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45. Kapitel

Von Erscheinungen, welche Christian Kurt am hellen Tage hatte, von Liedern verschiedener Art und angenehmen Dingen, wie man sie gern am Schlusse eines Buches liest

In Blanda lebten eigentümliche Erinnerungen auf, als sie, in dem leichten Jagdwagen des Doktors sitzend, dessen beide Pferde er selbst lenkte, nun eine gute Strecke hinter Königsbronn von der breiten Chaussee, die nach Zwingenberg führte, abbogen, um auf näheren Feld- und Waldwegen das Schloß des Grafen Seefeld zu erreichen; ja, sie fand sich hier wieder zurecht, obgleich schon manche Jahre zwischen heute und jenem Tage lagen, wo sie dort in dem ziemlich ausgedehnten Thale vor dem Zelte des hohen Offiziers als Wunderkind auf ihrer Kugel getanzt hatte, wo alsdann das Lager von den feindlichen Reitern überfallen worden und wo Erich es gewesen war, der sich ihrer und der anderen angenommen, der, ihre Ponies mit sichrer Hand lenkend, sie glücklich zu den Ihrigen zurückgebracht hatte.

Ja, dort rechts neben ihr lag die Ebene, während der leichte Wagen dahinrollte auf der gleichen Höhe, von der damals die feindliche Artillerie so schrecklich herabgeschossen hatte. Aber wie hatte sich der Platz da unten verändert, wie lag heute die Fläche da, so einsam und still, bedeckt mit üppig grünen Saaten, auf denen das Sonnenlicht spielte, während hoch oben in der Luft die Lerche unsichtbar ihre Lieder trillerte.

»Wir hätten auf der Straße weiter fahren können bis nahe bei Zwingenberg, wo ein breiterer Weg über mein Gut, die Königsbronner Mühle, nach der Waldburg führt,« sagte der Doktor; »doch war mir meine Zeit heute zu kostbar, um zu Hause anzuhalten. Auch haben wir hier einen kürzeren Weg, welcher jetzt, da es in der letzten Zeit nicht viel geregnet hat sehr gut zu fahren ist, und dabei den Vorteil, ziemlich ungesehen an die hintere Seite des Schlosses zu gelangen, was heute für mich von Wichtigkeit ist. Erinnern Sie sich noch etwas von der Waldburg?«

»O, ja,« sagte Blanda; »doch wenn ich wie damals bei Nacht hinkäme, wo alles so schön und prächtig erleuchtet war, würde ich mich vielleicht noch viel besser zurecht finden, denn alles, was ich dort gesehen und erlebt, steht als ziemlich düsteres Nachtbild vor meiner Seele da ist ein großer Hof, in dessen Mitte eine kleine Kirche steht, neben welcher sich ein Durchgang befindet, der zu einer Reihe langer Gebäude führt.«

»Ganz richtig; letzteres sind Dienstbotenwohnungen, Magazine, leere Räume.«

»In einem der letzteren, das Gemach war rund, wie in einem Turme gelegen, verbrachten wir die Nacht; ich unruhig und schlaflos, wenigstens bis zu jener Stunde, wo Kolma den armen Erich aus seinem Gefängnis errettet hatte. Eigentlich war es Zaregg, der die Thüre erbrach, während die gute Ticzka den Grafen Dagobert Seefeld zurückhielt; das war in einem weiten Garten, der hinter den Gebäuden liegt, in welchem sich weiße Marmorfiguren befanden und der bis an den Wald hinaufging o, ich sehe das noch so deutlich vor mir!«

»Ja, ja, so ist es; dem armen Erich hätte es noch schlecht ergehen können, wenn er nicht durch Sie gerettet worden wäre. Dann aber wurden Sie in den großen Saal geführt?« fragte der Doktor nach einer kleinen Pause.

»Wo es mir förmlich vor den Augen flimmerte, als wir aus der dunkeln Nacht in den Glanz der Hunderte von Lichtern traten, bei der wilden, rauschenden Musik und bei der lärmenden Fröhlichkeit aller der Offiziere; doch habe ich davon nicht viel einzelnes behalten, auch nicht, wie ich getanzt und meine Kunststücke gemacht habe. Nur etwas anderes ist mir lebhaft in der Erinnerung geblieben, o, so lebhaft, wie wenig aus jener Zeit.«

»Und was war das, Fräulein Blanda?«

»Als die Ticzka mit den Zigeunerinnen tanzte und die Herren alle außer sich waren, wie immer, wenn Kolma gut gelaunt war oder es der Mühe wert fand, sich besonders hervorzuthun, da verlor ich mich hinter dem Gedränge der Offiziere in den weiten Saal hinein und betrachtete staunend all den Glanz, der ihn erfüllte, die prächtigen Kronleuchter, die Vergoldungen, die Malereien, vor allem den Tisch mit seinen wundervollen Geschirren. Kolma hat nachher mit mir gezankt, daß ich so ohne weiteres alles das betrachtet; aber ich konnte damals nicht anders, ich fühlte durchaus keine Scheu oder Furcht, und es war mir gerade so zu Mute, als sei das für mich so ausgestellt, daß ich es ansehen könne. Deshalb ging ich immer weiter und kam zuletzt an einen großen Kamin, in dem ein gewaltiges Feuer loderte und neben dem man mit spanischen Wänden einen kleinen, behaglichen Winkel geschaffen, wie für jemand, der in der großen Halle und doch wieder in derselben für sich allein oder mit wenigen abgesondert sein wollte. Aufrichtig gesagt, da gefiel es mir am besten, und die behagliche Glut, die den brennenden, gewaltigen Holzklötzen entströmte, that mir wohl; nicht als ob ich gefroren hätte, sondern ich dachte an meine arme Mutter, die jetzt draußen in dem runden Turmgemache krank im Fieber lag und der ich so gern die Wärme dieses Feuers gegönnt hätte. Dabei kam mir die Erinnerung an längst vergangene Tage; aber aus diesen Erinnerungen erschien nichts vor meiner Seele, als ebenfalls die freundliche Glut eines Kaminfeuers, vor welchem meine gute Mutter stand und unser Nachtessen kochte, während sie leise vor sich hin eine bekannte Melodie summte, mit der sie mich häufig einschläferte.«

»Und was war das für eine Melodie?« fragte der Doktor, nachdenkend vor sich hinblickend, wobei er wie unwillkürlich mit seiner Peitsche spielte und die Schnur durch leichte Schwingungen um den Stiel wickelte.

»Es war die Melodie des alten Liedes: Marborough s'en va-t-en guerre«

»Ja so, das dachte ich mir.«

»Und diese Melodie sang ich unwillkürlich vor mich hin, erschrak aber beinahe, als ich hinter mir mit einer leisen, zitternden Stimme den Refrain: Mironton, mironton, mirontaine, wiederholen hörte. Rasch blickte ich mich um und sah in einem Lehnstuhle, der in der Ecke an der spanischen Wand stand, einen alten Mann sitzen? der mich mit erstaunten Blicken betrachtete und dabei seine dünnen, blassen Lippen bewegte, als wiederhole er noch immer das Mironton, mironton, mirontaine. Da schlich ich mich langsam zurück und war froh, daß der alte Herr mit den starren Augen mich nicht angerufen hatte.«

Der Doktor antwortete auf diese Erzählung keine Silbe, nickte aber mehrmals mit dem Kopfe und pfiff die gleiche Melodie vor sich hin, während er seine Peitschenschnur wieder abwickelte und dann unter einem leichten Zungenschlage die Flanke des Sattelpferdes sanft damit berührte. Hatte man doch jetzt einen besseren Weg erreicht, und die Pferde trabten dahin, daß es eine Freude war. »Was ist denn das?« fragte Blanda, nachdem sie eine Waldecke umfahren und nun in kleiner Entfernung vor sich aus den dichten, grünen Laubmassen einen riesenhaften schneeweißen Wasserstrahl sahen, der hoch über alle Gipfel der Bäume emporfuhr.

»Das ist die große Fontaine aus dem Garten der Waldburg, und dort zwischen den uralten Buchen tritt das Dach des Schlosses hervor; wir sind sogleich an Ort und Stelle, und wenn Sie die Güte haben wollten, Fräulein Blanda, für einen Augenblick die Zügel zu nehmen, so will ich das Verdeck des Wagens aufschlagen; ich habe auch dazu meine guten Gründe.«

Das junge Mädchen nahm bereitwillig Zügel und Peitsche und faßte beides so kunstgerecht mit ihren kleinen Händen, daß der Doktor Burbus, nachdem er die Verdeckfedern vorgedrückt, mit einem außerordentlich beifälligen Lächeln auf seine schöne Nachbarin blickte.

»Ei, Sie führen das, wie etwas Wohlbekanntes!«

»Ist auch nichts neues für mich, Herr Doktor.« »Reiten auch vielleicht?«

»O, gewiß!«

»Hm,« sagte er mit einem fröhlichen Lächeln, »so wäre auch Ihre Erziehung in diesen edeln Künsten, so wie man es sich nur wünschen könnte; aber so leid es mir thut, muß ich Sie jetzt ersuchen, mir Zügel und Peitsche zurück zu geben und sich fest in die Ecke zu drücken da sind wir schon!«

Nur für einen Augenblick sah Blanda die gewaltigen Massen des Schlosses sowie ihnen zur Seite den Turm der Kapelle hinter den grünen Laubmassen hoch emporragen, dann tauchten Pferde und Wagen in diese ein; noch ein paar Minuten lang ging es auf einem sanft geschlungenen, tiefschattigen Wege aufwärts, dann hatten sie die Waldburg auf der Rückseite erreicht , gerade an jenem runden Turme, von dem das junge Mädchen vorhin gesprochen. Mit einem unaussprechlich wehmütigen Gefühle drückte sie ihre gefalteten Hände vor die Brust. Da war auch zu ihrer Rechten der große Garten mit seinen weißen Marmorfiguren, dort sogar die Bank, vor der Kolma gestanden; in der Ferne erhob sich der dichte Wald, durch den Erich damals geflohen war aber bei allem Schmerze, der die Seele des jungen Mädchens erfüllte, bei aller zärtlichen Erinnerung an Erich und auch an Kolma erschien ihr jetzt, wo Schloß und Garten in dem blendenden Tageslichte vor ihr lagen, wo das glänzende Sonnenlicht auf den prachtvollen Blumenbeeten strahlte, wo es die Marmorfiguren goldig anhauchte, wo es auf den kleineren und größeren Fontainen, die, man erblickte, Millionen von Brillanten hervorzauberte erschien ihr heute, jene Nacht wie ein unheimlicher Traum, aus welchem erwacht sie sich fast getröstet fühlte beim Anblicke dieser heiteren, lachenden Umgebung, die sich, Glück verheißend vor ihren Blicken aufthat; ja, sie vermochte es über sich, jetzt mit einem milderen, weicheren Schmerze an den unglücklichen Erich zu denken, da sie, ihre glänzenden Augen zu dem tiefblauen Himmel des herrlichen Frühlingstages erhebend, wie betend vor sich hinflüsterte: »Ach, die Welt ist zu schön, um nicht glücklich in ihr zu sein, und der sie erschaffen, zu gerecht, um nicht auch für dich, mein armer, teurer Freund, zu sorgen!« Da rollte der leichte Wagen auch an jener Thür in dem langgestreckten Seitengebäude vorüber, wo Erich festgehalten worden war; doch hatte Blanda nicht die Zeit, aufs neue ihren Träumereien nachzuhängen, denn der Doktor hielt jetzt seine raschen Pferde an, und zwar am Fuße eines runden Turmes, ähnlich dem anderen am Ende der Schloßgebäude, und da hier sogleich ein Diener erschien, so warf er diesem die Zügel zu, faßte den Arm des jungen Mädchens und geleitete es eine breite und sehr bequeme Wendeltreppe hinauf, welche sich im Turme befand und oben auf einen langen Korridor führte. Dicke Teppiche dämpften hier den Schritt der Gehenden, und während hohe Bogenfenster zuweilen einen Blick auf den großen Garten erlaubten, waren die Zwischenräume sowie die gegenüberliegende Wand mit unzähligen Kupferstichen, Jagddarstellungen, abwechselnd mit Rehkronen, verziert, während sich oben eine fast unabsehbare Reihe großer, stattlicher Hirschgeweihe befand.

Jetzt erreichte Blanda mit ihrem Begleiter ein kleines Vorzimmer am Ende des Ganges und trat von diesem in ein größeres Gemach, wo sie der Doktor sanft auf einen Sitz in der tiefen Fensternische führte und sie bat, hier seine Zurückkunft zu erwarten.

Er blieb aber so lange aus, daß es Blanda in dem weiten Gemache beinahe unheimlich geworden wäre, wenn nicht gerade das Alleinsein hier und die tiefe Stille, welche sie umgab, beruhigend, fast erheiternd auf ihr Gemüt gewirkt hätte. Auch war der Blick von hier aus in die Landschaft über alle Beschreibung großartig und schön: im Vordergrunde dichter Wald, dessen riesige Buchen und Eichen sanft einen Abhang hinabstiegen, hinter dem sich das Thal öffnete, um eine entzückende Fernsicht auf eine weite Ebene sowie auf fernliegende tiefblaue Berge zu bieten. Waren dies vielleicht auch dieselben, deren Ausläufer sie gestern Nacht mit Erich überschritten?« Sie wußte es nicht, sandte aber dennoch träumerische Grüße der innigsten Liebe dorthin, die, von der Kraft ihrer Gedanken getragen, wohl den Weg an sein Herz zu finden vermochten.

»Das hat etwas lange gedauert,« sagte Doktor Burbus, mit lächelndem Gesichte näher tretend; »es war aber auch für mich keine Kleinigkeit, aus dem, was Sie mir heute morgen so herzlich lieb erzählt, passende Bruchstücke herauszunehmen und passend aneinander zu reihen. Kommen Sie jetzt, Fräulein Blanda, die Gräfin Seefeld ist begierig, Sie wiederzusehen.«

Zwar nicht ängstlich, aber doch mit klopfendem Herzen folgte das junge Mädchen durch eine Reihe großer und schöner Gemächer, alle so still und feierlich, daß die langsame Bewegung der mächtigen Laubmassen hier und da vor den hohen Fenstern schon eine angenehme Abwechslung bot; dann kamen sie auf ein breites, prächtiges Vestibül, in das eine riesige, doppelläufige Treppe mündete, und erst nachdem sie diesen großen Vorplatz überschritten, gelangten sie zu den Gemächern der Gräfin Seefeld und zuletzt in das kleine Boudoir derselben, mit hellen, freundlichen Wänden und zierlichen Möbeln, von einer einzigen kolossalen Fensterscheibe erhellt, welche einen Blick auf die hoch emporsprühende Fontaine des beträchtlich tiefer liegenden Schloßparkes gewährte.

Dort, an diesem Fenster, stand Gräfin Isabella, über deren immer noch auffallend schöne Züge die Jahre, welche zwischen jenem Manövertage und heute lagen, doch nicht ganz spurlos vorübergegangen waren jene Jahre eines so einsamen und abgeschlossenen, um nicht zu sagen, freudelosen Lebens, allerdings in Glanz und Herrlichkeit, aber an der Seite des Herrn Christian Kurt, wie wir ihn in früheren Kapiteln dieses Buches kennen gelernt haben. Die Gräfin hielt beim Eintritte Blandas einen Gegenstand in der Hand, den sie aufmerksam betrachtete, dann auf ein Tischchen an ihrer Seite legte und dem jungen Mädchen mit einem so unverkennbaren Ausdrucke von Wohlwollen, ja, von Liebe entgegen eilte, daß sich die gewaltige Spannung in der Seele Blandas in wohlthätige Thränen auflöste, welche reichlich auf die Hände der schönen Frau flossen; doch hob ihr diese den Kopf sanft in die Höhe, küßte sie auf die helle Stirn, auf die feinen Lippen und schloß sie dann mit einer fast mütterlichen Zärtlichkeit in ihre Arme.

Daneben, in einiger Entfernung stand der Doktor, rieb sich die Hände und schnitt dabei so seltsame Grimassen, daß Gräfin Isabella bei seinem Erblicken, trotzdem auch ihre Augen feucht geworden waren, doch den kleinen Blitz eines ganz leichten Lächelns nicht unterdrücken konnte. Dann sagte sie zu ihm, indem sie ihm die Hand reichte:

»Lassen Sie jetzt Blanda bei mir und suchen Sie Ihren Freund und Kollegen, den Doktor Herbert, auf; wie ich Ihnen schon vorher sagte, lautete sein Bericht heute morgen so günstig, daß das, was geschehen soll, sogleich geschehen muß.«

»Das ist auch meine Ansicht, Frau Gräfin, und da ich in wichtigen Dingen von jeher ein Feind aller Zögerung war, so eile ich, Ihrem Befehle nachzukommen.«

Doktor Burbus verließ rasch das Boudoir, um dann, durch die Gemächer eilend, die Treppe hinabzusteigen und vor dem Schlosse zu einem kleinen Nebengebäude zu gelangen, das in der lieblichen Gestalt eines mit Schlingpflanzen dicht umwachsenen Cottage dicht an dem großen Garten lag. Hier war die Wohnung des jovialen Leibarztes Sr. Erlaucht des Herrn Grafen Christian Kurt und der Doktor selbst eben im Begriffe, den Sattel eines prachtvollen englischen Jagdpferdes zu verlassen, mit dem er eine Streiferei durch den taufrischen, herrlichen Frühlingsmorgen gemacht.

»Botanisiert, he?« rief ihm Burbus schon von weitem entgegen, worauf der andere erwiderte:

»Allerdings, aber nicht in so schöner Gesellschaft, wie Ihr, Kollega; meint Ihr, ich hätte Euch vor einer Stunde in Eurem offenen Wagen nicht bemerkt, das Schloß sachte umkreisend? Ja, lieber Freund, mir und meinem guten Glase entgeht nichts!«

»Vortrefflich, wenn Ihr die junge Dame an meiner Seite bemerkt habt und Euch dadurch, was begreiflich ist, für sie interessiert; denn dieser jungen Dame wegen,« setzte der Doktor Burbus dicht herantretend, hinzu, »wollen wir eine wichtige Beratung halten.«

»Doch keine Konsultation nach dem medizinischen Begriffe dieses Wortes; dazu sind wir beide doch ein paar zu kluge und gescheite Leute.«

»Gewiß, und haben beide keine Lust, uns wie jene Auguren heimlich lachend anzuschauen.«

»So kommt mit mir hinauf, Kollega, und nehmt an meinem frugalen Frühstück teil.«

»Nachher mit Vergnügen; vorher aber tretet mit mir dort in die schattige Lindenallee und wählet Euch einen soliden Stamm als Stütze, damit Ihr nicht umfallt aus Erstaunen über das, was ich Euch mitzuteilen habe.«

Nun brachte die geflügelte Erzählung des Doktors Burbus, wenn auch gerade nicht die eben befürchtete Wirkung auf den Doktor Herbert hervor, so doch eine solche, daß er zuerst sprachlos seinen Kollegen anstarrte, dann einen kleinen Freudensprung that, wobei er zu gleicher Zeit mit den Fingern ein schallendes Schnippchen schlug und heiter lachend die Frage stellte: »Aber unser junger Gönner, Graf Dagobert Seefeld?«

»Wird dadurch gerade nicht so außerordentlich berührt, daß es fühlbar für ihn ist; das große Majorat bleibt ihm ja doch nach dem Tode des Herrn Christian Kurt.«

»Aber die Waldburg,« jubelte der Doktor, »die Waldburg, diese herrliche Besitzung, diese Welt im kleinen, gehört ebensowenig zum großen Majorat wie zum Wittum der Gräfin Isabella! Der alte Herr hat das gegenüber seinen Erben, vielleicht auch gegenüber der Frau Gräfin, recht schlau einzurichten gewußt.«

»Und wie befindet er sich heute morgen?«

»Ganz leidlich, ja, außerordentlich gut, wie überhaupt seit jener Zeit, wo Ihr mir ins Gehege kamt, Kollega, und die Liebe zu seinem besten Freunde erschüttertet.«

»Zu seinem Bette?«

»Ja,« rief Doktor Herbert lachend; »er hat mich nach seinem Frühstücke zu einer Partie Billard kommandiert, damit er sich vor seiner Siesta eine Bewegung mache dabei könnt Ihr assistieren.«

»Vielleicht und nach seiner Siesta, wo er seine frischeste und auch bestgelaunteste Stunde hat, könnten wir ihn einen Blick in die Vergangenheit thun lassen. Doch habe ich dabei ein Bedenken: glaubt Ihr nicht, Kollega, daß ihn diese plötzliche Entdeckung zu sehr erschüttern könnte?«

»Unbesorgt; es ist eigentümlich, wie oft der alte Herr von einem seltsamen Vorfalle spricht, den ich Euch früher schon einmal erzählte, wo er vor Jahren zu jener lustigen Manöverzeit während des Banketts in der großen Halle allein am Kamine saß, als in der Vorhalle das Zigeunervolk tanzte. Ich glaubte damals, Herr Christian Kurt sei eingenickt, obgleich er mit vollem Rechte, wie ich durch Euch erfahren das Gegenteil behauptete und mir die Versicherung gab, er habe ein Wesen, das ihm in den Tagen seiner glücklichen Jugend das Teuerste gewesen und auch stets das Teuerste geblieben sei, leibhaftig vor sich gesehen, am Kamine stehend und jene Melodie singend, die heute noch beruhigender auf ihn wirkt, als Morphium, Narzin, Haschisch und ähnliche Teufeleien miteinander.«

» Mironton, mironton, mirantaine,« sagte der Doktor und er hatte ein liebliches Wesen, jener glücklichen Jugendzeit entstammt, wirklich vor sich gesehen.«

»Und jetzt zu unserem Frühstück, für welches ich eine Flasche extra bestellen will!« rief Doktor Herbert lustig, um gleich darauf, sehr ernst werdend, hinzuzusetzen: »Alle Teufel, da fallen mir einige Konsidenzen ein, die mir Graf Dagobert, seine gestrige Nachtfahrt betreffend, gemacht!«

Burbus' Gesicht umdüsterte sich, als er hierauf rasch fragte: »Und welcher Art waren diese Konsidenzen?«

»An sich sehr unschuldiger Art; er versuchte es nicht einmal, mir gegenüber zu renommieren, was ihm auch bei seiner tiefen Wunde am Arme schlecht genug bekommen wäre. Doch fühlte ich aus seinen Reden heraus, daß jene junge Dame einen merkwürdigen Eindruck auf ihn gemacht haben muß.«

»Wenn Ihr das Fräulein sehet, werdet Ihr es sehr begreiflich finden.«

»Glaub's; aber wenn er darauf und auf anderes hin die wahnsinnige Idee faßte, sie heiraten zu wollen?«

»Das wäre allerdings das Schlimmste, was ich mir denken könnte!« erwiderte Doktor Burbus in sehr bekümmertem Tone.

»Na, kommt Zeit, kommt Rat; darin würde sie auch ein Wort mitzureden haben, und wie Ihr mir das Fräulein geschildert, scheint sie keine Natur zu sein, welche Lust hat, Nachfolgerin zu werden in dem schon viel geplagten Herzen des edlen Grafen Dagobert. Vorderhand und für einige Tage sind wir seiner los; er liegt mit einem ziemlichen Wundfieber im Bette. Doch mußte ich gewaltsam in ihn hineinsprechen, denn er hatte schon ein Pferd befohlen, um nach Königsbronn hinüber zu reiten.«

»Ueberlassen wir das denn in Gottes Namen der Zukunft...«

»Und stärken wir uns in unserem schönen Vorhaben durch eine kühle Flasche Champagner,« sagte lustig Doktor Herbert, als er mit seinem Freunde in das schattige Speisezimmer des kleinen Hauses trat.

Der Herr Graf Christian Kurt, welcher, dank den immer sorgfältiger werdenden Bemühungen seines vortrefflichen Kammerdieners Ben, jetzt, wo er angezogen, frisiert und gemalt war, nicht viel älter aussah, als vor einigen Jahren, hatte mit großem Behagen ein paar Partien Billard gegen den Doktor Herbert gewonnen und war in die fröhlichste Laune geraten, da dieser, allerdings mit einiger Affektation, seinen Unmut darüber nicht zu verbergen vermochte; auch hatte Graf Seefeld den Doktor Burbus, der dabei gewesen war, zum Zeugen aufgerufen, daß er Herbert gegenüber durchaus nicht vom Glücke begünstigt gewesen sei, sondern alles seiner Geschicklichkeit zu verdanken habe, und dabei lachend gesagt: »Das schmerzt ihn ganz außerordentlich, wenn man ihm, eine seiner nobeln Passionen anbelangend, einmal scharf durch die Parade haut; ja, wenn es seine sogenannte Wissenschaft, die Medizin, betrifft, da nimmt er den Nachweis über einen faux pas allergnädigst und leutselig auf drolliger Mensch, der Herbert! Na, behüt Sie der Himmel, Doktor Burbus, hoffe, Sie bald wiederzusehen!«

Hierauf trat Herr Christian Kurt für ein paar Minuten an das breite Bogenfenster, wo er fast die gleiche Aussicht hatte, wie sie vorhin Blanda auf dem andern Flügel des Schlosses bewundert. Dicht vor dem Fenster, den Abhang hinunter riesenhafte Buchen, deren Gipfel trotz ihrer enormen Höhe doch eben nur bis an das Fenster reichten, einen herrlich grünen, angenehm duftenden, leicht hin und her wogenden Vordergrund bildend, über den hinaus man das langgestreckte Thal mit den schimmernden Schlangenwindungen des Flusses scheinbar bis zu den fernen, blauen Bergen sah. Eine kurze Weile blickte der alte Graf Seefeld nachdenklich dort hinaus, dann versenkte er seine träumerischen Blicke in das leise Gewoge der Blättermassen vor dem Fenster, um hierauf mit einem Ausdrucke der Ermüdung, ja, einem leichten Gähnen nach dem Hintergrunde des Gemaches zu gehen, wo der Kammerdiener Ben schon neben einem äußerst bequemen Lehnstuhle stand, auf welchen Herr Christian Kurt sich nun niederließ, und alsdann von dem vortrefflichsten aller Kammerdiener die Füße, nachdem diese auf einem niedrigen Schemel in eine bequeme Lage gebracht worden waren, bis zu den Knieen mit einer weichen, gesteppten seidenen Decke wohl verwahrt wurden.

»Ist Renaud draußen?«

»Jawohl, Erlaucht.«

»So laß ihn für einen Augenblick herein kommen.«

Der Sekretär, Herr Renaud, erschien hierauf in seiner geräuschlosen und doch so sicheren Art, aufzutreten, mit behaglichem, ja, mildem Gesichtsausdrucke, wobei man keinen Zug bemerkte, der auch nur im entferntesten hätte andeuten können, daß der Geschäftsmann irgend etwas Wichtiges oder auch nur mehr als ganz Alltägliches vorzutragen gehabt hätte. Dazu wäre auch jetzt, kurz vor der Siesta Sr. Erlaucht, der Zeitpunkt nicht gut gewählt gewesen; höchstens konnte jetzt etwas in Erinnerung gebracht werden, was Herr Christian Kurt in seinen Gedanken behaglich weiter ausspinnen konnte, um aus solchen Träumereien in einen wohlthuenden Schlaf überzugehen. Aus diesem Grunde nur klang auch jetzt die Stimme des Herrn Renaud ganz anders, weicher, leiser, als wenn er am Morgen vor dem Aufstehen Sr. Erlaucht seinen großen, streng geschäftlichen Bericht zu machen hatte.

»Haben wir etwas Neues, mein lieber Renaud? Mit Dagobert soll es ja ganz leidlich gehen, wie mir Doktor Herbert sagte; allerdings etwas Wundfieber, doch unbedeutend. Soll sich recht pflegen und ausruhen, was ihm überhaupt bei solch fortgesetztem Lebenswandel nicht schaden könnte ja, die Jugend, die Jugend will nie verstehen, daß sie auf solche Art von dem kostbarsten Kapital, dem der Kraft und Gesundheit, zehrt, statt sich mit den reichlichen Zinsen, die eine kräftige Konstitution bietet, zu begnügen! Apropos, mein Lieber, ich bin sehr begierig, recht bald etwas zu erfahren, wo er sich seine Wunde am Arme geholt; Sie versprachen mir darüber eine genaue und, wenn ich nicht irre, pikante Mitteilung.«

»Morgen hoffe ich, Ew. Erlaucht etwas darüber sagen zu können.« »Schön,« sagte Christian Kurt schläfrig, »und was das Verhältnis anbelangt, welches er mit der Tochter meines alten Freundes Haller angeknüpft, so habe ich durchaus nichts dagegen einzuwenden sehr im Gegenteil, ich bin entzückt von dem Gedanken, die Tochter meines lieben Freundes als Nichte zu begrüßen!«

»Erlaucht werden mir verzeihen,« antwortete Herr Renaud mit seinem mildesten Lächeln, »die Gräfin Haller, um die es sich handelt, ist doch wohl die Enkelin von dem Freunde Ew. Erlaucht, von Sr. Excellenz dem Herrn General Grafen Haller?«

» Sacre bleu, darin haben Sie recht! Teufel, man wird alt, lieber Renaud, man überspringt da in Gedanken auf die leichtsinnigste Art ganze Generationen und nimmt die Enkelin für die Tochter die des alten Generals wäre allerdings eine zu reife Schönheit für Dagobert, aber die kleine Haller soll eine schöne Person sein. Was sagt man, Renaud?«

»Wollen mir Ew. Erlaucht einen etwas vulgären Ausdruck gestatten?«

»Immer zu, unter vier Augen gestatte ich allerlei.«

»Wie ich aus eigener Anschauung weiß, ist die Gräfin Klothilde von blendender Schönheit, aber wie ich aus zuverlässiger Quelle erfuhr, soll sie ein heftiger, wilder, eigensinniger, ausgelassener Sprühteufel sein.«

»Sehr gut, mein lieber Renaud,« antwortete Herr Christian Kurt mit einem äußerst behaglichen Gesichtsausdruck, »das ist die richtige Mischung für Dagobert; so eine Frau würde ein wahrer Segen für ihn sein, die fest auf ihrem eigenen Kopfe beharrt und sich nicht unterkriegen läßt. Nach Ihrer Schilderung hat sie was von so einer verteufelten Französin an sich. O, ich habe solche Weiber gekannt, die einem die Thür vor der Nase zuschließen und erst aufmachen, nachdem man sie auf den Knieen um Verzeihung gebeten! So eine wäre der richtige Kappzaum für unseren guten Dagobert! Ich danke Ihnen für diese angenehme Mitteilung!« »Mit dem Vermögen der Haller ist es, wie Ew. Erlaucht wissen, nicht weit her.«

»Schadet nichts, mein Lieber; auch ohne die Waldburg mit ihrem kolossalen Güterkomplexe erhält er später einmal mehr als genug nur muß man dafür sorgen,« fuhr Herr Christian Kurt fort, nachdem er eine längere Pause dazu benutzt, eifrig und herzlich in sich hinein zu lachen, »daß die arme kleine Person für alle Fälle sicher gestellt wird glänzend sicher gestellt wird, und für alle erdenklichen Fälle notieren Sie das genau, obgleich auch ich es gewiß nicht vergessen werde. Haben wir heute jemand bei Tische?«

»Ich glaube nicht, Erlaucht.«

»Sagen Sie der Gräfin, es wäre mir lieb, wenn sie den Doktor Burbus veranlassen könnte, da zu bleiben. Mein alter Freund hat in seinen derben Reden und gescheiten Bemerkungen stets etwas Anregendes für mich.«

Dann nickte Herr Christian Kurt mit dem Kopfe, und Herr Renaud verschwand so ohne jegliches Geräusch, als wäre er durch irgend einen unsichtbaren Mechanismus oder wie ein Schatten dem Zimmer entschwebt.

Die kleine Unterredung schien für den alten Grafen von einer behaglichen, recht beruhigenden Wirkung gewesen zu sein. Ein freundliches Lächeln flog noch ein paarmal über seine Züge, dann ließ er den Kopf auf die Brust sinken und entschlief, worauf Ben, der nur auf diesen Augenblick gewartet hatte, einen grünen Vorhang, nicht weit vom Lehnstuhle, sanft herabgleiten ließ.

Ueber eine volle Stunde mochte Herr Christian Kurt geschlafen haben, und so tief und ruhig, daß kaum ein leichtes Traumbild an seiner Seele vorüber geglitten war; nur einmal, und zwar gegen das Ende seines Schlummers, war derselbe von einer lieblichen Erinnerung unterbrochen worden, welche wie die Melodie eines ihm bekannten und teuren Liedes vor seinem inneren Auge elfenhaft erschienen war:

Mironton, mironton, mirontaine –

alte, süße, längst verblichene Bilder hervorzaubernd. Mironton

Aber mit welcher Kraft in Gestalt und Farbe erschienen ihm diese Bilder heute wieder einmal!

Mironton

Seltsam, er konnte aus dem Schlafe erwachen, die Augen öffnen, ohne das liebliche Bild, welches vor seiner Seele stand, zu verscheuchen.

Mirontaine

Höchst sonderbar und eigentümlich oder war es kein Traum, was ihn in längst vergangene Zeiten zurückgeführt hatte? Wachte er in der That, wenn er jetzt, die Augen weit und starr geöffnet, vor sich hinblickte und sah, was er sah hörte, was er hörte?

Mironton, mironton, mirontaine.

Unmöglich oder ein leichter Schauer überflog ihn hatte er vielleicht den Schlaf mit dessen düsterem Zwillingsbruder vertauscht war er im Schlafe entschlafen und wurde er nun wunderbar begnadigt durch jene himmlische Erscheinung da, vor ihm am Fenster lehnte die Gestalt des Wesens, das er mit aller Glut der Jugend geliebt lehnte die feine, schlanke Gestalt des einst so geliebten Weibes ja, sie war es sie war es selbst; nicht nur ihre unvergeßlich rührende Gestalt, auch die lieblichen, edlen Züge, das dichte, blonde, lockige Haar ihr seelenvolles Auge

Und er träumte ja nicht mehr, auch war er nicht gestorben, denn er befand sich ja in seinem Zimmer auf der Waldburg ratlos, sich nach Möglichkeit vergeblich zwingend, das Unmögliche zu glauben. Er preßte die Hände ein paar Sekunden lang vor das Gesicht, fürchtend, er habe doch geträumt aber als er wieder nach der lieblichen Erscheinung blickte, stand diese nicht nur an derselben Stelle, sondern bewegte sich wandte sich langsam um bewegte sich gegen ihn sie selbst, ihr Gang, ihr Wuchs, die Haltung ihres schönen Körpers, ihr liebes, unvergeßliches Gesicht

»Mary o, meine Mary!«

Er streckte ihr seine Arme entgegen, und wenn ihn auch ein leicht begreifliches Bangen durchzitterte, als sie ihm nun näher und näher kam, so war es doch ein glückliches Bangen, so lag doch für ihn ein Gefühl unaussprechlicher Seligkeit in dem Gedanken, von dieser lieblichen Erscheinung berührt, das Ende seines langen Lebens zu erreichen. Wie freudig aber durchzuckte es ihn, als er nun fühlte, daß sich lebenswarme Hände in die seinigen legten, daß ihn nach einem tiefen Atemzuge aus ihrer zarten, schwellenden Brust der lebendige Hauch ihres Mundes berührt, daß es ein körperhaftes Wesen sei, welches nun neben ihm auf dem Boden niederglitt, und ihn mit wohlbekannten, lieblichen Zügen, mit unvergessenen, schönen klaren Augen sanft lächelnd anblickte.

»Mary, Mary, rede zu mir! Bedenke, daß die Freude mich töten kann!«

»Ich heiße Blanda,« sagte das junge Mädchen mit einem Klange in der Stimme, der ihn erbeben machte »ich heiße Blanda, nicht Mary, wie meine Mutter.«

»Und wer war deine Mutter?« brachte er mühsam hervor. »War sie es denn sie o, unmöglich sage, wer war deine Mutter?«

»Sie nannten sie Mistreß Mary Price damals, als sie noch lebte.«

»O, Mary, Mary, meine Tochter Mary!« rief der alte Mann, indem er seine zitternden Hände auf Blandas Haupt legte und dazu gen Himmel schaute, wobei seine Züge einen unaussprechlich edlen Ausdruck annahmen, seine Augen wie in Verklärung leuchteten. »O, Mary, so war ich deiner und meiner Tochter nahe, ohne sie selbst auffinden zu können, so sollte ich nie begnadigt werden, deine und meine geliebte Tochter wiederzusehen, um jetzt in den Zügen meiner Enkelin dein unvergeßliches Bild wiederzufinden!«

Rasch senkte er jetzt den Kopf auf Blanda nieder, und sie empor an sein Herz ziehend, sagte er mit rührend ängstlicher Stimme: »Niemand hat ein Recht auf dich, als nur ich allein nicht wahr? Sage mir das versprich mir das Niemand hat ein Recht, dich von mir zurückzuverlangen!«

»Niemand, niemand; meine arme Mutter ist tot, und auch mein Vater, den ich nie gekannt!«

»Es ist besser so,« sagte er nach einem tiefen, schmerzlichen Atemzuge; das alles mußte vorüberziehen, untergehen, wie ein schweres, düsteres Gewölk, aus dem du, mein geliebtes Kind, nun wie ein heller Stern emporstrahlst o, ein lieblicher Stern, sanft und tröstend, meine letzten Tage erhellend Blanda ist dein Name?«

»Blanda.«

»Und wie nennst du mich?« fragte er hastig, dringend während seine Augen eigentümlich glänzten, indem er ihr die blonden Locken aus der schönen Stirn strich. »Wer bin ich dir, ich, der Vater deiner Mutter?«

»Mein Großvater, mein lieber Großvater!« »Und ich will das sein im vollsten und schönsten Umfange des Wortes!« rief Herr Christian Kurt mit glücklich strahlenden Augen, indem er einen solchen Riß an der Klingelschnur that, daß Ben, ganz gegen seine Gewohnheit, hörbar die Thür öffnete und eintrat. »Sage meiner Frau,« rief er dem Kammerdiener zu, »ich lasse sie bitten, einen Augenblick zu mir herüber zu kommen, denn ich fühle, daß es mir fast unmöglich ist, jetzt zu ihr zu gehen; es liegt mir seltsam schwer in allen Gliedern.«

»Ihre Erlaucht sind nebenan in der Bibliothek mit dem Herrn Doktor Burbus.«

»Desto besser, so bitte sie, einzutreten.«

Die Gräfin Isabella näherte sich rasch dem Stuhle, auf dem Herr Christian Kurt saß, und als sie sanft beide Hände Blandas ergriff, sie in ihre Arme zog und herzlich küßte, sah man die Wahrheit ihrer Empfindung an dem unverkennbar glücklichen Ausdrucke ihres Gesichtes.

Der Doktor Burbus aber stand da mit gerunzelter Stirn, die buschigen Augenbrauen finster zusammengezogen, wie er gern zu thun pflegte, wenn er fühlte und fürchtete, daß ihn die Rührung übermanne. Er hielt ein Paket Papiere in der rechten Hand und klopfte mit den Fingern der linken darauf, als sei es noch besonders nötig, dadurch die Aufmerksamkeit des Herrn Christian Kurt auf seine Person zu lenken. Doch hatte ihn dieser bereits ins Auge gefaßt und sagte lachend:

» Sacre bleu, Doktor, in Ihrem Gesichte zeigt sich wieder einmal die ganze Widerhaarigkeit Ihres Charakters; statt, wie wir alle hier, Ben mit einbegriffen, vor Glückseligkeit zu strahlen oder mir zuliebe eine Gavotte zu versuchen, machen Sie ein Gesicht, daß man sich vor Ihnen fürchten sollte was gibt's denn?«

»Geschäfte, Herr Graf,« antwortete der andere barsch und mit rauhem Tone, »und ich würde es mir als eine Gnade ausbitten, wenn Sie trotz alledem und alledem ein paar Minuten für mich übrig hätten.«

»Geschäfte jetzt? Doktor, gehen Sie zum Henker mit Ihren Geschäften, oder meinetwegen zu Renaud, und lassen mich ungeschoren ich will ja alles bewilligen, was Sie wollen! Brauchen Sie Geld für eine neue Schule, für eine baufällige Kirche oder für ein Kinderspital? Recht gern, soviel Sie wollen, je mehr, desto besser; aber Geschäfte mit mir jetzt!« setzte er mit einem innigen Blicke auf Blanda hinzu.

»Aber Geschäfte, die gerade Sie betreffen; wenn wir uns auch alle überglücklich fühlen, daß die Stimme des Blutes so rückhaltlos und wahr gesprochen, so bringe ich doch auch noch andere Beweise.«

»Er läßt mich nicht los,« klagte Herr Christian Kurt »nun denn, ich gebe Ihnen fünf Minuten!«

»Braucht nicht so lange,« erwiderte der Doktor rauh, nachdem Gräfin Isabella mit Blanda an das Fenster getreten war und dort ihre Arme um das schöne Mädchen schlingend, in die von der Abendsonne herrlich beleuchtete Gegend hinausblickte. » Dies ist das Paket, Herr Graf, welches vor Jahren auf so unbegreifliche Art verloren ging; fragen Sie mich aber nicht, wie und auf welche Art es in meine Hände gelangte. Auch werden Sie wohl jetzt keine Lust haben, sämtliche Papiere und Tagebuchblätter durchzulesen?«

»Nein, nein, aber das Bild anschauen will ich hier ist es; haben Sie je eine größere Aehnlichkeit gesehen?«

»Nein!« sagte der Doktor barsch.

»Dieselben süßen, seelenvollen Augen, nicht wahr?«

»Ja,« erwiderte Burbus noch barscher.

»Und die edle Form des Kopfes, die feinen Lippen ist da ein Zweifel möglich?«

»Nein, nein, tausendmal nein!« rief der andere rauher und barscher wie er bisher gesprochen. »Sie bezeigen Ihre Freude in einem seltsamen Tone, oder o, Sie alter Heuchler!«

Herr Christian Kurt sprach, aufblickend, diese letzten Worte mit einem so unverkennbaren Schluchzen, von dem man nicht wußte, ob es ihm die Freude seines Herzens auspreßte, oder ob er dazu verleitet wurde durch die dicken Thränentropfen, welche trotz des grimmigen Gesichtsausdruckes über die Wangen des Doktor Burbus herabflossen.

Das war ein Ereignis auf der sonst so stillen und beziehungsweise ereignislosen Waldburg – ein Ereignis, das, so wollte es Herr Christian Kurt, sämtlichen Bewohnern des Schlosses auf die offiziellste Weise kund gethan wurde, allerdings mit einigen Modifikationen für die verschiedenen Schichten dieser Bewohner, und während man in dem vertraulichen Kreise der gräflichen Familie selbst dem glücklichen Zufalle sein Recht angedeihen ließ, wußte man in den unteren Regionen ganz genau, daß das gnädige Fräulein sich schon seit Jahren als solches, als Enkelin des Herrn Christian Kurt, als eine der reichsten Erbinnen des Landes in dem adeligen Damenstifte der Residenz befunden hatte.

Und wie waren alle, auch die letztgenannten unteren Regionen, mit dieser neuen Herrin zufrieden! War es doch, als sei hier eine neue Sonne aufgegangen, die merkwürdig belebend auf den alten Grafen Seefeld einwirkte, die das Herz der Gräfin Isabella mit einer innigen mütterlichen Zärtlichkeit für Blanda erwärmte, die sogar den allvermögenden Herrn Renaud förmlich in den Schatten stellte und welche in den stillen Räumen des Schlosses überall ein neues, heiteres Leben aufblühen ließ.

Besonders befand sich das Stalldepartement in einer fieberhaften Aufregung, da Herr Christian Kurt selbst, oder auch zuweilen die Gräfin oder Doktor Burbus halbe Tage unterwegs waren, um Blanda mit der prachtvollen Umgebung der Waldburg bekannt zu machen. Dabei waren alle entzückt und begeistert von dem Verstande und der Liebenswürdigkeit Blandas, deren Erziehung auch in Wissenschaften und Sprachkenntnissen eine vollendete genannt werden konnte, worauf die Gräfin Isabella sehr viel gab; Herr Christian Kurt etwas weniger, welcher aber in den nächsten Tagen um so entzückter war, als die schöne Blanda seinen Wagen auf einem der schönsten Reitpferde der Gräfin Isabella begleitete und sich dabei als eine vollendete Reiterin zeigte.

Ja, der Stallmeister Seiner Erlaucht, ein alter, mürrischer Herr, war bis auf diesen Augenblick mit Beweisen seiner vollkommensten Hochachtung etwas zurückhaltend gewesen; heute aber, als er sah, wie das gnädige Fräulein im Sattel saß, wie sie die Zügel führte, wie sie auf dem nicht ganz leicht zu reitenden, edlen Pferde der Frau Gräfin zum Schloßhofe hinaussprengte, da machte er den Hut in der Hand drei tiefe Bücklinge. Graf Dagobert Seefeld hatte sich auf die klügste Art in die neue Veränderung gefunden; seine Wunde hatte ihm während einiger Tage vollkommen Zeit gelassen, über sein zukünftiges Betragen nachzudenken, und als er zum erstenmale der schönen Cousine seinen Glückwunsch darbrachte, wobei er hervorhob, daß sich eigentlich das gräflich Seefeldsche Haus so wie er selbst nur zu gratulieren habe, that er das wohl in der ehrerbietigsten Form, jedoch nicht, ohne, allerdings auf sehr zarte Art, in verwandtschaftlicher Vertraulichkeit und heiter lächelnd früherer Tage zu gedenken, wobei er sich bei Vorfällen, die er zu vergessen wünschte, mit der Stimme des Blutes zu entschuldigen versuchte. Blanda war gewandt und unbefangen genug, darüber ebenfalls lächelnd hinwegzugehen, wobei sie es bei ähnlichen Gelegenheiten ganz vortrefflich verstand, den Vetter Dagobert in jeder Hinsicht von sich ab in den gehörigen Schranken zu halten.

Was ihr alles durch die zärtliche Liebe des Großvaters zu teil wurde, nahm sie mit innigstem Danke auf und erwiderte es durch Anhänglichkeit und herzliche Liebe gegen Herrn Christian Kurt, sowie Gräfin Isabella. Der alte Graf hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er in den nächsten Tagen Bestimmungen treffen werde, um die Waldburg mit den dazu gehörigen Gütern als Erbe seiner Enkelin zu erklären, wogegen weder Gräfin Isabella noch Graf Dagobert etwas einwenden konnten oder wollten. Als aber bei den Beratungen über diesen Punkt Herr Christian Kurt im Beisein Blandas von seinem Entschlüsse sprach, der Enkelin statt des Namens, der für ihn immer einen unangenehmen Klang gehabt, den des altadeligen Hauses der Grafen Seefeld-Waldburg beilegen zu lassen, bat das junge Mädchen schüchtern, aber bestimmt, ihr nicht auf diese Art das einzige Erbteil zu rauben, was sie ihrer armen Mutter zu verdanken habe, eine Bitte, und so rührend vorgebracht, die dem alten Grafen Seefeld zu Herzen ging und ihn veranlaßte, diese Angelegenheit wenigstens vorläufig oder doch in Blandas Gegenwart fallen zu lassen.

Wenn Gräfin Blanda, wie sie trotzdem vom ganzen Hause genannt wurde, sich auch in kurzem hier heimisch fühlte, wenn es sie auch glücklich machte, sowohl von Gräfin Isabella, besonders von Herrn Christian Kurt mit Zärtlichkeit und Liebe behandelt zu werden, und wenn sie zum Danke dafür meistens ein heiteres und glückliches Gesicht zeigte, so gab es doch auch wieder Stunden des Alleinseins für sie, wo man hätte sehen können, daß der Ausdruck von Glück und Zufriedenheit auf ihrem schönen Gesichte häufig nur eine Maske war, hinter der sich ernste, traurige Gedanken schmerzlicher Erinnerungen oft nur sehr mühsam verbargen. Konnte das auch anders sein bei der innigen Liebe, mit der sie des unglücklichen Erich gedachte, von welchem ihr zuverlässiger Freund, der Doktor Burbus, ihr, und zwar vorderhand nur durch spärliche Nachrichten, die er durch Dagobert Seefeld erhalten, etwas mitgeteilt hatte! War doch der alte Doktor der Einzige, mit dem sie über Erich reden konnte, weshalb sie sich auch so glücklich fühlte, wenn es ihr, wie häufig, vergönnt war, mit dem alten Herrn durch Feld und Wald zu streifen!

Ja, dieser kannte das Gesprächsthema, welches sie dann augenblicklich anzuschlagen pflegte, so genau, daß er meistens lächelnd ein Uebereinkommen mit ihr traf und sich zu einer halben oder ganzen Zeitstunde verstand, in welcher er geduldig ihre Klagen und Befürchtungen anhören wollte, um dann aber etwas Vernünftiges mit ihr zu reden.

»Pfui, Doktor, wie herzlos Sie sein können!« »Durchaus nicht; ich habe Ihnen schon unzählige Male wiederholt, daß alles, was möglich ist, für Erich geschehen wird. Warum aber wollen Sie sich immer wieder selbst so tief betrüben, indem Sie stets diese traurige Angelegenheit wieder durchsprechen? Gewiß, beruhigen Sie sich, Fräulein Blanda Burbus allein nannte sie niemals Gräfin wenn sich auch Ihre Stellung zu unserem armen jungen Freunde vollkommen verändert hat, verändert haben muß, so ist, neben dem großen Interesse, das ich wegen Erichs selbst an seinem Schicksale nehme, auch die herzliche Teilnahme, die Sie, und mit vollem Rechte, für ihn empfinden, Grund genug für mich und alle, sich seiner aufs wärmste und aufs nachdrücklichste anzunehmen. Ja, hätte Graf Dagobert in jener Nacht nicht so rasch gehandelt, hätte er gewußt, was er jetzt weiß, so würde man alles zur vollen Zufriedenheit haben abmachen können!«

»Alles?«

»Alles, was thunlich und vernünftig ist.«

Darauf hatte sie ihn mit ihren großen, glänzenden Augen angeschaut, ohne weiter ein Wort zu sagen.

Schon ein paarmal hatte Blanda den Wunsch ausgedrückt, die Wohnung des Doktor Burbus, die Königsbronner Mühle, zu sehen, was man um so begreiflicher fand, da Burbus nach dem letzten Ereignisse noch mehr als ein treuer und bewährter Freund betrachtet wurde. Auch hatte sich selbst Dagobert Seefeld angeboten, sie zu Pferde dorthin zu begleiten, was aber mit ihren Wünschen nicht übereinzustimmen schien, denn sie ließ die Sache fallen, um ein paar Tage danach dem Doktor Burbus das Versprechen abzunötigen, sie selbst in seinem kleinen, leichten Wagen, und zwar durch den Wald, nach der Mühle zu führen. Auch dagegen hatte niemand etwas einzuwenden, und so gingen denn die beiden an einem prächtig sonnigen Morgen Burbus war allein in der Absicht gekommen, um die junge Dame abzuholen Arm in Arm durch die langen Gänge des Schlosses und zwar genau denselben Weg, den sie bei ihrer Ankunft hierher mit dem Doktor gemacht, durch die hohen Gemächer, in deren letztem Blanda in der tiefen Fensternische gewartet und träumend auf die dicht belaubten Bäume geschaut, deren Blättermassen auch heute wieder langsam hin und her wogten, dann durch die lange Galerie mit den Reh- und Hirschgeweihen, die Wendeltreppe des Turmes hinab, wo sie drunten, von einigen Stallleuten gehalten, den Wagen des Doktors fanden.

»Steigen Sie zuerst ein, Doktor,« sagte das junge Mädchen lächelnd.

»Wozu das, meine Gnädige?« »Weil ich Sie führen möchte und so imstande bin, meinen eigenen Weg zu machen. Mißtrauen Sie mir?«

»Was Ihre Kunst der Führung anbelangt, durchaus nicht; aber über den Weg selbst könnten wir vielleicht uneinig werden.«

»Möglich, weshalb ich selbst Zügel und Peitsche nehme.«

»Wissen Sie wohl, Doktor,« sagte Blanda in einem traurigen Tone, als sie bei den langen Wirtschaftsgebäuden vorüberfuhren, »daß ich mir vorgestern das Zimmer hier öffnen ließ, wo man Erich in jener Nacht gefangen hielt?«

»War ebenso unnötig, Teuerste, als daß Sie jetzt schon wieder mit diesem Erich anfangen.«

»Ich fürchte, Sie werden heute Geduld mit mir haben müssen.«

»Gut, so will ich Ihnen dann in Gottes Namen wieder eine halbe Stunde bewilligen, um über ihn zu reden, sogar drei Viertelstunden, wenn Sie mir erlauben, Ihnen keine Antwort zu geben.«

»Heute, da ich Sie führe, nehme ich durchaus keine Bedingungen an; ich werde fragen, was ich will, und Sie werden so freundlich sein, mir zu antworten.«

»Eine schöne Führung!« rief der Doktor, indem er Miene machte, in die Zügel zu greifen. »Sie führen mich in den Schloßgarten hinein sacre bleu! würde Herr Christian Kurt sagen, wenn er das sähe.«

»Aber er sieht es nicht, und ich will nun einmal diesen Weg fahren!«

»Wozu denn?«

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir eine Frage beantworten wollen,« gab Blanda nach einer kleinen Pause zur Antwort, während sie die raschen Pferde genau auf der Stelle aufhielt, wo an jenem Abend Kolma mit dem Grafen Dagobert gesprochen hatte. »Sie sind ja ein Mann, der alles weiß, auch ein Sternkundiger so geben Sie mir genau die Richtung an, wo im Spätherbste der herrlich strahlende Orion zu sehen ist.« »Wissen Sie was, Fräulein Blanda, geben Sie mir die Zügel, es ist besser so.«

»Nicht um die Welt! Wo stand an jenem Abend der Orion?«

»Nun denn dort, wo am Walde die Gruppe riesenhafter Tannen steht,« murmelte er in einem etwas affektiert unwilligen Tone, wobei er sich aber trotz allem dem nichts enthalten konnte, heimlich einen Blick des innigsten Wohlgefallens auf die prächtige Gestalt und das schöne, edle, entschlossene Gesicht des jungen Mädchens zu werfen, das in gleichgültigem Tone sagte:

»So wollen wir uns dorthin einen Weg suchen.« Damit ließ sie den ungeduldigen Pferden die Zügel schießen, die nun in kurzem Galopp den breiten Weg hinaufflogen gegen ein Ausgangsthor, das ein rasch herbeigeeilter Gärtner öffnete. »So,« sagte Blanda, »nun sind wir in dem schönen, schönen Walde, und ich glaube, daß dieser Waldweg so ziemlich dieselbe Richtung hat, die ich mir nun einmal vorgenommen habe, und daß er auch nach der Königsbronner Mühle führt nicht wahr, Doktor?«

»Alle Wege führen nach Rom.«

»Schön; nun werde ich Ihre Pferde ein bißchen laufen lassen.«

»Aber mit Schonung der Achse meines leichten Wagens.«

»Sie brauchen mir nur etwas Tröstliches über Erich zu sagen, so fahre ich langsamer.«

Da das aber der Doktor Burbus nicht sogleich that, so ließ Blanda die Pferde laufen, wobei sie lächelnd auf ihren Nachbar schaute, der manchen mißtrauischen Blick gegen Wurzeln und Baumstämme sandte, die ihm in allzu verdächtige Nähe mit den sausenden Rädern zu kommen schienen. Doch führte Blanda die Pferde sicher und gewandt und hatte dabei noch Muße genug, nach tiefen, wohlthuenden Atemzügen in den herrlich beleuchteten Wald zu blicken, in das wunderbare Gemisch der hellen und dunkeln Blätter und Nadeln, der zitternden, spielenden Sonnenstrahlen, die hier schlanke Stämme liebkosten, dort mit farbigen Blumen buhlten, ja, trübe Wasserlachen hell aufleuchten ließen. Jetzt blickte der Doktor besorgt dem Wagen voraus, denn er wußte, daß sie nun bald an die tiefe Schlucht kämen, welche die Seefeldschen Güter von seinem Besitztum trennten und wo früher die alte Linde mit dem trotzigen Z T gestanden hatte, und da er die einzige Bedingung nicht vergessen hatte, unter welcher ihm Blanda versprochen hatte, langsamer zu fahren, so sagte er: »Hier an dem kleinen Weiher ist die Stelle, wo Erich damals von dem gräflichen Förster gefaßt und fortgeschleppt wurde.«

Augenblicklich standen die Pferde, und zwar so rasch, daß sie, wie verwundert über dieses plötzliche Anhalten, heftig mit den Köpfen schüttelten.

»Aaaah hier!« sagte Blanda. »Wie eigentümlich, daß jener Vorfall, der so schreckliche Folgen für ihn hätte haben können, doch beziehungsweise noch so glücklich endete! Das arme, kleine Zigeunermädchen fand dadurch Gelegenheit, ihn wieder zu sehen und etwas für ihn thun zu können.«

»Ob das auch späterhin bedeutend zu seinem Glücke beitrug, wollen wir dahingestellt sein lassen,« gab der Doktor in trockenem Tone zur Antwort.

»Sie sind heute in einer bösen Laune.«

»Die sich vielleicht bessern kann, wenn wir, ohne etwas gebrochen zu haben, glücklich die Tiefe erreichen, in welcher die Königsbronner Mühle nun einmal die Untugend hat, zu liegen. Ich zweifle aber daran, wenn Sie so fortfahren, Gnädigste, denn von hier aus ist der Weg steil und ziemlich schlecht.«

»So wollen wir vernünftig fahren und plaudern. Welchen Weg soll ich nehmen?«

»Den, der sich hier scharf rechts wendet und der um die Schlucht herumführt. So, und nun halten Sie die Pferde ein bißchen kürzer, dann brauchen wir keinen Radschuh einzulegen.«

»Wie kam Erich nach jener Nacht zu Ihnen?«

»Natürlich zu Fuß und ziemlich müde und zerzaust.«

»Erzählte er Ihnen alles ausführlich und sprach er auch von mir?«

»Er sprach von einer jungen, schönen Zigeunerin mit dunkelschwarzem Haar und leuchtenden Augen, die sich seiner aufs herzlichste angenommen.«

Blanda hob die Peitsche und machte eine Bewegung, als wollte sie die mühsam aufhaltenden Pferde damit berühren; doch faßte der Doktor rasch ihre Hand, indem er lachend sagte:

»Nur keine Kindereien, Gnädigste; soviel ich mich erinnere, sprach er auch noch von einem armen, kleinen Mädchen, mit blassem, eingefallenem Gesichte und großen, gespenstischen Augen.«

»Und sprach in herzlichem Tone von ihr?«

»Meinetwegen, ja.«

»Wie er immer von ihr sprechen, ihrer immer gedenken wird, herzlich und in treuer Liebe; gerade so, wie jenes Mädchen auch von ihm denkt und ewig an ihn denken wird. Vergessen Sie das nicht, mein lieber, guter Freund,« fuhr sie in einem Tone tiefer Empfindung fort »vergessen Sie das nicht und glauben Sie mir, daß, wenn ich je fürchten müßte, es könne zwischen uns beiden, zwischen Erich und mir, anders werden, es mir lieber wäre, dort unten zerschmettert, tot im Abgrunde zu liegen!« »Vorderhand wollen wir darüber nicht weiter reden,« gab der Doktor nach einer Pause zur Antwort, während welcher er ihre ruhigen, entschlossenen Züge kopfschüttelnd betrachtet. »Fahren Sie jetzt noch die kleine, steilste Strecke mit großer Behutsamkeit, wenn ich bitten darf später....« Da unten auf ebenem Wege, dachte er am Schlusse seines Satzes, oder wenn wir uns auf glattem Zimmer wohlbefinden, will ich dir deinen jetzigen Standpunkt doch einmal klar zu machen versuchen.

Da lag die Mühle vor ihnen

In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebster ist verschwunden,
Der dort gewohnet hat!

flüsterte Blanda mit so innigem Ausdrucke, daß es den Doktor Burbus gerührt haben würde, wenn er sich nicht Mühe gegeben hätte, dieses Gefühl zu unterdrücken und in lustigem Tons fortzufahren:

Er hat mir Treu' versprochen,
Gab mir 'nen Ring dabei,
Er hat die Treu' gebrochen.
Das Ringlein sprang entzwei!

»Ja lassen Sie jetzt nur die Pferde laufen, so rasch Sie wollen,« setzte er lächelnd hinzu, indem er mit Behagen auf den hier so ebenen und glatten Weg blickte; »ich habe nicht einmal Angst, daß Sie in den Mühlkanal hineinfahren. Denn sehen Sie wohl, wie die vernünftigen Tiere gegen das Haus hinschwenken, wo sie sogleich halten werden Brrrr ja, so ist's recht!«

Heiter sprang er alsdann vom Wagen herab und half auch Blanda aussteigen und führte sie ins Haus, wo die junge Dame von den beiden jüngeren Söhnen des Hauses, Gottfried und Friedrich letzterer war indessen zu einem langen, jungen Menschen herangewachsen aufs herzlichste bewillkommt wurde. Die älteste Tochter, Rosine, war nicht mehr im Hause, indem sie den jahrelangen Bewerbungen des königlichen Oberförsters, der bei Zwingenberg in einem kleinen Jagdschlosse hauste, endlich doch noch nachgegeben hatte. Johannes ließ sich für heute ebenfalls nicht sehen, da er gerade in den Mühlgebäuden kräftig mit Hand anlegte, um eine Maschine neuester Konstruktion zusammensetzen zu helfen. Dafür aber war Jungfer Lene sichtbar und ließ es sich nicht nehmen, die junge, schöne Dame aufs herzlichste zu bewillkommnen, wobei sie in einem fort knickte und dem alten Doktor zuflüsterte: »Ich habe es heute morgen dem Gottfried und dem Friedrich gesagt, daß uns etwas absonderlich Angenehmes bevorstände, denn mir hat heute nacht von einem Wegweiser geträumt, auf dem eine weiße Taube saß, und das bedeutet allemal eine freudige und ehrenvolle Begegnung. Ach, gnädige Gräfin, wie mich das glücklich macht, Sie endlich einmal bei uns zu sehen!«

Blanda reichte ihr freundlich die Hand, und dann führte der Doktor sie in die oberen Zimmer, mußte ihr aber das ganze Haus zeigen, vor allen Dingen die blaue Stube, wo Erich damals gewohnt. Doch hielt sie sich auch hier nicht lange auf, sondern es trieb sie ruhelos bald da- und bald dorthin; jetzt betrachtete sie flüchtig die Bilder an den Wänden, um sich alsdann für ein paar Sekunden in den großen Lehnstuhl des Hausherrn niederzulassen und gleich darauf wieder zur Weiterfahrt zu drängen. »Es soll das ja nur ein ganz kleiner und kurzer Besuch heute sein, Doktor, nur ein rascher Blick auf Orte, die mir wert und teuer sind; ich werde später noch so oft kommen und so lange bleiben, daß Sie meiner noch am Ende überdrüssig werden.«

»So fahren wir natürlich auf einem anderen und besseren Wege nach der Waldburg zurück.«

»Nicht sogleich, lieber Herr Doktor!« bat Blanda schmeichelnd. »Nicht wahr, Sie thun mir heute den Gefallen und zeigen mir auch das Dorf Zwingenberg? Ich möchte das zum erstenmale allein in Ihrer Gesellschaft sehen.«

»Meinetwegen denn, aber nur unter einer Bedingung: daß ich selbst meine Pferde führe und daß ich reden kann, was mir gut deucht.«

»Das sind harte Bedingungen, aber ich muß mich denselben sowie Ihnen, lieber Doktor, auf Gnade und Ungnade unterwerfen.«

»Woran Sie am klügsten thun,« antwortete der alte Herr mit einem ausnahmsweise sehr ernsten Tone, nachdem er an der Seite Blandas Platz genommen und die Pferde auf der breiten Landstraße dahintraben ließ. »Sie wissen ganz genau, wie gut ich es mit Ihnen und auch mit dem anderen meine; aber Sie werden ebensogut verstehen, daß Verhältnisse wohl imstande sind und unter Umständen imstande sein müssen, unsere Ansichten vollkommen zu ändern.«

»So denken Sie für Erich nicht mehr so gut und freundschaftlich wie früher?« fragte sie in einem erschrockenen Tone. »So wollen Sie sich des Unglücklichen, der genug für mich leidet, nicht aufs wärmste und nachdrücklichste annehmen? O, wie schlecht wäre das!«

»Nur zu, nur zu,« erwiderte der Doktor mit seinem eigentümlich schalkhaften Lächeln; »ich kann mir das alles sagen lassen jetzt, wo ich wieder Peitsche und Zügel in der Hand habe.«

»Wie ungroßmütig, Doktor! Sagen Sie mir ein freundlicheres Wort, oder ich springe zum Wagen hinaus und lasse Sie allein fahren!«

»Ein vernünftiges will ich Ihnen allerdings sagen, was jenen jungen Menschen anbelangt, und dann möchte ich aber wünschen, daß Sie endlich einmal aufhörten, ihn in Ihren Gedanken, ja, in Ihren Reden stets mit sich in Verbindung zu bringen.«

»Ich will hören.«

»Zuerst soll alles geschehen, um ihn aus seiner jetzigen, allerdings trostlosen Lage zu befreien, und zu dem Zwecke werde ich selbst in den nächsten Tagen den Herrn Grafen Dagobert Seefeld nach der Residenz begleiten, versehen mit gewichtigen Briefen des Herrn Christian Kurt, wodurch es uns hoffentlich gelingen wird, Milderung seiner Strafe, vielleicht Begnadigung für ihn zu erlangen; letzteres am Ende unter der Bedingung, daß man ihm genügende Mittel gibt, um nach Amerika auszuwandern und sich dort eine neue Existenz zu gründen.«

»Glauben Sie?« fragte Blanda in einer eigentümlich kurz und scharf abgestoßenen Weise.

»Es wird sich nicht anders machen lassen, obgleich es mir gewissermaßen recht leid für ihn thut, denn ich hatte andere Plane mit diesem talentvollen jungen Menschen, ganz gewiß. Ich hätte ihn damals gern bei mir behalten und würde es auch gethan haben, wenn seine unbezwingliche Lust für den Militärstand nicht gewesen wäre. Ihm das auszureden, war unmöglich; er mußte selbst zur Erkenntnis kommen, daß es viel besser sei, sich auf andere Art eine ehrenvolle Existenz zu gründen, allerdings auch mit dem Eisen in der Hand, aber mit dem Eisen in Gestalt einer Pflugschar oder eines Jagdgewehrs. Ah, das ist ein ganz anderes Leben, als auf Kommando rechts und linksum zu machen oder um etwas zu erlernen, das unsere unschuldigen Nebenmenschen auf die rascheste Art ins Jenseits spediert! Zu dieser Erkenntnis war er denn gekommen, da wurde ihm und uns ein garstiger Strich durch die Rechnung gemacht.«

»Durch meine Schuld.«

»Wie man's nimmt; es war eben sein Schicksal, dem ja niemand entlaufen kann.«

»Und wenn mildernde Umstände für ihn aufzufinden wären, die seine Begnadigung ohne jene Verbannung möglich machten?«

»Hm,« ließ sich der Doktor Burbus vernehmen, indem er verstohlen einen Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens warf, »dann wäre ich doch noch immer für Amerika.«

»Ja ja,« erwiderte sie träumerisch, »es könnte auch auf diese Art gehen hier oder dort.«

»Dürfte ich mir über diese Worte eine Erklärung ausbitten?«

»Sie steht Ihnen mit Vergnügen zu Diensten. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich Erich liebe, und füge hinzu, daß ich ihm das mit einem teuren Eide geschworen.«

»Pah neulich, als Sie heimatlos waren, ohne Familie!«

»Daß ich ihm versprochen, ihn nie zu verlassen, was er mir ebenfalls versprach, und wenn ich auch nicht überzeugt wäre, er werde sein Wort halten, so würde ich dennoch mein Versprechen erfüllen. Sie hören, daß ich ganz ruhig zu Ihnen rede, Doktor, ohne Leidenschaft, und das mag Ihnen beweisen, daß ich es mit der ruhigsten Ueberlegung thue.«

»Die Ueberlegung eines jungen, exaltierten dankbaren Gemütes ich kenne das und weiß ebenso genau, daß Sie mit der Zeit schon zur Erkenntnis kommen werden, was Sie Ihrer neuen Stellung schuldig sind Sie, jetzt eine Gräfin Seefeld!«

»Das bin ich nicht und will es niemals werden, so wahr mir Gott helfe!«

»Aber Sie sind die Enkelin des Grafen Seefeld.«

»Solange man mir erlaubt, die einfache Blanda Price zu bleiben. Nehmen Sie meine Worte, wie Sie wollen, Sie werden gewiß einen Sinn darin finden, und wenn Sie den gefunden haben und mein treuer Freund und Ratgeber bleiben wollen, so sollen Sie überzeugt werden, daß es eine Eingebung des Himmels war, die mich bestimmte und immer bestimmen wird, zu bleiben, was ich bin, um in einem Falle, der eintreten könnte, leichter Rang, Reichtum und eine hohe Stellung in der Welt wieder zu verlassen, um arm aber glücklich, aufs neue wieder ins Leben hinaus zu wandern.« Sie sagte das mit großer Ruhe und großer Entschlossenheit, die Blicke aufwärts gewandt und zugleich ihre linke Hand wie zum Schwure erhebend.

»Amen!« sprach der Doktor mit leiser Stimme, und wenn er auch ein wenig ernst blickte, so war doch auf seinem Gesichte keine Spur von Mißmut oder gar Zorn zu lesen.

Nach einigen Augenblicken pfiff der Doktor leise vor sich hin und bemerkte dann, mit der Peitsche in die Gegend hinausdeutend: »Dort unten begannen die Manöver am Morgen desselbigen Tages, an dem Sie selbst abends im Bivouac waren.« »Auch von diesem Anfange hat mir Erich erzählt und wie er dort zufällig eine Bekanntschaft gemacht, die stets, wo sie sich erneuerte, ungünstig in sein Leben eingriff. Es war gewiß hier auf dieser Stelle, von wo er damals zuschaute? Dort ist der alte Meilenstein, den er mir beschrieben bitte, Doktor, halten Sie an und lassen mich hier einen Augenblick aussteigen.«

»Zu welchem Zwecke, Gnädigste, da Sie doch von hier oben noch besser in die Landschaft schauen, als dort an dem Steine?«

»Lassen Sie mich immerhin, es wird nicht lange dauern.«

»Wollen Sie etwa dort Ihre Morgenandacht verrichten?« fragte er spöttisch.

»Vielleicht etwas Aehnliches, indem ich mich hier lebhaft eines teuren Freundes erinnere und ihm die Worte wiederhole, die ich vorhin zu Ihnen gesagt.«

»Nun, meinetwegen opfern Sie der Erinnerung, und ich will unterdessen ausspähen, was der Flug der Vögel vielleicht über Ihre Zukunft spricht.«

So leicht und in einem immer noch spöttischen Tone er diese Worte auch hinwarf, so blickte er doch mit Interesse auf das junge Mädchen, das nun neben dem alten, bemoosten Steine stand und nach Zwingenberg hinüberblickte, dessen spitzer Turm dort aus den großen Kastanienbäumen hervorblickte, die Kirche und Pfarrhaus umgaben. Es war kein Gebet, das sie vor sich hinsprach, aber es waren bittende Worte, und als sie am Schlusse ganz leise flüsterte: »Laß ihn und mich glücklich werden, gib mir ein Zeichen!« da leuchtete plötzlich ihr Auge hell und freudig auf, da ihre gesenkten Blicke etwas in einer Fuge des alten Meilensteines glänzen sahen und als sie, sich danach bückend, eine kleine Silbermünze fand, die von den vielen Vorüberwandelnden nie bemerkt worden war und sich gerade ihr so plötzlich, wie ein glückverheißendes Zeichen darzubieten schien, weshalb sie mit großem Interesse das Gepräge und die Zahl des längst vergangenen Jahres betrachtete.

»Nun, was haben Sie in den Lüften gesehen?« fragte Blanda heiter, nachdem sie ihren Sitz neben dem Doktor Burbus wieder eingenommen hatte. »Spricht der Flug der Vögel günstiger für mich, als Ihre vorhin so verdrießliche Miene, die sich glücklicherweise ein bißchen aufgeheitert hat?«

»Es hat sich droben nichts zu Ihren Gunsten gezeigt,« entgegnete er achselzuckend, »und ich fürchte deshalb, Ihre ganze Schwärmerei wird ohne glückliches Resultat bleiben.«

»Und ich bin jetzt mehr als je vom Gegenteil überzeugt,« sagte Blanda, indem sie mit einem Ausdrucke stillen Glückes vor sich hin schaute und dabei unbemerkt mit der Hand jene heimliche Stelle berührte, wo sie die kleine silberne Münze rasch und unbemerkt verwahrt hatte.

»Das da ist Zwingenberg.«

»O ja, ich habe es gleich wieder erkannt! Bitte, lieber Doktor, fahren Sie dort drunten über die kleine Brücke auf die Gemeindewiese; Sie wissen wohl, warum ich jenen Ort gern noch einmal betrachten möchte.«

»Ich kann es mir allenfalls denken; hätte ich aber vor ein paar Stunden gewußt, daß Sie eine so empfindsame Erinnerungsfahrt vor hätten, so würde ich mich schon gehütet haben, Sie zu begleiten.«

»Dort stand mein kleines Zelt; davor loderte ein gewaltiges Feuer, und hier hielt unser kleiner Ponywagen. Wie freute sich der alte Marechal und der gute Zaregg, als sie mich glücklich zurückkommen sahen! Wie unvergeßlich ist mir die herzliche Teilnahme, mit der man mich vom Wagen hob und am Feuer wärmte! Hier stand ich, als Erich von mir Abschied nahm. Das könnte mich alles recht traurig machen, wenn ich nicht von einem glücklichen Wiedersehen überzeugt wäre. Doch vorbei, vorbei!« sagte Blanda nach einer Pause mit ernster, fast trauriger Stimme. »Lassen Sie uns weiterfahren, Doktor, die große weite Fläche hier in dem hellen, glänzenden Sonnenlichte nimmt mir alle meine süßen Erinnerungen. Es war damals viel heimlicher im Dunkel der Nacht, an dem lodernden Feuer oder in meinem kleinen, traulichen Zelte.«

»So sehen wir hier denn Wirklichkeiten, die Ihnen trotz aller Erinnerungen und allem, was Sie darüber gehört, recht prosaisch vorkommen werden,« sagte Doktor Burbus, nachdem sie die winkeligen Gassen des Dorfes erreicht hatten. »Sehen Sie dort jenes Gebäude, welches nicht viel besser aussieht als ein baufälliger Kuhstall; es liegt am Fuße einer malerischen Mistpfütze, in welcher sich ein borstiger Gebieter amüsiert hier waltete, das heißt in dem baufälligen Hause zur Zeit Ihrer süßen Erinnerungen, Herr Erich Freiberg als Schullehrergehilfe.«

»Pfui, Doktor, Sie sind abscheulich!«

»Ich berichte nur die Wahrheit, und wenn Herr Erich Freiberg strebsamer gewesen wäre und dem Herrn Pfarrer wohlgefälliger, so hätte er dasselbe glänzende Ziel erreichen können, wie sein Nachfolger, der dort vor dem neu erbauten Schulhause steht, der auf Empfehlung der Frau Pfarrerin Wendler heiratete und, wie Sie sehen, neben Kindererziehung auch sehr stark in Landwirtschaft macht.«

Wie sie rasch vorbeifuhren, grüßte der Doktor lächelnd mit der Peitsche den Herrn Schullehrer Färber, dessen struppiges Haar immer noch ungebändigt neben seiner kleinen Mütze hervorsah und der in einem alten, abgeschabten Frack und in ausgetretenen Pantoffeln seinem Knechte behilflich war, einen Wagen mit Seele der Landwirtschaft zu beladen.

»Vorbei, vorbei!« sagte Blanda in bittendem Tone.

»Da ist Kirche, Pfarrhaus und Pfarrgarten, welches aber für Sie in keiner Hinsicht etwas Interessantes bietet; alle, die zu jener Zeit hier gehaust, haben mit anderen die Plätze gewechselt, ja einige, wie die Pfarrerin Wendler und ihr Schwiegersohn, dieses irdische Jammerthal mit einem besseren Jenseits. Was aber den Pfarrer anbelangt, der sich hoher Protektion erfreute, so ist er irgendwo Garnisonprediger geworden, und hat seine Tochter Selma dadurch Gelegenheit erhalten, ihre Lebenserfahrungen zu bereichern; denn deren Mann, ein stiller, Dulder, ist gestorben, und muß sie es nun mit dem Witwenstande probieren. Doch sind das gleichgültige unverständliche Dinge für Sie, die ich auch gerade nur hier erwähne, weil sie mir beim Anblicke des Pfarrgartens ins Gedächtnis kommen, und rufe ich nun, wie Sie es soeben thaten: Vorbei, vorbei! und wollen wir dieses Buch nicht immer angenehmer Erinnerungen ein für allemal hinter uns zuklappen lassen.«

Auf einem besseren Wege und deshalb in weit kürzerer Zeit erreichten sie die Waldburg wieder, wo sich Doktor Burbus, nachdem er Blanda ins Schloß begleitet, zu dem Grafen Dagobert Seefeld begab, mit dem er in den nächsten Tagen nach der Residenz reisen sollte.

Der Husarenoffizier saß an seinem Schreibtische, war aber nicht gerade in der rosigsten Laune. »Da soll ich nun,« rief er dem Eintretenden entgegen, »auf Wunsch des Herrn Christian Kurt selbst eine Eingabe an Seine Königliche Majestät machen und um Begnadigung jenes jungen Verbrechers bitten! Ich erscheine allerdings dadurch in strahlendem Lichte fast übermenschlicher Großmut, aber bei so einem Schreiben ist es immer sehr schwer, nicht zu wenig und nicht zu viel zu sagen!«

»Lassen Sie einmal sehen, Graf Dagobert.«

Dieser erhob sich bereitwillig, worauf sich der Doktor vor den Schreibtisch setzte, das Bittschreiben überlas und dann um Erlaubnis bat, etwas Weniges zu ändern. Dieses Wenige, welches ihm bereitwillig zugestanden wurde, bestand aber in einem dicken Striche über die ganze, vollgeschriebene Seite, und dann begann er, auf der zweiten eine neue Bitte aufzusetzen.

Graf Dagobert war, um ihn nicht zu stören, beiseite getreten, hatte sich eine Cigarre angezündet und ging hinter dem Rücken des Schreibenden hin und her, wobei er einen kleinen Gegenstand, den er von einem Tischchen genommen, in der Hand wog und zuweilen in die Höhe warf.

»Nachher will ich Ihnen etwas zeigen, Doktor.«

»Ich bin im Augenblicke fertig o, da haben Sie Ihr Schreiben, wie ich es aufsetzen würde: lesen Sie es durch, und dann machen Sie, was Sie wollen.«

»Sie werden gewiß wieder das Richtige getroffen haben ich danke Ihnen bestens! Aber sehen Sie einmal dieses Ding da.«

»Eine Bleikugel.«

»Ja, und dieselbe, welche mir wahrscheinlich das Lebenslicht ausgeblasen hätte, wenn sie ein paar Zoll weiter links gegangen wäre.«

»Aaaah, das ist dieselbe Kugel, die jener unglückliche Mensch auf Sie geschossen?«

»Dieselbe. Als François am andern Tage meinen Koffer auspackte, fand man sie zwischen der Leinwand, wo sie unter meinen besten Hemden und Schnupftüchern keine schlechte Verheerung angerichtet hatte. Und für einen solch vielfachen Mörder soll ich noch Bittgesuche entwerfen! Das ist wahrhaftig viel von Herrn Christian Kurt verlangt, und ich würde mich auch geweigert haben, wenn mich nicht diese wunderliche Blanda so dringend darum gebeten hätte!« »Dies ist dieselbe Kugel?« fragte der Doktor mit einer eigentümlich klingenden Stimme.

»Dieselbe. Wenn ich nur aus dieser Blanda klug werden könnte! Pah, es wäre Unsinn, zu denken, daß jener unbedeutende junge Mensch einen tiefen Eindruck auf sie gemacht! Aber ich mag thun, was ich will, so bin ich doch nicht imstande, den unangenehmen Eindruck zu verwischen, mit dem die Erinnerung jener Nacht heute noch auf sie einwirkt ich fühle das.«

»Und Ihr Kammerdiener François war dabei, als man diese Kugel in der Wäsche fand?«

»François und Jakob packten aus und zeigten mir sogleich die saubere Bescherung.«

»Sagten Sie mir nicht, Graf Dagobert, der Schuß sei aus einem Terzerol abgefeuert worden?«

»So hörte ich, ich habe das Ding nicht gesehen; aber dem Blei nach muß es von einem ganz verfluchten Kaliber gewesen sein!«

»Würden Sie mir einen Gefallen thun, Graf Dagobert?« fragte der Doktor Burbus in einem Tone, dem man deutlich anhörte, wie er sich Gewalt anthat, um diese Frage ruhig, fast gleichgültig zu stellen.

»Mit Vergnügen.«

»So lassen Sie François und Jakob kommen.«

»Das ist sogleich geschehen; sie sind nebenan mit Einpacken beschäftigt.«

Während Graf Seefeld nach diesen Worten die Thür des Nebenzimmers öffnete und die Diener hereinrief, hatte sich der Doktor rasch auf den Stuhl vor den Schreibtisch geworfen, nahm einen Bogen Papier und schrieb hastig einige Zeilen. Dann reichte er das Blatt dem Grafen, und bei seiner Frage: »Würden Sie das unterschreiben und mit Ihrem Siegel versehen, auch von Ihren beiden Leuten unterschreiben lassen?« bebte seine Stimme vor gewaltiger Aufregung.

»Wenn Ihnen damit ein Gefallen geschieht, recht gern.«

Auf dem Papier standen folgende Worte: »Wir, die Unterzeichneten, bezeugen, daß die unten eingebogene und mit dem gräflich Seefeldschen Wappen eingesiegelte Kugel die gleiche ist, die wir am Morgen des 16. Mai dieses Jahres eingedrungen in dem Wagenkoffer fanden, nachdem sie in der Nacht auf den Grafen Dagobert Seefeld abgeschossen, dessen Arm gestreift und die Vorderwand des Wagens durchbohrt hatte.«

»Was Sie damit wollen, begreife ich nicht recht,« sagte Dagobert Seefeld achselzuckend; »doch ist hier meine Unterschrift, wie Sie gewünscht, und das Einsiegeln können Sie selbst besorgen.«

»Nachdem Sie erlaubt,« entgegnete der Doktor nach einem tiefen, erleichternden Atemzuge, »daß Ihre Leute ebenfalls unterschreiben.«

Als das geschehen war, siegelte der Doktor sorgfältig, wobei seine Finger ein klein wenig zitterten; dann schob er Papier und Kugel in ein großes Couvert, versah auch dieses vor den Augen der anderen mit dem gräflichen Siegel und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Graf, so nehme ich dieses Papier in meine Verwahrung und mit nach der Residenz, wo es, wie ich zu Gott hoffe, Ihr Bittschreiben kräftig unterstützen oder vielleicht ganz unnötig machen soll.«


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