Rider Haggard
Das unerforschte Land
Rider Haggard

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9. Kapitel

In das Unbekannte

Eine Woche war vergangen, und wir alle saßen eines Abends in sehr gedrückter Stimmung in dem Speisezimmer der Mission, da wir unseren freundlichen Wirten, der Familie Mackenzie, Lebewohl sagen und am nächsten Morgen bei Tagesanbruch unsere Reise fortsetzen wollten. Von den Massai hatten wir nichts mehr gesehen oder gehört, und außer einigen von uns übersehenen und jetzt im Grase rostenden Speeren, wie einigen Patronenhülsen, die auf unserem ersten Standplatz vor der Mauer lagen, verriet kein Zeichen, daß der alte Viehkraal am Fuße des Abhanges der Schauplatz eines so verzweifelten Kampfes gewesen war. Dank vornehmlich seinem einfachen mäßigen Lebenswandel hatte sich Herr Mackenzie sehr schnell von seiner Verwundung erholt und ging jetzt auf Krücken umher. Von den andern Verwundeten war einer am kalten Brand gestorben, während die Genesung bei den übrigen gute Fortschritte machte. Auch war Herrn Mackenzies Lastkarawane zurückgekehrt, so daß die Station jetzt über eine zahlreiche Besatzung verfügte.

Unter diesen Umständen beschlossen wir, so warm und dringend wir auch gebeten wurden, unsern Aufenthalt noch zu 138 verlängern, unsern Aufbruch nicht mehr hinauszuschieben. Unser Plan war, zuerst den Berg Kenia zu besuchen und uns dann in das Unbekannte zu wagen, um jenes geheimnisvolle weiße Volk zu suchen, auf dessen Entdeckung unser Sinn gerichtet war. Diesmal hatten wir uns den bescheidenen, aber nützlichen Esel, und zwar in zwölf rüstigen Exemplaren, ausgesucht, um unsere Kisten und Kasten, und wenn nötig auch uns selbst, zu tragen. Als Diener weilten nur noch die beiden Wakwafi bei uns, denn andere Eingeborene zu finden, die den Mut besaßen, uns in die vor uns liegenden unbekannten Gegenden zu folgen, war ganz unmöglich. Ich nahm ihnen das schließlich auch gar nicht weiter übel. Schien es doch, wie Herr Mackenzie sagte, wirklich sehr seltsam, daß drei Männer, von denen jeder alles sein eigen nannte, was nach menschlichen Begriffen zum Genusse dieses Lebens gehört, als Gesundheit, Reichtum und eine angesehene Stellung, aus eigenem freien Willen sich in ein aussichtsloses Unternehmen einließen, von dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie zurückkehren würden.

Als wir an jenem Abend spät auf der Veranda saßen und vor dem Zubettegehen noch eine Pfeife rauchten, kam – man denke sich – Alfons zu uns und kündigte uns mit einer prachtvollen Verbeugung seinen Wunsch nach einer Unterredung an. Aufgefordert »loszufeuern«, erklärte er uns in ziemlich langer Rede, daß er sich sehr gern unserer Gesellschaft anschließen möchte, eine Mitteilung, die mich nicht wenig in Erstaunen setzte, da ich wußte, was für ein Feigling der kleine Mann war. Der 139 Grund wurde uns indessen bald offenbar. Herr Mackenzie stand im Begriff, nach der Küste und von da nach England zurückzukehren. Nun war Alfons der festen Überzeugung, daß, wenn er sich dem Missionar anschloß, er ergriffen, ausgeliefert, nach Frankreich und ins Gefängnis gesandt werden würde. Dies war das Schreckgespenst, das ihn verfolgte, und über das er Tag und Nacht nachbrütete, bis seine Einbildung die Gefahr zehnmal übertrieb. Ein solcher Feigling der kleine Mann auch von Natur war, zog er es doch unbedenklich vor, lieber die unausbleiblichen Beschwerden, Entbehrungen und Gefahren einer Expedition wie der unsern zu teilen, als sich der Möglichkeit eines Verhörs durch einen Polizeirichter auszusetzen. Nachdem wir seiner Rede gelauscht hatten, hielten wir untereinander Rat, und beschlossen schließlich, mit Herrn Mackenzies Wissen und Zustimmung, sein Angebot anzunehmen. Er kam uns in der Tat gelegen, da es uns an Leuten fehlte und Alfons ein flinker, anstelliger Bursche war, der sich für alle Dienstleistungen verwenden ließ. Und kochen – ja er konnte kochen! Ich glaube, daß er aus den Gamaschen seines heldenmütigen Großvaters, von denen er so gern sprach, ein schmackhaftes Gericht hergestellt haben würde. Dazu war er auch ein gutmütiger kleiner Kerl und lustig wie ein Affe, während seine pomphafte großtuerische Redeweise uns allen eine Quelle unvergänglichen Vergnügens war. Und nie nahm er, was gleichfalls nicht gering anzuschlagen war, etwas übel. Natürlich bildete seine außerordentliche Feigheit eine große Schattenseite an ihm, doch konnten wir uns jetzt, wo wir seine Schwäche kannten, 140 mehr oder weniger dagegen schützen. Nachdem wir ihn deshalb auf die Gefahren aufmerksam gemacht hatten, die zweifellos seiner harrten, teilten wir ihm mit, daß wir sein Angebot unter der Bedingung annähmen, daß er unsern Befehlen unbedingten Gehorsam leiste. Wir verpflichteten uns dagegen zur Zahlung eines Monatsgehalts von zehn Pfund Sterling (= 200 Mark), sollte er je in ein zivilisiertes Land zurückkehren, um das Geld in Empfang nehmen zu können. Mit Freuden ging er auf diese Bedingungen ein und zog sich zurück, um einen Brief an seine Annette zu schreiben, den Herr Mackenzie ihm mit der Post an die Adresse seiner Geliebten zu befördern versprach. Er las ihn uns später vor, und es war in der Tat, wie wir aus Sir Henrys Übersetzung merkten, ein wunderbares Schriftstück. Die Tiefe seiner Liebe und die Erzählung seiner Leiden in einem barbarischen Lande, »fern, ach so fern von dir, angebetete Annette, für die ich all dies Mißgeschick erdulde,« hätten die Gefühle selbst des grausamsten Stubenmädchens rühren müssen.

Dann kam der Morgen. Um sieben Uhr waren die Esel sämtlich beladen und die Scheidestunde schlug. Das Lebewohlsagen war uns allen eine traurige Pflicht, besonders aber fiel mir der Abschied von der kleinen Flossie schwer. Sie und ich hatten enge Freundschaft geschlossen und uns oft miteinander unterhalten, doch vermochte sie noch immer nicht die Schrecken jener entsetzlichen Nacht zu vergessen, als sie als Gefangene unter den blutdürstigen Massai weilte. »Oh, Herr Quatermain,« rief sie unter Tränen aus, und schlang dabei ihre Arme um meinen Hals, 141 »ich kann es nicht fassen, daß ich Ihnen Lebewohl sagen soll. Werden wir uns je wiedersehen?«

»Ich weiß es nicht, mein liebes kleines Mädchen,« antwortete ich. »Ich stehe am Ausgang des Lebens, und du am Anfang. Im günstigsten Falle ist mir nur noch eine kurze Spanne Zeit gegönnt. Vor dir aber, hoffe ich, liegen noch viele lange glückliche Jahre, dir winkt noch eine rosige Zukunft. Nach und nach wirst du zu einer schönen Frau heranwachsen, Flossie, und all dies wilde Leben wird dir wie ein ferner Traum erscheinen. Selbst wenn wir aber nicht wieder zusammenkommen sollten, hoffe ich doch, daß du deines alten Freundes gedenken, und dich der Worte, die er dir jetzt sagt, erinnern wirst. Sei immer gut, mein liebes Kind, und handle immer recht, wenn es dir auch nicht stets angenehm sein mag; denn – was die Spötter auch sagen mögen – wer nach dieser Regel lebt, ist glücklich. Sei selbstlos und reiche, wenn immer du kannst, deinem Nächsten eine helfende Hand – denn es gibt nur allzuviel Not in der Welt, und sie zu lindern, ist das edelste Ziel, das wir uns setzen können. Und da ich dir so altmodische Ratschläge gegeben habe, will ich dir auch etwas schenken, was sie dir versüßen soll. Siehst du dieses kleine Stück Papier? Man heißt es einen Scheck. Gib es, wenn wir fort sind, deinem Vater mit diesem Brief – aber wohlgemerkt nicht früher. Du wirst eines Tages heiraten, meine liebe kleine Flossie, und mit dem Scheck sollst du dir ein Hochzeitsgeschenk kaufen, das du, und nach dir deine kleine Tochter, wenn du eine haben wirst, zur Erinnerung an Jäger Quatermain tragen sollst.« 142

Die kleine Flossie weinte bitterlich und schenkte mir ihrerseits eine Locke von ihrem blonden Haar, die ich heute noch besitze. Der Scheck, den ich ihr gab, lautete auf tausend Pfund, eine Summe, die ich mir wohl leisten konnte, da ich jetzt ja nicht mehr unvermögend bin und, von mildtätigen Anstalten abgesehen, für niemanden auf der Welt zu sorgen habe. In dem Briefe wies ich ihren Vater an, die Summe in Staatspapieren anzulegen und ihr bei ihrer Heirat oder Mündigkeit das beste Diamantenhalsband zu kaufen, das er für das Geld und die angesammelten Zinsen bekommen könnte.

Endlich setzten wir uns nach vielem Händedrücken und Schwenken mit den Hüten unter den Zurufen der Eingeborenen in Bewegung. Alfons hat ein warmes Herz und vergoß viele Tränen bei dem Abschied von seinem Herrn und seiner Herrin. Mir selbst ist alles Abschiednehmen verhaßt und es war mir daher ganz recht, daß wir aufbrachen. Am rührendsten äußerte sich vielleicht Umslopogaas' Kummer über das Scheiden von Flossie, zu welcher der grimmige alte Krieger eine außerordentliche Zuneigung gefaßt hatte. Er sagte häufig, sie sei so süß wie der einzige Stern in dunkler Nacht anzuschauen, und ermüdete nie, sich zu beglückwünschen, daß er den Lygonani, der sie ermorden wollte, mit eigener Hand getötet hatte. Und das war das letzte, was wir von dem freundlichen Missionshause – einer wahren Oase in der Wüste – und von europäischer Zivilisation sahen. Oft aber denke ich an die Familie Mackenzie und frage mich, ob sie alle wohlbehalten an die Küste und von da nach England gelangt sein 143 mögen und ob sie je diese Worte erblicken werden. Liebe kleine Flossie! Wie sonderbar es ihr jetzt vorkommen muß, wo sie keine Schwarzen mehr zur Hand hat, die ihre Befehle ausführen, und wo ihr kein himmelhoher schneebedeckter Kenia entgegenblickt, wenn sie am Morgen aufsteht. Und nun, kleine Flossie, lebe wohl!

Nachdem wir das Missionshaus verlassen hatten, gingen wir ohne besondere Abenteuer um den Fuß des Berges Kenia herum, den die Massai »Dongo Egere« oder den »gefleckten Berg« wegen der schwarzen Felsstellen nennen, die auf dem mächtigen Kegel hervortreten, wo die Seiten zu abschüssig sind, um den Schnee auf sich zu dulden. Dann passierten wir den einsamen Baringo-See, wo einer der beiden uns noch gebliebenen Askari unglücklicherweise auf eine Giftschlange trat und ungeachtet unserer Rettungsversuche an den Folgen ihres Bisses starb. Von dort legten wir eine Strecke von etwa hundertfünfzig englischen Meilen bis an einen zweiten prächtigen schneebedeckten Berg zurück, der Lekakisera heißt und meines Wissens zuvor noch nie von einem Europäer besucht worden ist. Dort rasteten wir vierzehn Tage und marschierten dann in einen ungeheuren, unbewohnten pfadlosen Wald hinein, der Elgumi heißt. In diesem Wald gibt es mehr Elefanten als ich je zuvor gesehen oder für möglich gehalten habe. Wir konnten uns diesen Tieren, die den Jäger und seine Absichten noch nicht kannten, ruhig bis auf zwanzig Schritte nähern, während sie, die großen Ohren zur Seite gerichtet, ganz verdutzt dastanden und das neue Wunder 144 anstarrten. Wenn die Besichtigung nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfiel, endete dieses Anstarren in einer Trompetenfanfare und einem Angriff. Das kam aber nicht oft vor. Trat der Fall ein, so mußten wir notgedrungen zu unsern Gewehren greifen. Elefanten waren überdies nicht die einzigen wilden Tiere in dem großen Elgumi-Wald. Es wimmelte dort von allen Wildarten, Löwen nicht ausgenommen – der Teufel hole sie! Ich hasse den Anblick der Löwen, seitdem mich einer ins Bein gebissen und auf Lebenszeit gelähmt hat. Natürlich fehlte es auch nicht an der schrecklichen Tsetsefliege, deren Biß Haustieren den Tod bringt. Glaubte man von Eseln bisher, daß sie wie die Menschen gegen den Biß der Tsetsefliege gefeit seien, so kann ich nur sagen, daß die unsern ihren Angriffen erlagen, wobei ich es dahinstellen will, ob ihr kümmerlicher Zustand daran schuld war oder ob die Tsetse in jenen Gegenden giftiger als gewöhnlich ist. Zum Glück für uns geschah dies aber erst zwei Monate, nachdem sie die Bisse empfangen hatten, als sie plötzlich nach einem zweitätigen kalten Regen alle verendeten.

Als wir aus dem großen Elgumi-Wald herauskamen, setzten wir, den Mitteilungen entsprechend, die Herr Mackenzie von dem bedauernswerten gleich nach seiner Ankunft bei ihm von einem Löwen verzehrten Neger erhalten hatte, unsern Weg noch immer weiter in nördlicher Richtung fort und erreichten schließlich den ausgedehnten, von den Eingeborenen Laga genannten See, der etwa fünfzig englische Meilen lang und zwanzig breit ist, und dessen, wie man sich vielleicht erinnert, der Neger in seiner 145 Erzählung gleichfalls gedacht hatte. Von dort führte uns unser Weg etwa eine Monatsreise weit über große gewellte Hochländer, nicht unähnlich denen im Transvaal, nur daß sie strichweise von Buschland unterbrochen sind.

Während dieser ganzen Zeit stiegen wir beständig aufwärts, und zwar in dem Verhältnis von etwa hundert Fuß auf jede zehn Meilen. Das Land lag tatsächlich auf einem Abhang, der in einer Masse schneebedeckter Berge, auf die wir zusteuerten, zu endigen schien. Dort befand sich auch, wie wir erfuhren, der zweite See, derselbe, von dem der Wanderer als »dem Wasser ohne Grund« gesprochen hatte. Da Dörfer an den Ufern dieses Sees lagen, stiegen wir mit außerordentlicher Mühe herab, und fanden bei den Dorfbewohnern, einem einfachen friedlichen Volk, das noch nie einen weißen Mann gesehen oder von ihm gehört hatte, die gastlichste Aufnahme.

Der Unfall mit den Eseln versetzte uns in eine unangenehme Lage, da er uns aller Transportmittel beraubte, wenngleich ich zugeben will, daß unsere tragbare Habe sehr zusammengeschmolzen war. An Munition hatten wir nur noch einen Vorrat für hundertfünfzig Kugel und fünfzig Schrotschüsse. Wie wir weiter sollten, wußten wir nicht, und es schien uns wirklich, als ob wir am Ende unseres Witzes angelangt seien. Selbst wenn wir Neigung verspürt hätten, das Ziel unserer Expedition aufzugeben, was keineswegs der Fall war, mochte es auch noch so ungewisser Art sein, wäre es doch lächerlich gewesen, wenn wir uns in unserer gegenwärtigen Notlage siebenhundert Meilen weit bis 146 an die Küste hätten durchschlagen wollen. Es blieb uns mithin nichts anderes übrig, als einstweilen dort zu bleiben, wo wir waren, besonders da wir an Nahrungsmitteln keinen Mangel litten und die Eingeborenen sich so liebenswürdig benahmen, und den Lauf der Ereignisse abzuwarten, während wir unsere Kenntnis über die jenseits des Sees liegenden Länder zu erweitern suchten. Wir kauften uns daher ein ausgezeichnetes Kanu, das groß genug war, um uns und unser ganzes Gepäck aufzunehmen, und gaben dem Häuptling des Dorfes, in dem wir weilten, drei leere Messingpatronen dafür, worüber er ganz entzückt war. Dann schickten wir uns zu einer Fahrt um den See an, um einen günstigen Lagerplatz für uns auszusuchen. Da wir nicht wußten, ob wir nach dem Dorfe zurückkehren würden, brachten wir unsere ganze Habe in das Kanu, dazu ein Viertel von einem gebratenen Wasserbock, der, wenn jung, ganz delikat schmeckt, und stießen schließlich vom Lande ab. Es waren uns schon Eingeborene in ihren leichten Kanus vorausgeeilt, um die Bewohner der andern Dörfer von unserm Kommen zu verständigen.

Als wir gemächlich am Ufer entlang ruderten, machte Good uns auf die außergewöhnlich tiefblaue Farbe des Wassers aufmerksam und sagte, er hätte von den Eingeborenen, die vorzügliche Fischer waren, vernommen, daß der See unermeßlich tief sei und eine Öffnung im Boden habe, durch die das Wasser abflösse und ein noch weiter unten wütendes Feuer auslösche.

Ich bemerkte ihm, daß die Erzählung der Fischer wahrscheinlich eine Legende sei, und ihr Ursprung sich auf 147 Überlieferungen aus jener Zeit zurückverfolgen lasse, wo noch der eine oder andere der erloschenen Nebenkrater dieses Sees, dessen Grund selbst ein Vulkan gewesen sein müsse, in Tätigkeit gewesen wäre. Wir sahen deren an den Ufern des Sees verschiedene, die zweifellos noch lange nach dem Erlöschen des Hauptkraters, eben des Bettes des Sees, tätig gewesen waren. Als auch der letzte der kleinen Krater erlosch, dachte das Volk wahrscheinlich, daß das Wasser aus dem See sich einen Abfluß nach unten gesucht und das große Feuer dortselbst ausgelöscht hätte. Man konnte dem einfachen Volk diesen Glauben um so weniger verargen, als der See keinen sichtbaren Abfluß besaß, obwohl er beständig durch Zuflüsse von den schneebedeckten Bergen neues Wasser empfing.

Als wir eine ziemliche Strecke gerudert waren, näherten wir uns wiederum dem Ufer, das aus einer ungeheuren senkrechten Felswand bestand, zu der es keinen Aufstieg gab. Wir ruderten deshalb in einer Entfernung von hundert Fuß in paralleler Richtung mit dem Felsen und steuerten auf das Ende des Sees zu, wo, wie man uns mitgeteilt hatte, ein großes Dorf lag.

Auf unserer Fahrt dorthin kamen wir an einer beträchtlichen Ansammlung von Binsen, Weiden, Baumzweigen und anderm Abfall vorüber, der, wie Good vermutete, durch eine Strömung hierher getrieben wurde. Während wir uns noch über den Ursprung der Strömung unterhielten, deutete Sir Henry auf einen Flug großer weißer Schwäne, die auf der Seefläche ein wenig vor uns nach Fischen tauchten. Nun hatte ich bereits einige 148 Schwäne über den See fliegen sehen, und da ich sie nie zuvor in Afrika angetroffen, den lebhaften Wunsch empfunden, einen von ihnen zu erlegen. Die Eingeborenen sagten mir, daß sie von jenseits des Gebirges immer zu bestimmten Jahreszeiten am frühen Morgen in sehr erschöpftem Zustande einträfen und dann leicht zu fangen seien. Auf meine Frage, ob sie wüßten, aus welchem Lande die Schwäne kämen, hatten die Eingeborenen aber nur die Achseln gezuckt und mir zur Antwort gegeben, daß der Gipfel des großen schwarzen Abhanges ein steiniges unfruchtbares Land wäre, und jenseits desselben Gebirge mit Schnee und vielen wilden Tieren und wieder jenseits des Gebirges auf hunderte von Meilen Dornenfelder lägen, die so dicht seien, daß nicht einmal Elefanten sie durchdringen könnten, viel weniger denn Menschen. Weiter fragte ich sie, ob sie je etwas davon gehört hätten, daß ein weißes Volk, wie wir, jenseits des Gebirges und des Dornenwaldes lebe, sie lachten aber nur über meine Frage. Schließlich kam jedoch ein ganz altes Weib zu uns und erzählte mir, daß ihr Großvater ihr, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen sei, erzählt habe, daß in seiner Jugend sein Großvater durch die Wüste und über die Gebirge gewandert sei, den Dornenwald durchquert und ein weißes Volk gesehen hätte, das in Steinkraalen lebte. Natürlich war diese Auskunft, die nach der Erzählung der alten Frau auf ein Alter von ungefähr zweihundertfünfzig Jahren zurückblickte, höchst unzuverlässig; immerhin aber mußte ihr ein Körnlein Wahrheit innewohnen, und je mehr ich über all diese Gerüchte nachdachte, desto fester wurde bei 149 mir die Überzeugung, daß sie auf Tatsachen beruhten, und um so fester auch der Entschluß, das Geheimnis zu lösen. Ich ließ mir wenig träumen, in welch nahezu wunderbarer Weise mein Verlangen in Erfüllung gehen sollte.

Nun, wir machten uns daran, die Schwäne zu beschleichen, die sich der Felsmauer mehr und mehr näherten, bis wir endlich unter dem Schutze einer Ansammlung von Treibholz nicht weiter als vierzig Schritte von ihnen entfernt waren. Sir Henry hatte die mit Nr. 1 geladene Vogelbüchse im Arm, gab, sobald er zwei in einer Reihe sah, auf ihren Hals zielend, Feuer und tötete beide. Sofort flogen die übrigen, wohl dreißig oder mehr an der Zahl, wild mit den Flügeln um sich schlagend, in die Höhe, und in demselben Augenblick gab er den zweiten Schuß auf sie ab. Herunter sauste ein Vogel mit gebrochenem Flügel, und von einem andern, der aber seinen Flug anscheinend ungeschwächt fortsetzte, sah ich ein Bein und einige Federn ins Wasser fallen. Immer höher flogen die Schwäne, bis sie schließlich in der Höhe des finstern Berggipfels nur noch wie Punkte aussahen. Dort bildeten sie ein Dreieck und schlugen die Richtung nach dem unbekannten Nordosten ein. Inzwischen hatten wir die beiden toten Vögel aufgenommen – es waren schöne Vögel, von denen jeder wohl mehr als dreißig Pfund wog – und fuhren dem verwundeten Schwan nach, der über eine Masse von Treibholz hinweg eine Stelle klaren Wassers erreicht hatte. Wir wollten unser Kanu aber nicht durch dieses Dickicht durchzwängen und ich wies darum den uns noch gebliebenen Wakwafi-Diener, 150 einen ausgezeichneten Schwimmer, an, in das Wasser zu springen und den Vogel zu greifen, wobei meines Erachtens keine Gefahr für ihn vorhanden war, da es in dem See keine Krokodile gab. Mein Befehl bereitete dem Mann offenbar Spaß, er gehorchte gern und verfolgte bald den verwundeten Schwan, der der vom Wasser umspülten Felswand immer näher trieb.

Da plötzlich hörte unser Diener auf, dem Schwan zu folgen, und begann uns zuzurufen, daß er von der Strömung fortgerissen würde. Und wirklich, wir sahen deutlich, daß er sich ungeachtet seiner verzweifelten Anstrengungen langsam dem Felsen näherte. Mit einigen kräftigen Ruderschlägen lenkten wir unser Kanu durch die Treibholzmasse und ruderten, unsere Muskeln auf das äußerste anspannend, auf den Mann zu. So schnell wir auch vorwärts kamen, so näherte er sich dem Felsen doch noch schneller. Auf einmal sah ich, daß sich grade vor uns, etwa achtzehn Zoll über der Oberfläche des Sees, ein Bogen wölbte, der offenbar in eine von Wasser erfüllte Höhle führte. Nach den einige Fuß höher am Felsen befindlichen Wasserspuren zu schließen, stand auch der Bogen sonst unter Wasser; da wir aber eine trockene Jahreszeit gehabt hatten und die Schneemassen infolge der großen Kälte nicht so reichlich wie sonst schmolzen, war der Wasserstand des Sees gefallen und der Bogen sichtbar geworden. Auf diesen Bogen trieb nun unser armer Diener mit rasender Geschwindigkeit zu. Er war nicht mehr als zehn Faden, und wir etwa zwanzig davon entfernt, als ich den Bogen zuerst bemerkte. Ohne Anstrengung von uns flog unser Kanu hinter dem 151 Wakwafi her. Er kämpfte tapfer, und ich dachte schon, daß wir ihn retten würden, als plötzlich ein Ausdruck der Verzweiflung auf seinem Gesichte erschien und er vor unsern Augen in die wirbelnde Tiefe gezogen wurde. In demselben Augenblick auch fühlte ich unser Kanu wie von einer mächtigen Hand ergriffen und mit unwiderstehlicher Gewalt dem Felsen zugestoßen.

Wir erkannten jetzt die Gefahr und ruderten mit aller Macht, um dem Wirbel zu entrinnen. Vergeblich! In der nächsten Sekunde flogen wir grade wie ein Pfeil auf den Bogen zu, und ich hielt uns schon für verloren. Zum Glück behielt ich noch soviel Geistesgegenwart, um den Ruf auszustoßen: »Werft euch platt zu Boden! Schnell!« – den ich selbst zuerst befolgte und den auch die andern beherzigten. Im nächsten Augenblick vernahmen wir ein knirschendes Geräusch, und das Boot wurde heruntergezogen, bis das Wasser über die Seiten hereinströmte und ich glaubte, daß wir untergingen. Doch nein, mit einem Male hörte das Knirschen auf und das Kanu flog wieder wie zuvor vorwärts. Ich wandte meinen Kopf ein wenig – ich durfte mich ja nicht erheben – und blickte auf. Bei dem schwachen Licht, das unser Kanu noch erreichte, sah ich, daß ein starrer Felsbogen über unsern Köpfen hing, und das war alles. In der nächsten Minute konnte ich nicht einmal das mehr erkennen, da das trübe Licht in Schatten, und der Schatten in undurchdringliche Finsternis übergegangen war.

So lagen wir etwa eine Stunde lang da. Wir wagten nicht, uns aufzurichten, da wir befürchteten, unsere Köpfe an den 152 Wänden zu zerschellen, und waren kaum imstande, uns mit einander zu verständigen, da unsere Stimme sich in dem Getöse des brausenden Wassers verlor. Wir empfanden übrigens, von unserer furchtbaren Lage und der schrecklichen Todesangst vollständig überwältigt, gar keine besondere Lust zum Sprechen. Konnten wir nicht jeden Augenblick gegen die Wände der Höhle, oder gegen einen Felsen anrennen, oder von den tosenden Wassern verschlungen werden, oder aus Mangel an Luft ersticken? Mit allen diesen und vielen andern Todesarten beschäftigte sich meine Einbildung, während ich auf dem Boden des Kanus lag und dem Rauschen der eilenden Wasser lauschte, die, wir wußten nicht wohin, flossen.

Nur ein einziges Geräusch vermochte ich daneben zu unterscheiden, das Schreckensgeheul nämlich, das Alfons aus der Mitte des Kanus erschallen ließ, und selbst das erschien mir nur schwach und geisterhaft. Mein Gehirn hielt der Lage tatsächlich nicht stand, und ich glaubte, daß ich das Opfer eines unheimlichen Traumes wäre. 153

 


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