufen zu lassen, und blickten noch einmal auf die Schlacht unter uns herab, die, von den feurigen Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet, von unserm Standpunkt aus mehr wie ein wildes gigantisches Gemälde, denn wie ein wirkliches Handgemenge aussah. Prächtig blitzten die zahllosen Lichtstrahlen, die von den Schwertern und Speeren widergespiegelt wurden. Die große grüne Rasenhülle, auf der der Kampf ausgefochten wurde, die kühnen Umrisse der dahinterliegenden Hügel und die weite Ebene bildeten die wirksamen Dekorationen des Schauspiels.

»Wir gewinnen den Tag, Macumazahn,« sagte der alte Umslopogaas, der die ganze Lage mit einem Blick seines erfahrenen Auges überflog. »Siehe, die Truppen der Königin der Nacht weichen auf allen Seiten. Doch ach, wie schade! Die Nacht bricht herein und die Regimenter werden ihnen nicht folgen und sie vernichten können!« – und traurig schüttelte er das Haupt. »Aber,« fügte er hinzu, »ich glaube nicht, daß sie es auf einen neuen Kampf ankommen lassen werden, wir haben ihnen ein gar zu 333 kräftiges Mahl bereitet. Ach, ich habe nicht vergebens gelebt! Endlich habe ich einen Kampf gesehen, den es sich lohnte, zu sehen.«

Mittlerweile waren wir wieder aufgebrochen und als wir Seite an Seite dahinjagten, erzählte ich ihm, was unsere Sendung war, und fügte hinzu, daß, wenn sie uns nicht gelänge, alle Menschenverluste dieses Tages umsonst gewesen seien.«

»Ah!« sagte er, »nahezu hundert Meilen, keine andern Pferde als diese, und vor der Dämmerung dort sein! Gut – vorwärts! vorwärts! Der Mensch kann nur sein Bestes tun, Macumazahn. Vielleicht, daß wir rechtzeitig dort eintreffen werden, um jenem alten ›Hexenfinder‹ (Agon) den Schädel einzuschlagen. Wollte er uns nicht auch einmal verbrennen, der alte ›Regenmacher‹? Und jetzt will er meiner Mutter (Nyleptha) eine Falle stellen? Gut! So sicher wie mein Name Holzwürger ist, so sicher werde ich ihm, ob meine Mutter umkommt oder am Leben bleibt, den Kopf bis an den Bart spalten. Ja, bei T'Chakas Haupt schwöre ich es!« und drohend schüttelte er Inkosi-Kaas, während er weiter galoppierte. Jetzt wurde es schon finster, zum Glück mußte später aber der Mond aufgehen, und die Straße war gut.

Dahin sausten wir durch das Zwielicht. Die beiden prächtigen Pferde, die wir ritten, schienen fast zu erraten, worum es sich handelte, und jagten Meile für Meile in weitem gleichmäßigem Lauf dahin, der nie erlahmte und immer gleich blieb. Wir galoppierten über Berge und durch breite Täler, die sich bis zu dem Fuße ferner Hügel hinzogen. Näher und näher kamen die blauen 334 Hügel, jetzt ritten wir sie hinauf, jetzt waren wir hinüber und eilten andern zu, die sich wie Gespenster in der weiten blassen Ferne abhoben. Vorwärts ging es ohne anzuhalten oder die Zügel anzuziehen, durch die tiefe Ruhe der Nacht, die mir wie ein Gedicht auf die klappernde Musik unserer Pferdehufe erschien. Vorwärts an verlassenen Dörfern vorüber, wo uns nur ein vergessener halbverhungerter Hund ein melancholisches Willkommen entgegenheulte, vorwärts, vorüber an einsamen, von Gräben umfaßten Häusern; von dem weißen Mondlicht begleitet, das kalt auf dem Busen der Erde ruhte, wie wenn ihm gar keine Wärme innewohnte, ging es immer vorwärts.

Wir sprachen nicht, sondern beugten uns vornüber auf die Nacken unserer beiden prachtvollen Pferde, und lauschten ihren tiefen langen Atemzügen, sowie dem gleichmäßigen festen Klang ihrer runden Hufe. Grimmig und düster sah der alte Umslopogaas neben mir aus, der, wie der Tod in der Offenbarung St. Johannis, auf dem großen weißen Rosse saß, und gelegentlich seine Axt erhob, um auf ein Haus oder einen Hügel in der Ferne zu deuten.

Und so ging es vorwärts, immer vorwärts, ohne Unterbrechung oder Pause, Stunde für Stunde.

Zuletzt fühlte ich, daß selbst das prächtige Tier, das ich ritt, nachzulassen begann. Ich blickte auf meine Uhr, es war nahezu Mitternacht, und wir hatten schon mehr als den halben Weg zurückgelegt. Auf dem Gipfel einer Anhöhe befand sich eine kleine Quelle, deren ich mich erinnerte, da ich einige Nächte zuvor 335 neben ihr geschlafen hatte, und hier bedeutete ich Umslopogaas, Halt zu machen, um den Pferden und uns ein wenig Zeit zum Verschnaufen zu gönnen. Er befolgte mein Geheiß und wir stiegen ab – d. h. Umslopogaas sprang von seinem Hengst und half mir herunter, da ich mich infolge meiner Müdigkeit, Steifheit und der Schmerzen meiner Wunde nicht zu rühren vermochte. Schnaubend standen die edlen Rosse dort, während der Schweiß von ihren Leibern herunterströmte und der Dampf in blassen Wolken von ihnen aufstieg.

Umslopogaas bei den Pferden lassend, humpelte ich nach der Quelle und trank in tiefen Zügen von ihrem süßen Wasser. Seit Mittag hatte ich nichts als einen Tropfen Wein zu mir genommen und war fast verschmachtet, wenn ich auch vor Müdigkeit keinen Hunger empfand. Nachdem ich dann noch meinen heißen Kopf und meine Hände gebadet hatte, ging ich wieder zurück, und an meine Stelle trat der Sulu und trank. Dann ließen wir jedes Pferd ein Paar Züge tun – nicht mehr – und ach, wie schwer wurde es uns, die armen Tiere wieder von dem Wasser fortzubringen! Noch blieben uns zwei Minuten, die ich benutzte, um ein wenig auf und nieder zu humpeln und mich von dem Befinden unserer Pferde zu überführen. Das meine, ein so tapferes Tier es war, schien stark mitgenommen zu sein, es ließ den Kopf hängen und die Augen blickten trübe und krank. »Taglicht« aber, Nylepthas prachtvolles Pferd, das, wenn ihm nach seinem Verdienst geschähe, wie die Rosse, die dem großen Ramses in seiner Not beistanden, den Rest seines Lebens sein Futter aus einer 336 goldenen Krippe empfangen sollte, war noch immer verhältnismäßig frisch, obwohl es das schwerere Gewicht zu tragen gehabt hatte. Der Hengst war allerdings angegriffen und seine Beine waren müde, sein Auge aber blickte hell und klar, und die stolze Haltung seines stattlichen Hauptes schien zu sagen, daß, mochten auch die übrigen zusammenbrechen, er doch in jedem Fall für die fünfundvierzig Meilen, die noch zwischen uns und Milosis lagen, gut sei. Dann half Umslopogaas mir empor und sprang – der kräftige alte Wilde! – ohne den Steigbügel zu berühren, in den Sattel, und wieder jagten wir dahin, anfänglich noch etwas langsam, dann aber, als die Pferde wieder in ihren alten Schritt fielen, schneller. So legten wir weitere zehn Meilen zurück, dann kam eine lange beschwerliche Anhöhe von sechs oder sieben Meilen, und dreimal stürzte meine arme schwarze Stute mit mir zu Boden. Auf dem Gipfel schien sie sich jedoch noch einmal zusammenzunehmen und sauste den Abhang in langen krampfhaften Sätzen, schwer keuchend, hinab. Wir legten jene drei oder vier Meilen schneller als irgendeine Strecke auf unserm wilden Ritt zurück, ich merkte aber, daß es eine letzte Anstrengung war, und hatte mich nicht getäuscht. Plötzlich nahm mein armes Pferd die Trense zwischen die Zähne und stürmte wütend eine Strecke von etwa drei- bis vierhundert Fuß dahin, taumelte dann und stürzte krachend zur Erde nieder, wobei ich mich durch einen Seitensprung glücklich rettete. Als ich mich mühsam auf meine Füße erhob, richtete das arme Tier seinen Kopf noch einmal in die Höhe, und blickte mich aus seinen blutunterlaufenen Augen 337 kläglich an. Dann senkte sich das Haupt, und meine Stute war tot. Ein Herzschlag hatte sie getötet.

Umslopogaas hielt neben dem Leichnam und ich schaute ihn verzagt an. Es waren bis zur Dämmerung immer noch mehr als zwanzig Meilen zurückzulegen – wie konnten wir aber diese Aufgabe mit nur einem Pferd ausführen? Sie schien hoffnungslos, doch hatte ich die außerordentliche Fertigkeit des alten Sulu im Laufen vergessen.

Ohne ein einziges Wort zu sagen, sprang er aus dem Sattel herab und hob mich hinein.

»Was willst du tun?« fragte ich.

»Laufen,« erwiderte er und ergriff meinen Steigbügel.

Dann ging es wieder los, und fast ebenso schnell wie zuvor. Oh, welche Erleichterung mir jener Wechsel der Pferde bereitete! Jeder, der einen solchen Distanzritt ausgeführt hat, wird wissen, was der Wechsel für mich bedeutete.

»Taglicht« griff in einem langen Handgalopp aus, den Sulu bei jedem Satz ein Stück mit sich ziehend. Es war wunderbar, wie der alte Umslopogaas, die Lippen ein wenig auseinander und die Nüstern geöffnet, wie die des Pferdes, Meile für Meile dahinlief. Alle fünf Meilen etwa hielten wir auf einige Minuten an, um ihn Atem holen zu lassen, worauf wir unsern Weg wieder fortsetzten.

»Kannst du noch weiter laufen,« fragte ich bei der dritten dieser Haltestellen, »oder soll ich voranreiten und dich nachkommen lassen?« 338

Er wies mit der Axt auf eine dunkle Masse vor uns. Es war der jetzt nicht mehr als fünf Meilen entfernte Sonnentempel.

»Ich komme bis ans Ziel, oder ich sterbe,« keuchte er.

Oh, diese letzten fünf Meilen! Die Haut war mir an den Knien durchgerieben und jede Bewegung des Pferdes bereitete mir Schmerz. Das war aber noch nicht alles. Anstrengung, Mangel an Nahrung und Schlaf hatten mich erschöpft und ferner litt ich sehr von dem Schlag, den ich an meiner linken Seite empfangen. Es war, als ob ein Stück von einem Knochen langsam meine Lunge durchbohrte. Auch mit dem armen »Taglicht« ging es zu Ende, und kein Wunder. Die Morgendämmerung lag aber in der Luft und wir durften uns nicht aufhalten. Besser, daß wir alle drei auf der Landstraße liegen blieben und dort starben, als daß wir auch nur einen Augenblick verzogen, so lange noch Leben in uns steckte. Die Luft war, wie manchmal vor Beginn der Dämmerung, dick und schwer und – ein anderes unfehlbares Anzeichen von der Nähe des Sonnenaufgangs in Zu-Vendis – hunderte von kleinen Spinnen schwebten an ihren langen Geweben in ihr herum. Diese Frühaufsteher, oder richtiger gesagt, ihre Gewebe verfingen sich an unserm Pferd und unsern eigenen Gestalten, und da wir weder Zeit noch Kraft hatten, sie von uns abzubürsten, so stürmten wir dahin, bedeckt mit Hunderten von langen, grauen Fäden, die uns einen Fuß oder noch mehr nachflatterten.

Und nun liegen die großen Erzgitter der Außenmauer der 339 Felsenstadt vor uns, und ein neuer schrecklicher Zweifel ergreift mich: Was tun, wenn sie uns nicht Einlaß gewähren?

»Öffnet! Öffnet!« rufe ich gebieterisch und gebe gleichzeitig das königliche Paßwort. »Öffnet! Öffnet! Ein Bote mit Nachrichten vom Kriege!«

»Was für Nachrichten?« rief die Schildwache, »und wer bist du, der du so wild reitest, und wer ist es, dessen Zunge zum Halse heraushängt« – das war wirklich der Fall – »und der neben dir wie ein Hund neben dem Wagen herläuft?«

»Ich bin der Häuptling Macumazahn, und bei mir ist mein Hund, mein schwarzer Hund. Öffnet! Öffnet! Ich bringe Nachrichten!«

Die großen Tore sprangen zurück, die Zugbrücke fiel krachend nieder, und wir sausten über sie hinweg.

»Was für Nachrichten, mein Häuptling, was für Nachrichten?« rief die Schildwache.

»Incubu treibt Sorais, wie der Wind die Wolke, vor sich her,« antwortete ich und war an ihm vorüber.

Nur eine Anstrengung noch, o tapferes Pferd und noch tapfererer Mann!

Jetzt nicht fallen, »Taglicht«, und nur noch fünfzehn Minuten am Leben geblieben, du alter Sulu-Kriegshund, und ihr sollt beide auf immer in den Annalen dieses Landes fortleben.

Vorwärts sausen wir durch die schlummernden Straßen. Jetzt passieren wir den Blumentempel – eine Meile noch, nur eine kleine Meile noch haltet aus, bleibt am Leben, seht die 340 Häuser an euch vorüberlaufen. Auf, gutes Pferd, auf – nur fünfzig Schritte noch! Ah, du siehst deinen Stall und taumelst tapfer vorwärts.

»Gott sei Dank! Endlich der Palast!« Und siehe, die ersten Pfeile der Dämmerung fallen auf den goldenen Dom des Tempels. Aber werde ich jetzt Einlaß erhalten, oder ist die Tat geschehen und der Weg versperrt?

Noch einmal gebe ich das Paßwort und rufe: »Öffnet! Öffnet!«

Keine Antwort, und mein Herz krampft sich vor Angst zusammen.

Ich rufe wiederum, und höre diesmal Antwort von einer einzigen Stimme. Zu meiner Freude erkenne ich sie als die Karas, eines befreundeten Offiziers aus Nylepthas Garde, eines Mannes, der ebenso ehrlich wie das Licht ist – desselben Mannes, den Nyleptha mit Sorais' Verhaftung betraut hatte, als sie nach dem Tempel geflohen war.

»Bist du es, Kara?« rufe ich. »Ich bin es, Macumazahn. Gebiete der Wache, die Brücke herabzulassen und das Tor zu öffnen. Schnell, schnell!«

Dann folgte eine Pause, die mir endlos vorkam; endlich aber fiel die Brücke nieder, eine Hälfte des Tores öffnete sich und wir traten in den Vorhof, wo das arme »Taglicht« unter mir zusammenbrach und, wie ich glaubte, tot niederstürzte. Ich machte mich von ihm frei und blickte, an einen Pfosten gelehnt, um mich herum. Kara ausgenommen, war niemand zu sehen; sein Blick 341 war wild und seine Kleidung ganz zerrissen. Er hatte das Tor allein geöffnet und die Brücke herabgelassen, und verschloß sie nun wieder – eine Arbeit, die ein Mann vermittelst einer sehr sinnreichen Vorrichtung bequem allein ausführen konnte.

»Wo ist die Wache?« entrang es sich meinem Munde, und ich sah seiner Antwort mit einer Angst entgegen, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete er, »ich wurde vor zwei Stunden während des Schlafes von der mir untergebenen Wache überfallen und gebunden, und ich habe mich erst diesen Augenblick mit meinen Zähnen befreit. Ich fürchte, ich fürchte sehr, daß wir verraten sind.«

Seine Worte riefen neue Energie in mir wach. Ihn am Arm packend, schwankte ich, von Umslopogaas gefolgt, der wie ein Trunkener hinter uns hertaumelte, durch die Vorhöfe und dann durch den großen Saal, der stumm wie das Grab war, dem Schlafgemach der Königin zu.

Wir erreichten das erste Vorzimmer – keine Wache; das zweite, immer noch keine Wache. Oh, sicher war die Tat schon geschehen! Wir waren also doch zu spät gekommen, zu spät! Das Schweigen und die Einsamkeit dieser großen Gemächer war fürchterlich und bedrückte mich wie ein böser Traum. Vorwärts eilten, taumelten wir schweren Herzens, nun das allerschlimmste befürchtend, gerade in Nylepthas Gemach hinein. Wir sahen Licht darin, ja, und eine Gestalt, die das Licht trug. Oh, Gott sei Dank, es ist die Weiße Königin selbst, und unverletzt! Dort 342 steht sie in ihrem Nachtgewand, durch den Lärm unseres Kommens aus ihrem Bett gescheucht, die Augen noch schlaftrunken und die Röte der Furcht und Scham auf ihrer lieblichen Brust und Wange.

»Wer ist es?« ruft sie. »Was bedeutet dies? Oh, Macumazahn, bist du es? Warum blickst du so wild? Du bringst mir böse Kunde – und mein Gebieter – oh, sage mir nicht, daß er tot ist – er ist nicht tot!« so wehklagte sie und rang ihre weißen Hände.

»Ich ließ Incubu verwundet, aber an der Spitze des Vormarsches gegen Sorais gestern abend bei Sonnenuntergang zurück, sei also seinetwegen nicht bekümmert. Sorais ist auf der ganzen Linie zurückgeschlagen und deine Waffen tragen den Sieg davon.«

»Ich wußte es,« rief sie triumphierend aus. »Ich wußte, daß er siegen würde, und dennoch nannten sie ihn Ausländer und schüttelten ihre weisen Köpfe, als ich ihm den Oberbefehl übergab. Gestern abend bei Sonnenuntergang, sagst du, und es ist noch nicht Tag? Sicherlich –«

»Wirf einen Mantel um dich, Nyleptha,« unterbrach ich sie, »und gib uns Wein zu trinken. Ja, und rufe schnell deine Jungfrauen herbei, wenn du dein Leben retten willst. Nein, halte dich nicht auf.«

So beschworen, eilte sie davon und rief durch die Vorhänge in ein anstoßendes Zimmer einen Befehl. Dann zog sie hastig ihre Sandalen und einen dicken Mantel an, während etwa ein Dutzend halbangezogener Weiber in das Zimmer strömte. 343

»Folgt uns und schweigt,« sagte ich zu ihnen, als sie mit verwunderten Augen, eine an die andere geschmiegt, um sich blickten. So gingen wir in das erste Vorzimmer.

»Nun,« sagte ich, »gebt uns Wein zu trinken und etwas zu essen, denn wir sind dem Tode nahe.«

Das Zimmer diente als Speisezimmer für die Offiziere der Wache, so daß Wein und kaltes Fleisch vorrätig waren. Umslopogaas und ich tranken und fühlten das Leben in unsere Adern zurückfließen, als der gute rote Wein unsere Kehlen hinunterrann.

»Höre mir zu, Nyleptha,« sagte ich, als ich den Becher leer hinstellte. »Hast du unter deinen Hofdamen zwei, auf die du dich verlassen kannst?«

»Ja,« sagte sie, »gewiß.«

»Dann laß sie durch den Seiteneingang den Palast verlassen und alle die ergebenen Bürger auffordern, sich zu bewaffnen und mit allen ehrlichen Leuten, die sie auftreiben können, hierher zu eilen, um dich vom Tode zu erretten. Nein, frage nicht. Tue, wie ich dir sage und zwar rasch. Kara hier wird die Mädchen herauslassen.«

Sie wandte sich um und wählte aus der Menge ihrer Hofdamen zwei aus, denen sie meine Worte wiederholte und außerdem ein Verzeichnis der Männer gab, die sie aufsuchen sollten.

»Seid schnell und vorsichtig, euer Leben hängt davon ab,« fügte ich hinzu.

Im nächsten Augenblick hatten sie sich mit Kara entfernt, den ich indes zuvor noch ersuchte, an der Tür, die von dem großen 344 Vorhof nach der Treppe führte, wieder zu uns zu stoßen, sobald er das Tor hinter den Mädchen fest verschlossen hätte. Dorthin auch begaben wir uns, Umslopogaas und ich, sowie die Königin und ihr Gefolge. Im Gehen nahmen wir hastig etwas Nahrung zu uns, und zwischen den einzelnen Bissen erzählte ich der Königin, was ich von der Gefahr wußte, in der wir schwebten, wie wir Kara angetroffen hätten, wie alle Wachen und Diener verschwunden wären und sie mit ihrem Hofstaat ganz allein in dem großen Palast sei. Ihrerseits erzählte sie mir, es sei ein Gerücht in der Stadt verbreitet, daß unsere Armee eine vernichtende Niederlage erlitten hätte, daß Sorais im Triumph gegen Milosis marschiere und daß infolgedessen die ganze Bevölkerung von ihr abgefallen sei.

Obwohl die Schilderung dieses Vorganges ziemlich geraume Zeit erfordert, befanden wir uns doch erst sechs oder sieben Minuten in dem Palast, und die Sonne war noch nicht aufgegangen, wenngleich sich ihre Strahlen schon in dem goldenen Dom des Tempels spiegelten – bis zum Sonnenaufgang blieben uns mithin noch weitere zehn Minuten. Wir hielten uns jetzt im Vorhof auf und hier schmerzte mich meine Wunde so, daß ich mich auf Nylepthas Arm stützen mußte, während Umslopogaas mit vollen Backen kauend hinter uns hertrollte.

Jetzt hatten wir den Vorhof überschritten und den engen Torweg erreicht, der durch die Palastmauer nach der mächtigen Treppe führte.

Ein einziger Blick, und entsetzt stand ich da, wozu ich alle 345 Ursache hatte. Die Tür war verschwunden, desgleichen auch die Außentore aus Bronze – gänzlich verschwunden. Sie waren aus ihren Angeln gehoben und, wie wir später entdeckten, von der Treppe zweihundert Fuß herab in die Tiefe geschleudert worden. Der halbkreisförmige Platz vor uns war höchstens doppelt so groß wie ein großer, ovaler Speisetisch. Zehn schwarze Marmorstufen führten von ihm zu der großen Haupttreppe – und das war alles. 346

 


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