Rider Haggard
Das unerforschte Land
Rider Haggard

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13. Kapitel

Der Blumentempel

Es war auf meiner Uhr achteinhalb, als ich am Morgen nach unserer Ankunft in Milosis nach einem fast zwölfstündigen Schlaf erwachte und mich wie neugeboren fühlte.

Ich richtete mich auf meinem seidenen Lager in die Höhe – nie zuvor hatte ich auf einem solchen Bett geschlafen – und sah – was meinen Sie – als ersten Gegenstand Goods Einglas, das zwischen den Vorhängen seines Ruhebettes hervorlugte. Es war von ihm weiter nichts als sein Einglas sichtbar, dem ich es aber ansah, daß er wachte und nur mein Erwachen abwartete, um die Rede zu beginnen.

»He, Quatermain,« so fing er denn auch an, »haben Sie ihre Haut gesehen? Sie ist glatt wie der Rücken einer Elfenbeinbürste.«

»Passen Sie jetzt einmal auf, Good,« so hub ich meine Strafpredigt an, als wir an den Vorhängen, die die Stellen der Türen vertraten, ein Geräusch vernahmen, und ein Kammerdiener hereintrat, der uns durch Zeichen zu verstehen gab, daß er uns nach dem Bade führen wolle. Wir folgten ihm mit Vergnügen und wurden in ein prachtvolles Marmorzimmer geführt, in dessen Mitte es kristallklares fließendes Wasser gab, in das 213 wir sofort hineinstiegen. Nach dem Bade kehrten wir in unser Gemach zurück, kleideten uns an und gingen dann in das Mittelzimmer, wo wir am Abend zuvor gespeist hatten, und wo bereits das Frühstück für uns aufgetragen war. Wir ließen es uns trefflich munden, wenngleich es mir schwer fallen würde, die einzelnen Gerichte zu beschreiben. Nach dem Frühstück sahen wir uns ein wenig um, bewunderten die Tapeten und Teppiche, sowie einige Bildsäulen, und sahen mit Ungeduld der weiteren Entwicklung der Dinge entgegen. Wir waren in der Tat jetzt so vollständig verblüfft, daß wir uns über nichts, das sich zutragen mochte, gewundert hätten. Während wir uns noch derart unterhielten, erschien unser Freund, der Anführer der Leibwache, und bedeutete uns unter vielen Verbeugungen, daß wir ihm folgen müßten, was wir ohne Widerstreben taten, wenn auch nicht ohne Befürchtungen und Herzklopfen. Denn wir vermuteten, daß wir jetzt die Rechnung für jene verwünschten Flußpferde an unsern guten Freund, den Hohenpriester Agon, zu zahlen haben würden. Da uns aber nichts anderes übrig blieb, und ich mich für meine Person auf das Versprechen der beiden Königinnen, uns zu schützen, verließ, so brachen wir mit recht heiterem Gesicht auf, wie wenn uns der Gang außerordentliches Vergnügen bereitete. Ein kurzer Weg von einer Minute brachte uns durch einen Korridor und über einen Außenhof bis an die großen Doppeltore des Palastes, die sich nach der mitten durch Milosis zu dem eine Meile weit entfernten Sonnentempel führenden breiten Straße öffnen.

Diese Tore sind außerordentlich groß und ganz massiv aus 214 Eisen ausgeführt. Ein hervorragend schönes Stück Arbeit! Zwischen ihnen – das eine befindet sich nämlich am Eingang zu der Innen- und das andere an dem zu der Außenmauer – liegt ein fünfundvierzig Fuß breiter, ganz mit Wasser gefüllter Graben. Eine Zugbrücke führt über ihn hinweg, die, wenn einmal aufgezogen, den Palast gegen jeden Feind schützt, der nicht über Belagerungsgeschütze verfügt, eine Errungenschaft, zu der es die guten Zu-Vendi ja noch nicht gebracht haben. Als wir uns näherten, wurde der eine Flügel der breiten Tore aufgeworfen, wir schritten über die Zugbrücke und erblickten nun eine der imposantesten, wenn nicht die imposanteste Straße der Welt. Sie ist hundert Fuß breit und auf jeder Seite erhebt sich, nicht eingepreßt und zusammengedrängt, wie es bei uns in Europa Sitte ist, eine Reihe prächtiger einstöckiger Wohnhäuser aus rotem Granit, die alle nach einem Plan und in gleichen Abständen voneinander erbaut sind. Es sind die Stadtresidenzen der Hofmitglieder und die Reihe der Gebäude zieht sich ohne Unterbrechung etwa eine Meile lang hin, bis der glorreiche Anblick des Sonnentempels, der den Hügel krönt, den Augen ein Ziel setzt.

Wir gaben uns noch ganz dem Genusse des herrlichen Bildes hin, als plötzlich vier Wagen, jeder von zwei Schimmeln gezogen, heranjagten. Diese Wagen waren zweiräderig und ganz aus Holz angefertigt.

Die Pferde waren einfach herrlich, nicht sehr groß, aber stark gebaut, hatten kleine Köpfe und auffallend große, runde Hufe. Ihr ganzes Aussehen ließ auf Schnelligkeit und edles Blut 215 schließen. Ich habe mich oft gefragt, woher diese Zucht, die viele besondere Eigentümlichkeiten aufwies, stammen mag, doch ist ihre Geschichte wie die ihrer Besitzer in Dunkel gehüllt. Wie das Volk, sind auch die Pferde von jeher dort gewesen. Auf dem ersten und letzten Wagen thronte eine militärische Eskorte, die in der Mitte aber waren, von dem Kutscher abgesehen, leer und zu diesen wurden wir geleitet. Alfons und ich stiegen in den ersten, Sir Henry, Good und Umslopogaas in den zweiten, und dann ging es vorwärts. Und wie ging es! Die Zu-Vendi sind keine Freunde von langsamem Fahren oder Reiten, besonders wenn die Entfernung nur kurz ist – sie ziehen den schnellen Galopp vor. Sobald wir Platz genommen hatten, jagten die Pferde auf ein Wort des Kutschers mit einer Geschwindigkeit vorwärts, die uns den Atem nahm und mich in jedem Augenblick fürchten ließ, daß wir umwerfen würden. Der arme Alfons hielt sich krampfhaft auf seinem Sitze fest und verwünschte »diesen Teufel von einem Fiaker«, da er glaubte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe. Plötzlich fiel es ihm ein, mich zu befragen, wohin die Fahrt denn ginge, worauf ich ihm erwiderte, daß wir geopfert werden und den Flammentod sterben sollten. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als er den Arm um seinen Sitz schlang und in seiner Angst laut aufschrie.

Der wildaussehende Kutscher trieb aber seine dahinjagenden Rosse nur zu noch größerer Eile an, und Alfons' Wehegeschrei verhallte ungehört in dem Gerassel des Wagens.

Und nun leuchtete in all seiner wunderbaren Pracht und 216 bestechenden Schönheit der Sonnentempel vor uns auf, der der ganze Stolz der Zu-Vendi ist. Der Reichtum, die Geschicklichkeit und die Arbeitskraft von Generationen waren an die Erbauung dieses märchenhaften Tempels gewandt worden, der noch nicht volle fünfzig Jahre fertig war. Man hatte von den Schätzen des Landes nichts gespart und das Resultat entsprach vollständig den darauf verwandten Anstrengungen. Das Bauwerk imponierte nicht so sehr wegen seiner Größe – denn es gibt größere Tempel in der Welt – als wegen seiner vollkommenen Proportionen, des Reichtums und der Schönheit der Materialien und seiner wunderbaren Ausführung.

Das Gebäude selbst besteht aus reinem glänzend weißen Marmor, der einen wunderbaren Gegensatz zu dem roten Granit der Felsenstadt bildet, auf deren Haupt er wie das Diadem auf der Stirne einer schwarzen Königin funkelt. Der Dom und seine zwölf Vorhöfe sind von außen ganz mit dünnem Blattgold bedeckt. An dem äußersten Rande des Daches jedes dieser Vorhöfe ist eine prachtvolle goldene Gestalt mit einer Trompete in der Hand und weitausgebreiteten Flügeln so lebenswahr dargestellt, wie wenn sie im nächsten Augenblick davonfliegen würde. Ich muß es wirklich meinen Lesern überlassen, sich selbst die unendliche Pracht dieser goldenen Dächer vorzustellen, wenn die Sonne sie bescheint. Es ist, wie wenn tausend Feuer auf einem glänzenden Marmorberg aufleuchten, und der Glanz ist so stark, daß der Widerschein deutlich auf der hundert Meilen weit entfernten Bergkette wahrgenommen wird. 217

Es ist ein feenhafter Anblick – diese von den kalten weißen Marmorwänden getragene goldene Sonne, und es erscheint mir zweifelhaft, ob sich ihm in der ganzen Welt ein zweiter ebenbürtig zur Seite stellen läßt. Zur Erhöhung des Gesamteindrucks trägt es noch wesentlich bei, daß sich um die Marmormauer des Tempels ein hundertfünfzig Fuß breiter Gürtel zieht, der ganz mit einer einheimischen Sonnenblumenart bepflanzt ist, die zur Zeit unseres Besuches grade in voller Blüte stand.

Der Haupteingang zu diesem wunderbaren Bauwerk liegt zwischen den beiden nördlichsten Vorhöfen und wird durch die üblichen Bronzetore, sowie durch Türen aus massivem Marmor, die auch mit allegorischen Figuren verziert und mit Gold überzogen sind, verschlossen. Wer sie passiert hat, befindet sich in der Rotunde unter dem großen Dom. Dort bietet sich unseren Augen ein so schöner Anblick, wie ihn die menschliche Einbildungskraft sich nur vorstellen kann. Wir sind in der Mitte des Heiligtums, und über uns wölbt sich in anmutigen Linien der riesige, glänzend weiße Marmorbogen, der auffallende Ähnlichkeit mit dem der Londoner St. Pauls-Kathedrale besitzt; von der trichterförmigen Öffnung im Mittelpunkt ergießt sich ein heller Lichtstrom auf den goldenen Altar in der Mitte. Östlich und westlich befinden sich noch mehr Altäre und noch mehr Lichtstrahlen durchdringen das heilige Zwielicht. Nach jeder Richtung hin öffnen sich »weiß, mystisch, wunderbar« die strahlenförmigen Vorhöfe, deren Dunkel von je einem einzigen Lichtstrahl durchdrungen wird, der uns die Denkmäler der Toten in unbestimmten 218 Umrissen zeigt und das einzige Licht in dem geheimnisvollen Düster bildet.

Überwältigt durch einen so erhabenen Anblick wenden wir uns dem goldenen Altar in der Mitte zu, in dessen Herzen – obwohl zur Zeit für uns nicht sichtbar – beständig eine blasse Flamme brennt, von der sich leichte blaue Rauchwolken emporringeln. Der ganz aus Marmor angefertigte Altar ist mit reinem Gold überzogen, ist rund wie die Sonne, vier Fuß hoch und hat einen Durchmesser von sechsunddreißig Fuß. Von diesem Altar gehen zwölf Blätter aus getriebenem Gold aus. Sie sind die ganze Nacht und auch, bis auf eine Stunde, den ganzen Tag geschlossen. Wenn aber die Sonne um Mittag durch den Trichter in den Dom dringt und auf die goldene Blume fällt, so öffnen sich die Blätter und enthüllen das verborgene Geheimnis, um sich wieder zu schließen, sobald die Sonnenstrahlen die Blume nicht mehr treffen.

Dies ist aber noch nicht alles. Nördlich und südlich von dem Heiligtum stehen in gleichen Abständen voneinander in anbetender Haltung und mit gesenkten Häuptern goldene Engel, d. h. etwas mehr als lebensgroße mit Flügeln ausgestattete weibliche Gestalten von ausgesuchter Schönheit und Anmut. Die Flügel werfen ihre Schatten auf das Gesicht, und das Ganze macht einen zur Andacht stimmenden Eindruck.

Bei den Tempeltoren wurde unsere Gesellschaft von einer Abteilung Soldaten empfangen, die unter dem Befehl eines Priesters zu stehen schien und uns in einen Vorhof geleitete, wo wir 219 uns zum mindesten eine halbe Stunde überlassen blieben. Hier hielten wir miteinander Rat und beschlossen, uns der großen Gefahr, in der wir schwebten, völlig bewußt, unser Leben, wenn nötig, so teuer wie möglich zu verkaufen. Umslopogaas sprach sogar den festen Vorsatz aus, sich an der Person des Hohenpriesters Agon zu vergreifen und ihm sein ehrwürdiges Haupt mit Inkosi-Kaas zu spalten. Von unserem Platze aus konnten wir sehen, daß sich eine ungeheure Menschenmenge in den Tempel ergoß, um dort wahrscheinlich einem außergewöhnlichen Vorgang beizuwohnen, und ich vermochte mich nicht der düsteren Vorahnung zu erwehren, daß wir in der einen oder andern Weise mit diesem Vorgange in Verbindung ständen. An dieser Stelle will ich gleich erklären, daß bei den Zu-Vendi jeden Tag, wenn das Sonnenlicht auf den Mittelaltar fällt und die Trompeten schmettern, der Sonne ein Brandopfer dargebracht wird, das meist aus dem Kadaver eines Schafes oder eines Ochsen, seltener aus Obst oder Getreide besteht. Hierfür ist die Mittagszeit angesetzt, da die Mittagsstunde und die Berührung des Altars durch die Sonnenstrahlen in dem nicht weit von dem Äquator entfernten Zu-Vendis fast zusammenfallen. Heute sollte das Opfer etwa acht Minuten nach zwölf Uhr stattfinden.

Pünktlich um zwölf Uhr erschien ein Priester und gab ein Zeichen, worauf der Offizier unserer Eskorte uns bedeutete, ihm zu folgen, was wir denn auch mit aller uns zu Gebote stehenden Grazie taten, Alfons allein ausgenommen, dessen Zähne sofort nach der bekannten Melodie zu klappern begannen. Nach einigen 220 Sekunden lag der Vorhof hinter uns und wir blickten auf ein ungeheures Meer von menschlichen Gesichtern, das sich bis an die äußersten Grenzen der großen Rotunde erstreckte. Ein jeder strengte sich an, wenigstens einen Blick auf die geheimnisvollen Fremden zu werfen, die eine Schändung ihrer Religion begangen hatten und wie man sich erinnern wolle, die ersten Fremden waren, die je ihren Fuß auf den Boden von Zu-Vendis gesetzt hatten.

Als wir uns näherten, ging ein Murmeln, dessen Echo von dem großen Dom widerhallte, durch die ungeheure Menge, und wir sahen Tausende von Gesichtern sich vor Erregung röten – ein höchst merkwürdiges Schauspiel, das uns ähnlich wie der Anblick rosafarbenen Lichts auf einem blassen Wolkenstreifen berührte. Wir schritten durch einen von der Menge gebildeten Gang hindurch, bis wir uns schließlich auf dem ehernen Fußboden östlich vom Hauptaltar und diesem grade gegenüber befanden. Der Raum um die Engelgestalten war auf etwa dreißig Fuß durch Stricke abgesperrt worden, außerhalb derer die Menge stand. Innerhalb des abgesperrten Raumes hielt sich eine Anzahl weiß gekleideter Priester mit langen goldenen Trompeten in den Händen und goldenen Gürteln um die Lenden auf, und grade vor uns sahen wir unseren Freund, den Hohenpriester Agon, der wiederum seine sonderbare Kappe auf dem Kopfe trug. Er war der einzige in jener ungeheuren Versammlung, der sein Haupt bedeckt hatte. Wir selbst standen auf dem Erzfußboden auf, ohne auch nur die geringste Ahnung von der uns zugedachten 221 Überraschung zu haben, wenngleich ich ein merkwürdiges Zischen bemerkte, das dem Fußboden zu entsteigen schien und das ich mir in keiner Weise zu erklären vermochte. Dann folgte eine Pause, die ich benutzte, um mich nach den beiden Königinnen, Nyleptha und Sorais, umzusehen, doch waren sie noch nicht da. Rechts von uns bemerkte ich indes einen freien Platz, der vermutlich für sie reserviert war.

Wir warteten, und plötzlich erscholl von fern eine Trompetenfanfare, die aus der Höhe des Doms herabzudringen schien. Dann ging ein neues Flüstern durch die Menge und wir sahen die beiden Königinnen Seite an Seite einen langen in den freien Platz zu unserer Rechten einmündenden Gang hinaufschreiten. Ihnen folgten einige Herren vom Hofe, darunter auch der große Nasta, und diesen wiederum eine Leibwache von etwa fünfzig Mann. Diese letzteren sah ich, ehrlich gesagt, mit aufrichtigem Vergnügen. Nun waren sie alle da und hatten ihre Plätze eingenommen, die beiden Königinnen ganz vorn, zu ihrer Rechten und Linken die Edelleute und in einem doppelten Halbkreise dahinter die Leibwache.

Wiederum trat tiefes Schweigen ein, während dessen Nyleptha aufsah und mich bedeutungsvoll anblickte. Es schien mir, als ob sie mir mit ihren Blicken etwas Bestimmtes sagen wollte und ich folgte ihnen deshalb mit äußerster Spannung. Sie glitten von meinem Augen auf den Erzfußboden, auf dessen äußerem Rand wir standen, herab. Dann folgte ein leises fast unmerkliches Neigen des Hauptes nach der Seite. Ich verstand es zuerst 222 nicht und erriet erst, als es sich wiederholte, daß sie uns bewegen wollte, den erzenen Fußboden zu verlassen. Ein weiterer Blick und ich war meiner Sache sicher – es war gefährlich für uns, noch länger auf dem Boden zu bleiben. Auf der einen Seite von mir stand Sir Henry, Umslopogaas auf der andern. Indem ich den Platz vor mir nicht aus den Augen ließ, flüsterte ich ihnen zuerst auf Sulu und dann auf Englisch zu, sich langsam Zoll für Zoll zurückzuziehen, bis sie mit ihren Füßen zur Hälfte auf dem Marmor standen, wo das Erz aufhörte. Sir Henry flüsterte Good und Alfons die Warnung zu und langsam, sehr langsam wichen wir zurück, so langsam in der Tat, daß niemand außer Nyleptha und Sorais, die alles sahen, die Bewegung wahrzunehmen schien. Dann blickte ich wiederum zu Nyleptha hinüber und sah an einem fast unmerklichen Nicken, daß sie mit unserem Verhalten zufrieden war. Während dieser ganzen Zeit hielt Agon seine Augen wie verzückt auf den Altar gerichtet, während ich in einer andern Art von Verzückung seinen Rücken betrachtete. Plötzlich erhob er seine langen Arme und begann mit feierlicher, weithin schallender Stimme einen Gesang, von dem ich hier eine schwache, eine sehr schwache Übersetzung folgen lasse, obwohl ich ihn damals nicht verstand. Es war eine Anrufung der Sonne und lautete etwa wie folgt:

»Schweigen ruht auf dem Antlitz und den Gewässern der Erde!
Ja, Schweigen brütet wie ein Nestvogel über den Wassern;
Schweigen schläft auch am Busen der tiefen Finsternis.
Hoch oben nur in dem großen Weltenraume spricht Stern zu Stern. 223
Die Erde vergeht vor Sehnsucht und ihre Tränen benetzen sie,
Sie ist nicht zufrieden, wenn auch die sternenumgürtete Nacht sie umarmt.
Von Nebeln umhüllt wie ein Toter von Grabestüchern,
Streckt sie ihre blassen Hände dem Osten entgegen.

Sieh! dort in dem fernsten Osten regt sich der Schatten des Lichts,
Die Erde sieht's und richtet sich auf. Sie blickt unter ihrer Hand empor.
Dann fliegen deine großen Engel aus deinem Heiligtum, o Sonne,
Sie dringen mit ihren feurigen Schwertern in die Dunkelheit und vernichten sie,
Sie erklimmen die Himmel und stürzen die blassen Sterne von ihrem Thron,
Ja, sie werfen die falschen Sterne zurück in den Schoß der Nacht,
Sie lassen den Mond erblassen wie das Antlitz eines Sterbenden
Und siehe! du nahst in deiner Pracht, o Sonne!

O du Schöne, du kleidest dich in Feuer.
Die weiten Himmel sind deine Heerstraße. Du rollst über sie hinweg, wie ein Wagen,
Die Erde ist deine Braut. Du umarmst sie und sie gebiert dir Kinder,
Ja, du schenkst ihr deine Gunst und sie erweist sich dankbar.
Du bist der Allvater und Spender des Lebens, o Sonne!
Die jungen Kinder strecken ihre Hände aus und gedeihen in deinem Glanz,
Die alten Männer erinnern sich bei deinem Anblick ihrer Stärke,
Nur die Toten vergessen dich, o Sonne!

Wenn du uns zürnst, verbirgst du dein Antlitz,
Du umgibst dich mit einem dichten Vorhang von Schatten,
Dann wird die Erde kalt. Die Himmel klagen,
Sie zittern, und das Geräusch ist das Geräusch des Donners,
Se weinen, und ihre Tränen strömen im Regen herab,
Sie seufzen, und die wilden Winde sind die Stimme ihrer Seufzer. 224
Die Blumen sterben, die fruchtbaren Felder welken,
Die alten Männer und die kleinen Kinder suchen den ihnen bestimmten Platz auf,
Wenn du dein Licht entziehst, o Sonne!

Sage, was bist du, o du beispielloser Glanz?
Wer hat dich so hoch gestellt, o du flammender Schrecken?
Wann begannst du, und wann wirst du enden?
Du bist das Gewand des lebenden Geistes,
Niemand hat dich so hoch gestellt, denn du warst von Anfang,
Du wirst sein, wenn deine Kinder vergessen sind.
Nein, du wirst niemals enden, und deine Stunden sind ewig.
Oben thronst du in deinem goldenen Hause und lenkst die Jahrhunderte
O Vater des Lebens! O Finsternis vertreibende Sonne!«

Der Priester hörte mit dem feierlichen Gesang auf. Dann blickte er einen kurzen Augenblick auf nach der trichterförmigen Öffnung im Dom und fügte hinzu –

»O Sonne, steige herab auf deinen Altar!«

Bei diesen Worten bot sich uns ein wunderbar schöner Anblick dar. Ein glänzender Lichtstrahl drang von oben herab und zerteilte wie ein feuriges Schwert das Zwielicht. Er fiel strahlend auf die geschlossenen Blätter, eilte an ihren goldenen Seiten entlang, und dann öffnete sich langsam, langsam die prachtvolle Blume wie unter der Einwirkung des Lichts. Als die großen Blätter zur Seite wichen und den goldenen Altar enthüllten, auf dem das Feuer immer brennt, bliesen die Priester auf ihren Trompeten eine Fanfare und alle Anwesenden stimmten einen 225 Lobgesang an, der empor bis an die Decke des Doms drang und in lautem Echo widerhallte. Und nun war der Blumenaltar geöffnet, das Sonnenlicht fiel grade auf die Zunge der heiligen Flamme und trieb sie flackernd nach unten in die Höhlung, der sie entstieg, zurück. Ihr Verschwinden wurde von einer zweiten Trompetenfanfare begleitet. Wiederum erhob der alte Priester seine Hände und rief laut –

»Wir opfern dir, o Sonne!«

Nylepthas Auge war, wie ich in diesem Augenblick bemerkte, fest auf den Erzfußboden gerichtet.

»Vorgesehen!« sagte ich laut, und als ich das Wort aussprach, sah ich Agon sich vorbeugen und eine Stelle auf dem Altar berühren. Bei dieser Bewegung wurde das große Meer der Gesichter um uns herum rot und dann wiederum weiß, und ein tiefer Atemzug stieg wie ein allgemeiner Seufzer in die Höhe. Nyleptha lehnte sich vor und bedeckte unwillkürlich ihre Augen mit der Hand. Sorais drehte sich um und erteilte dem Offizier der Leibwache flüsternd eine Anweisung. Dann wich mit lautem Krachen der ganze Erzfußboden vor unseren Füßen hinweg und an seiner Stelle wurde ein glatter Marmorschacht sichtbar, der in einen feurigen Ofen unter dem Altar mündete, der groß und heiß genug war, um selbst die Maschine eines Kriegsschiffes zu heizen.

Mit einem lauten Schrei des Entsetzens sprangen wir alle zurück, den armen Alfons allein ausgenommen, der, von der Furcht völlig gelähmt, in den uns zugedachten feurigen Ofen 226 gefallen wäre, hätte ihn nicht Sir Henry mit seiner starken Hand gefaßt und zurückgezogen.

Im nächsten Augenblick erhob sich ein furchtbarer Wirrwarr und wir vier stellten uns Rücken an Rücken auf, dabei fortwährend von dem kleinen Alfons behelligt, der sich in seiner Angst unter unsere Beine zu retten suchte. Wir hatten alle unsere Revolver umgeschnallt – denn obwohl sie uns beim Verlassen des Palastes höflich zwar, aber entschieden unsere Gewehre abgenommen, hatten diese Leute natürlich doch nicht die leiseste Ahnung von einem Revolver. Umslopogaas trug zudem seine Axt bei sich, die er jetzt herausfordernd um seinen Kopf wirbelte, indem er gleichzeitig sein durchdringendes Sulukriegsgeheul in die Luft schmetterte. Im nächsten Augenblick hatten die Priester, wütend, daß ihre Beute ihnen zu entrinnen drohte, unter ihren weißen Gewändern Schwerter hervorgezogen und stürzten sich nun auf uns, wie Hunde auf einen in die Enge getriebenen Hirsch. Wir waren verloren, wenn wir nicht sofort handelten, und ich sandte deshalb dem Mann an der Spitze unserer Feinde – es war ein großer, starker Bursche – meine schwere Revolverkugel durch den Kopf. Grade vor der Mündung des Schachtes fiel er nieder und stürzte unter schrecklichem Geheul hinab in die feurigen Gluten, die für uns entfacht worden waren.

Ob sein Geschrei oder der für sie fürchterliche Knall und die Wirkung des Pistolenschusses oder sonst etwas der Grund war, weiß ich nicht, die andern Priester hielten aber entsetzt und schreckensbleich an. 227

Ehe sie wieder Mut gefaßt, hatte Sorais aber schon einen Befehl erteilt, und wir sahen im nächsten Augenblick uns, desgleichen die beiden Königinnen und die meisten Höflinge, von einer Mauer bewaffneter Männer umgeben.

Das war das Werk einer einzigen Sekunde, aber noch immer zögerten die Priester, und das Volk verhielt sich wie eine Herde überraschten Wildes, das nicht weiß, ob es sich für diesen oder jenen Weg entscheiden soll.

Der letzte Schrei des brennenden Priesters war verhallt, das Feuer hatte ihm den Garaus bereitet und ein tiefes Schweigen senkte sich auf die Anwesenden.

Dann wandte sich der Hohepriester Agon zu den Königinnen: »Laßt das Opfer seinen Fortgang nehmen!« rief er den beiden Schwestern zu, und sein Gesicht war wie das eines Teufels. »Haben diese Fremden unsere Religion nicht schon genug geschändet? Wollt Ihr als Königinnen den Mantel Eurer Majestät über Bösewichter werfen? Sind nicht die der Sonne heiligen Geschöpfe tot, und ist nicht auch ein Priester der Sonne eben erst durch die Magie dieser Leute erschlagen worden, die wie die himmlischen Winde zu uns kommen, wir wissen nicht woher, noch wer sie sind? Hütet Euch, o Königinnen, mit der großen Majestät des Gottes, und noch dazu vor seinem hohen Altar, Euer Spiel zu treiben! Es gibt eine Macht, die größer ist als Eure Macht, eine Gerechtigkeit, die höher ist als Eure Gerechtigkeit. Hütet Euch, gottlos die Hand dagegen zu erheben! Laßt das Opfer seinen Fortgang nehmen, o Königinnen!« 228

Dann antwortete ihm Sorais in ihrer tiefen, ruhigen Stimme, der, wie ernsthaft auch der Gegenstand, immer etwas Spott beigemengt zu sein schien: »O Agon, du hast uns deinen Willen kundgetan und hast die Wahrheit gesprochen. Du bist es jedoch, der gottlos die eigene Hand gegen die Gerechtigkeit seines Gottes erhebt! Bedenke, daß das Mittagopfer vollbracht ist, da die Sonne ihren Priester zum Opfer verlangt hat.«

Dies war eine neue Auffassung der Lage, die den Beifall des Volkes fand.

»Bedenke, wer diese Männer sind! Es sind Fremde, die man in einem Boote auf dem Busen eines Sees treibend fand. Wer brachte sie dorthin? Wie kamen sie dorthin? Wißt ihr, ob sie nicht gleichfalls Kinder der Sonne sind? Soll unser Volk den Fremden, die der Zufall ihm zuführt, seine Gastfreundschaft beweisen, indem es sie den Flammen vorwirft? Schmach und Schande über euch! Was ist Gastfreundschaft? Den Fremden zu empfangen und ihm Gunst zu erweisen, seine Wunden zu verbinden, ein Kissen für sein Haupt und Nahrung für seinen Hunger zu spenden. Dein Kissen aber ist der feurige Ofen, und deine Nahrung der heiße Dunst der Flammen. Schmach über dich, sage ich!« Sie hielt einen Augenblick ein, um die Wirkung ihrer Rede auf die Menge zu beobachten, und da sie sah, daß die Wirkung günstig war, schlug sie nunmehr an Stelle der Vorwürfe einen gebieterischen Ton an.

»He! Platz gemacht!« rief sie aus. »Platz, sage ich, Platz für die Königinnen und die Schützlinge unter ihrem Kaf (Mantel)!« 229

»Und wenn ich mich weigere, o Königin?« zischte Agon zwischen seinen Zähnen.

»Dann will ich mir mit den Schwertern meiner Garde einen Pfad bahnen,« lautete die stolze Antwort, »ja selbst in deinem Heiligtum und über die Körper deiner Priester hinweg.«

Agon wurde vor Ingrimm ganz bleich. Er blickte zum Volke hinüber, wie wenn er von ihm ein Einschreiten zu seinen Gunsten erwarte, sah aber, daß die Sympathie desselben in der entgegengesetzten Richtung lag. Die Zu-Vendi sind ein sehr neugieriges und geselliges Volk, und so sehr sie auch das Verbrechen, das wir durch die Jagd auf die heiligen Flußpferde begangen hatten, verabscheuten, so gefiel ihnen doch der Gedanke nicht, daß die einzigen wirklichen und wahrhaftigen Fremden, die sie je gesehen, in den feurigen Ofen wandern sollten, da ihnen dadurch auf immer die einzige Möglichkeit entging, neues Wissen und neue Belehrung zu sammeln und sich über uns zu unterhalten. Agon sah und zögerte, und nun ließ zum erstenmal auch Nyleptha ihre sanfte süße Stimme hören.

»Bedenke, Agon,« sagte sie, »daß diese Männer, wie meine Schwester-Königin gesagt hat, gleichfalls Diener der Sonne sein können. Sie vermögen nicht für sich selbst zu reden, da ihre Zungen gebunden sind. Vertagen wir daher die Angelegenheit so lange, bis sie unsere Sprache erlernt haben. Wer darf verdammt werden, ohne daß man ihn zuvor gehört hätte? Wenn diese Männer sich selbst verteidigen können, wird es Zeit sein, über sie zu Gericht zu sitzen.« 230

Hier bot sich die Gelegenheit, einen halbwegs würdigen Rückzug anzutreten, und der rachsüchtige alte Priester machte sie sich zunutze, so wenig er innerlich auch davon wissen wollte.

»So sei es, o Königin,« sagte er, »mögen die Männer in Frieden von hier gehen und sich, wenn sie unsere Sprache erlernt haben, rechtfertigen. Und ich, kein anderer als ich, werde demütig vor dem Altar niederknien und zur Sonne beten, daß wegen der Schändung unserer Religion nicht Pestilenz auf das Land falle.«

Ein beifälliges Gemurmel nahm diese Worte auf und in den nächsten Minuten marschierten wir, von der königlichen Leibwache umgeben, zum Tempel hinaus.

Erst lange nachher erfuhren wir aber die Wahrheit über diese Vorgänge und welch harten Kampf es gekostet hatte, um uns aus den Fängen der Zu-Vendi-Priesterschaft zu retten, gegen die selbst die Königinnen in Wahrheit machtlos waren. Ihrer Aufmerksamkeit und Dazwischenkunft hatten wir es zu danken, daß wir nicht schon unseren Tod gefunden hatten, ehe wir den Sonnentempel betraten. Der Versuch, uns als Opfer in den feurigen Ofen zu werfen, war ein letzter Anschlag, den die Priesterschaft zu diesem Zwecke unternahm, nachdem verschiedene andere, von denen wir keine Ahnung hatten, fehlgeschlagen waren. 231

 


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