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28. Kapitel

In welchem vom blonden Haar der Genoveva, von Richard Löwenherz und dem treuen Blondel die Rede ist. Ein Kapitel voll zarter Geständnisse, welch letztere aber durch ein Ereignis unterbrochen werden, das die Pension sehr aufregt

Vorhin, als Miß Price das Zimmer der Direktorin verlassen, war sie rasch den Korridor entlang geeilt zur Treppe, die in den oberen Stock führte, mußte aber hier ein paar, und für sie nicht gerade angenehme Augenblicke stehen bleiben, da es nämlich um die Zeit war, daß die jungen Damen der Pension zu ihrer Zerstreuung und Bewegung in den Garten gelassen wurden. Dies pflegte gewöhnlich nach dem Frühstücke zu geschehen, besonders bei zweifelhaftem Wetter wie heute, wo trübe Wolken oder boshafte Windstöße auf Reger oder gar Schnee deuteten.

Das junge Mädchen blieb dicht an dem Treppengeländer stehen, ohne auch nur im geringsten zurückzuweichen, als sie die ersten der Pensionärinnen von oben herabkommen sah und hörte. Manche, besonders unter den älteren, thaten, als sei sie gar nicht da, andere nickten ihr gleichgültig zu, wieder andere freundlich, und wohl der größte Teil der jungen Damen. Einige sprangen auch hinter dem Rücken der vorausschreitenden Lehrerin an sie hin, klopften sie freundlich auf die feinen, weißen Finger oder legten einen Augenblick die Hand auf ihre Schulter; dann flog wohl ein freundliches Lächeln über die sonst so ernsten Züge des jungen Mädchens, ja, sogar zuletzt ein herzlicher Ausdruck, als zum Beschluß die Unterlehrerin Mamsell Stöcke! kam, an deren leicht geröteten Augen man deutlich sah, welch tiefen Eindruck die vorhin gehabte Unterredung auf sie ausgeübt. Hierauf war die Schar der jungen Mädchen im Treppenhause verschwunden und befand sich gleich darauf in dem weiten, schönen Garten, in dem sie sich mit Ballschlagen oder ähnlichen kleinen Spielen beschäftigten.

Miß Price stieg die Treppe vollends hinauf und trat oben in eines der geräumigen Arbeitszimmer, welches für ähnliche Fälle, wie heute, als Strafsaal benutzt wurde, allerdings nur für ganz leichte Vergehen, weshalb denn auch die ganze Strafe darin bestand, daß sich die jungen Damen abgesondert an einen der Tische setzen mußten, um Aufgaben auszuarbeiten oder sich mit Handarbeiten zu beschäftigen. Es befanden sich hier schon drei dieser Unglücklichen, und zwar in drei Ecken des Zimmers, von denen die schwarz gekleidete Waldow mit Briefschreiben beschäftigt war, aber mit häufigen Unterbrechungen, welche darin bestanden, daß sie ihr auf dem Tische befindliches Tuch zuweilen an die Augen drückte. In der Ecke, am entferntesten von ihr, saß die Baronin Welten, mit einer großen Stickerei beschäftigt, die sie zuweilen mit triumphierenden Blicken vor sich ausbreitete, um sich an dem Leuchten der hellen Farben, sowie an dem Glanze der Gold- und Silberperlen zu erfreuen. Diese junge Dame hier schien überhaupt von dem glücklichsten Humor zu sein, und ehe sie nach solchen kleinen Unterbrechungen wieder in ihrer Arbeit fortfuhr, zählte sie vorher die nötigen Stiche genau ab, und that sie das weder leise, noch in gewöhnlicher Art, sondern intonierte irgend eine bekannte Melodie zu den Worten eins, zwei, drei vier, fünf, sechs sieben, acht, neun zehn, elf, zwölf wobei sie es am Schlusse selten unterließ, nach der betrübten Briefschreiberin hinüberzuschauen. Diese Baronin Welten hatte weder ein schönes, noch ausdrucksvolles Gesicht, und alles, was man zu letzterem hätte rechnen können, war ein mokanter Zug um den Mund, sowie ein hochmütiger Blick aus ihren unbedeutenden Augen.

Die dritte im Zimmer, die Gräfin Haller, stand an einem Fenster, hatte beide Arme auf die Stange desselben gestützt, aber durchaus nicht im niederdrückenden Gefühle ihres Zimmerarrestes, wie sie eben auch mit lauter Stimme versicherte, sondern einzig und allein, um den Himmel zu betrachten, der ihr in seiner grauen Alltäglichkeit millionenmal amüsanter erschien, als boshafte Gesichter junger, unbedeutender Personen, selbst wenn diese jungen, unbedeutenden Personen mit den lächerlichsten Ostentationen ihre harlekinartigen Stickereien sehen ließen. »Weißt du,« hatte sie hierauf zur Waldow hinübergerufen, »aus so einem Zimmerarrest werde ich mir gar nichts machen, und wenn er ein halbes Jahr dauerte, nicht soviel« dabei schnippte sie mit den Fingern »aber man müßte dann unter gleichgesinnten Seelen sein, in guter Gesellschaft, und nicht,« fuhr sie in pathetischem Aufschwunge fort, »gefesselt wie der Sklave, an gleicher Kette mit irgend etwas Unausstehlichem!«

Hierauf hatte die Baronin Welten laut und höhnisch gelacht und hätte wahrscheinlich eine scharfe Erwiderung gegeben, wenn nicht in diesem Augenblicke Miß Price in das Zimmer getreten wäre, worauf jene sich damit begnügte, ihr Taschentuch zu ergreifen und sich auf sehr auffallende Art frische Luft zuzufächeln.

»Gut, daß du endlich kommst, Blanda!« rief ihr die Gräfin Haller zu, indem sie ihr rasch ein paar Schritte entgegenging, den Arm um ihren Nacken schlang und sie an das Fenster zog, worauf sie fortfuhr: »Fast wäre ich hier verzweifelt, weil es so gar einsam war! Die arme Waldow ist tief in ihre Schreiberei versunken, und sonst war kein menschliches Wesen im Zimmer.«

Man konnte nicht leicht zwei schönere junge Mädchen sehen, wie diese beiden, die hier beisammen am Fenster standen, und auch nicht leicht einen größeren Gegensatz, als den sie miteinander bildeten.

Miß Price war der vollendetste und reizendste Typus einer Blondine, während die Gräfin Haller in ihrem schwarzen Haar, in ihren tiefdunklen Augen, sowie in ihren raschen leidenschaftlichen Bewegungen und der gleichen Art zu sprechen, südliches Blut repräsentierte; und mit vollem Rechte, da ihre Mutter eine Spanierin war. Auch mochte dieses südliche Blut wohl Ursache sein, daß sie, obgleich kaum sechzehn Jahre alt, schon die vollkommen ausgebildeten Formen einer Achtzehnjährigen hatte. An dem einfach hellgrauen Gewande, wie es die übrigen Pensionärinnen trugen, hatte sie einige Koketterien angebracht, so ein rotes Gürtelband mit lang herabhängenden Enden, an welchen anstatt der Tasche, wie man sie im Alter zu tragen pflegte, ihr zusammengelegtes Taschentuch eingeknöpft hing, während sie ihr schwarzes Haar, mit tiefroten künstlichen Blumen geschmückt, scharf aus der Stirn gestrichen hatte.

»Warst du bei der Inquisition, mein Herz,« fragte sie lachend, »und wie ist mein besonderer Freund, der Großinquisitor Quadde mit dir umgegangen? Wirst du sogleich verbrannt oder vorher noch ein klein wenig gerädert? Das Auditorium,« wandte sie sich mit einer graziösen Verbeugung gegen die Baronin Welten, »ist zu diesem köstlichen Schauspiele eingeladen!«

»Laß das sein, Klothilde,« bat die andere mit leiser Stimme, »warum immer und immer wieder anfangen! Auch weißt du ja, daß sie jedes Wort hinterbringt!«

»Gerade deshalb, und ich kümmere mich gar nichts darum, ob sie mich beim Großinquisitor verklagt nein, ich sage dir,« flüsterte sie leise, »diese Welten ist eine so böse Person, davon kannst du dir gar keinen Begriff machen! Schade, daß du sie gestern nacht so rasch wieder losgelassen!«

»Um Gottes willen, sprich nicht darüber, es ist mir entsetzlich! Ich habe heute keine Idee mehr davon, wie ich dazukam!«

»Gutes Herz, du bist mir nur zuvorgekommen; ich hatte meine Decke schon halb abgeworfen, und wenn ich über sie gekommen wäre, so würde es ihr schlechter gegangen sein! Du weißt gar nicht, mein gutes Kind, welche tief überlegten Bosheiten sie gesagt du hast das alles nicht verstanden!«

»O, manches doch!«

»Auch daß sie dich die natürliche Tochter irgend wessen genannt?

»Das habe ich allerdings nicht verstanden und verstehe es noch nicht.«

»Glaub's wohl, Närrchen wie kannst du auch so etwas verstehen, wenn du keine Bücher liest? O, ich sage dir, das bildet den Geist und schärft das Verständnis! Ach, diese göttlichen Bücher! Allerdings bin ich heute hier als Schlachtopfer dieser Leidenschaft, habe aber den geliebten Gegenstand in meiner Tasche und würde trotz alledem fortfahren zu lesen, wenn dort die Spinne nicht ihr Netz spänne. Ach, und ich hasse die Spinnen,« sagte sie mit lauter Stimme, »ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie! Nur die einzige wundervolle Geschichte solltest du lesen,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, während welcher ihr furchtbarer Haß ebenso rasch wieder verflogen schien, als er gekommen war, »nur die einzige Geschichte, denn es ist mir gerade so, als sähe ich mich selbst in der Geschichte! Als er sie zum erstenmal sah, es war auf der Burg ihres Vaters, stand sie in einem hohen Bogenfenster, von wo hinab sie in die Ebene geschaut, den glänzenden Reitertrupp gesehen, wie er sich heranbewegte, und an dem Klopfen ihres warmen Herzens gefühlt, daß sich hier etwas Bedeutungsvolles nahe, etwas, was tief eingreifen werde in ihr künftiges Leben ungefähr so, aber viel schöner ist es gesagt. Sie hatte eine schlanke, aber doch volle Figur, so wie ich sich mich nur an! auch trug sie ein Gewand von silbergrauer Farbe und hatte in ihrem schwarzen Haare eine einzige dunkelrote Granatblüte. Schau her, mein Herz, ich habe mich gerade so geschmückt wie sie, als der Geliebte zu ihr herantrat, und gestehe, daß die Granatblüten, allerdings künstliche, mir nicht schlecht stehen!«

»O gewiß, liebe Klothilde sehr gut! Aber sage mir, fragte Blanda so leise hingehaucht, daß die andere es kaum verstand, »warum nannte sie mich eine natürliche Tochter? Nun ja, ich glaube, daß ich das bin, so gut wie du es bist.«

»Ich mein Herz? Ah, daß ich nicht wüßte!«

»O ja, gewiß! Ich würde mich schämen, meiner armen Mutter eine unnatürliche Tochter gewesen zu sein o ich habe sie so sehr geliebt, so innig!«

»Ja so, ja so,« erwiderte die Gräfin Haller mit einiger Verwunderung, »ja, auf diese Art hast du recht, mein Herz, auf diese Art bin ich auch eine natürliche Tochter!«

»Gibt es denn noch eine andere Art, das zu sein?«

»Ich glaube fast,« sagte die andere und setzte zurückhaltend hinzu: »doch weiß ich das nicht ganz genau, was das betrifft,« fuhr sie boshaft fort, »solltest du die Welten fragen.«

»Also hat sie mich in einem anderen Sinne eine natürliche Tochter genannt sage mir das, Klothilde, ich bitte dich!«

»Vielleicht hat sich die Welten selbst von ihrer Höhe herab als deine Mutter angesehen und dich, weil du dich sträflich gegen sie vergangen, ihre unnatürliche Tochter genannt.«

»O nein, o nein!«

»Warum denn o nein? Bei der ist alles möglich!«

»O nein, sie wollte etwas anderes damit sagen.«

»Möglich, aber ich weiß nicht, denke nicht mehr daran. Laß uns von etwas anderem reden; ich habe dir etwas mitzuteilen, was mir schon lange auf dem Herzen liegt. Willst du mich aufmerksam anhören?«

»Gewiß, Klothilde, später, gewiß, aber ich muß noch einmal auf das Wort zurückkommen. Ich weiß, daß ich dir vertrauen kann, du bist heftig, aber gut, und was ich dir sagen möchte, steht im Zusammenhange mit jener Bezeichnung.«

»Aus deinem früheren Leben?«

»Ja, aus meinem früheren Leben, aus jener traurigen Zeit, als meine gute, arme, unglückliche Mutter starb. Ich kniete neben ihrem Bette, und die Gräfin Seefeld, die zugegen war, hatte sich über meine Mutter hingebeugt, hatte sie auf die Stirn geküßt und fragte dann: ,Und Sie haben gar keine Beweise dafür, daß Sie nicht die natürliche Tochter Ihres Vaters sind?«'

»Wie sagte sie? Ihres Vaters sind oder Ihres Vaters ist? Das wäre nämlich ein großer Unterschied, da die Gräfin Seefeld im ersten Falle deine Mutter, im zweiten Falle dich gemeint hätte.«

»O, ich weiß es deutlich! Sie fragte: Und Sie haben gar keine Beweise dafür, daß Sie nicht die natürliche Tochter Ihres Vaters sind?«

»Und was antwortete deine Mutter?«

»Sie richtete sich mit ihrer letzten Kraft in die Höhe, hob ihre gefalteten Hände empor und erwiderte: Blanda ist mein Kind und seine rechtmäßige Enkelin Gott weiß es und ich schwöre es Ihnen! Alle Beweise liegen in seiner Hand und der meines Vaters, dem die ewige Gerechtigkeit verzeihen möge, daß er so und nicht anders an uns gehandelt! Es waren fast ihre letzten Worte,« fuhr das junge Mädchen nach einem schmerzlichen Stillschweigen und mit flimmernden Blicken fort; »ich warf mich über sie und küßte den letzten Hauch von ihren Lippen. Aber, nicht wahr, Klothilde, du wiederholst nie jemand, was ich dir hier gesagt?«

»Ich schwöre es dir, mein armes Geschöpf, und bedaure nur,« fuhr sie fort, indem sie schmeichelnd mit ihren beiden Händen das schwere, blonde Haar Blandas streichelte, »daß ich mit daran schuld war, dir diesen Schmerz zu verursachen, indem ich noch einmal die Worte jener dummen Person wiederholte! Doch laß uns jetzt etwas Heiteres plaudern. Komm, setze dich hier auf den Stuhl, und ich lasse mich neben dir auf dieses Bänkchen nieder. Ich kann so heimlicher in dich hineinreden, und dabei haben wir noch das besondere Vergnügen, der da den Rücken zu kehren. Setze dich, mein Herz.«

Blanda that so, und als die Gräfin Haller nun hinter ihr stand, sagte diese, nachdem sie ein paar Sekunden auf ihre Freundin hinabgeschaut: »Was du doch für ein wunderbares Haar hast! Es ist gerade so wie das der Feenkönigin im Märchen oder jener adeligen Jungfrauen, die mit aufgelösten blonden Locken auf milchweißen Zeltern durch die Wälder streifen, gefolgt von Pagen und Dienertroß.«

»Laß mein Haar in Ruh',« bat Blanda lächelnd; »treibst du wieder deine Kindereien?«

»Sei nicht so neidisch, Blanda, und laß mich einen Augenblick deinen weißen Kamm herausziehen.«

»Damit ich später große Mühe habe, mein Haar wieder aufzustecken?«

»Ich helfe dir dabei. Ach, wie das schön ist!« Damit hatte sie am Kopfe ihrer Freundin herumgenestelt, den Kamm entfernt, und nun fiel die wundervolle Fülle prachtvollen, lichtblonden, im edlen Sinne goldig schimmernden Haares über Brust, Schulter und Nacken hinab, sie wie in einen glänzenden Schleier einhüllend.

Daß die Stickerin darüber ein kurzes, höhnisches Lachen nicht unterdrücken konnte, finden wir in ihrer Lage begreiflich. War es doch lächerlich von den beiden jungen Mädchen dort, mit einer solchen Fülle von Haar zu kokettieren ihr gegenüber, die auch darin von der Mutter Natur einigermaßen vernachlässigt worden war! Doch dachten beide gewiß so etwas nicht, schienen überhaupt die Anwesenheit der anderen ganz vergessen zu haben, besonders Klothilde, die auf dem kleinen Bänkchen neben ihrer Freundin hingekauert sah, ihren Arm um deren schlanken Leib gelegt hatte und nun lachend mit dem Kopfe die leuchtenden Haarwellen auseinanderwarf, um sich unter denselben wie unter einer Laube zu verbergen. »Jetzt denke ich mir,« sagte sie heiter, »du seiest die Genoveva und ich der kleine Schmerzenreich« worüber auch Blanda laut lachte und ihr zur Antwort gab: »Von Schmerzenreich hast du durchaus nichts an dir, du, mit deiner ewig heiteren, ja, oft übermütig tollen Laune!«

Ein leichter Seufzer, der allerdings etwas affektiert klang, war vorderhand die ganze Antwort, welche die Gräfin Haller gab, und es dauerte eine gute Weile, ehe sie hinzusetzte: »Ach, das ist alles nur äußerlich, gute Blanda hier in meinem Inneren ist es wirklich oft recht ernst, feierlich, ja schmerzlich erregt!

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Daß ich so traurig bin «

oder:

»Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute «

oder:

»O Herz sei endlich stille.
Was schlägst du so unruh'voll?
Es ist ja des Himmels Wille,
Daß ich dich lassen soll! «

Blanda schaute sie fast erstaunt an, doch da sie das lebhafte Temperament der Freundin kannte, so lächelte sie ein wenig, als sie ihr zur Antwort gab: »Die Frau Direktorin hat recht, daß sie dir für das viele Lesen unnützer Bücher wieder einmal Zimmerarrest gab; aber ich glaube, du kannst es nicht lassen und es nutzt bei dir nicht viel!«

»Es nutzt gar nichts bei mir,« entgegnete Klothilde mit großer Wärme, »im Gegenteil, je mehr sie es mir verbieten, die herrlichen Bücher zu lesen, um so mehr sehne ich mich nach denselben und muß meiner Phantasie Spielraum lassen, deren Inhalt ins Leben zu übersetzen.«

»Ei, talentvolle Übersetzerin, hast du deshalb mein Haar gelöst, um dich unter demselben zu verstecken und mir so auf die heimlichste Art kleine Mitteilungen zu machen?«

Ein schwerer Seufzer, von einem bedeutsamen Kopfnicken unterstützt, wurde als vorläufige Antwort vorausgeschickt, und erst nach einer Pause, während welcher Seufzer und Kopfnicken ihre Wirkung auf das Herz Blandas ausgeübt haben sollten, fuhr die andere fort: »Ach ja, mein Herz, es gibt in diesem Leben Dinge, Sachen, Begebenheiten so süß rätselhaft, so wundervoll anheimelnd, daß sie uns wie ein Traum umfangen, aber wie ein Traum, von welchem wir beim Erwachen nur noch unbestimmte Erinnerungen haben!«

»So laß etwas von diesen unbestimmten Erinnerungen hören, damit ich urteilen kann, was diese bösen Bücher an meiner guten Klothilde alles verschuldet.«

»Ach, die Bücher haben keine Schuld nur eine kleine Geschichte, die ich neulich mit allerhöchster Erlaubnis las, von dem gefangenen König Richard Löwenherz nämlich und dem treuen Blondel, der verkleidet am Turme des Gefängnisses erschien und durch Zeichen und Mienen zu verstehen gab, daß ein treues Herz sich nahe.«

»Darin sehe ich noch durchaus keinen Zusammenhang mit dir, mein Lieb; du bist weder gefangen, wie der König Löwenherz, noch braucht sich dir irgend ein Blondel verkleidet zu nähern.«

»Sei nicht so prosaisch; es ist nur die Lage im allgemeinen, die sich gleicht. Wir sind doch auch hier eingeschlossen, wie verwunschene Prinzessinnen, und werden gehütet von einem Drachen mit einer fürchterlichen Stimme. Sollte deshalb derjenige, der sich uns nähern wollte, nicht ebenfalls gegründete Ursache habe», verkleidet zu kommen?«

»Ja allerdings aber...«

»Bst!« machte Klothilde, indem sie ihren Kopf fester an die Brust der Freundin drückte und ihr von unten herauf in die jetzt ausnahmsweise ernsten Augen schaute; »du verstehst es allerdings nicht, und ich verstehe es auch nicht genau, aber es ist doch ein Zusammenhang da.«

»Womit, mein Herz?«

»Ich weiß es nicht ganz genau,« erwiderte die Gräfin Haller flüsternd, »aber es muß jemand sein, der mich irgendwo gesehen, vielleicht auf dem Spaziergange, oder neulich im Theater, oder bei meiner Tante, als ich dort zum Besuch war, irgend jemand, auf den ich großen Eindruck gemacht...«

»Was ich begreiflich finde; doch sprich weiter, wenn ich dich verstehen soll.«

»Nun, dieser Jemand sucht sich mir unter einer Verkleidung zu nähern.«

»Ach, das ist arg, Klothilde; nimm dich in acht, du weißt, wie streng Frau von Welmer ist.«

»Wenn ich sage: nähern,« fuhr die andere fort, »so will ich damit nicht gesagt haben, daß dieser Jemand sich mir in den Weg stellt, oder daß er gar so unvernünftig wäre, die Hausglocke zu ziehen, um mir einen Brief oder dergleichen zu überreichen, nein, er nähert sich nur auf die zarteste Art, aus weiter Entfernung.«

»Das verstehe ich nicht!«

»Ach, ich habe es anfänglich auch nicht verstanden! Kann ich dir ganz vertrauen, Blanda?«

»Ich denke, daran zweifelst du nicht!«

»O gewiß, ich bin fest davon überzeugt!« fuhr die Gräfin Haller fort, wobei sie ihren Arm fester um den Leib ihrer Freundin schlang. »O, ich weiß, wie sehr man dir vertrauen darf und wie ernsthaft du bist, wie schweigsam, wie verständig! So höre denn! Ich bin überzeugt, daß es jemand aus der Gesellschaft ist, auf dessen Herz ich einen großen Eindruck gemacht. Es könnte auch vielleicht ein junger Künstler sein, die haben oft hohe Ideen, enfin, er kann und will sich mir nicht in seiner gewöhnlichen Gestalt nähern und erscheint mir nun in der Kleidung eines jungen, hübschen Soldaten.«

»Ah, Klothilde, du gehst doch ein bißchen weit!«

»Bst, Genoveva, plage deinen armen Schmerzenreich nicht mit so unmütterlichen Bemerkungen! Ich fürchte mich so schon genug vor deinen ernsten Blicken und ziehe deshalb diese goldenen Bettvorhänge so eng als möglich zusammen, damit wir beide wenigstens von allen Lauschern auswärts abgeschnitten und heimlich bei einander sind, wie zwei Feenkinder im Walde unter einem golddurchwirkten Schleier. O, dein Haar ist so schön, Blanda, und duftet so süß, daß ich dir's gar nicht sagen kann! Laß aber auch dein Herz so liebenswürdig sein und mich ruhig anhören; ich spreche nur allein zu deinem Herzen, du selbst brauchst das gar nicht zu hören. Da droben auf der kleinen Festung, die vor unseren Fenstern liegt, haust der Werwolf, der sich gewiß eines Tages in einen glänzenden Prinzen verwandeln wird.«

»Wenn ich dich recht verstehen soll, mein Herz, so ist es besser, wenn du in ganz gewöhnlichen Redensarten sprichst; gib dir Mühe, ganz prosaisch zu sein, damit ich richtiger urteilen kann.«

»Meinetwegen, aber ohne den Reiz der Poesie wird es dir am Ende alltäglich vorkommen.«

»Desto besser, so kann ich richtiger urteilen.«

»Also es ist häufig da oben auf der kleinen Festung jemand, der sich für mich interessiert; ich habe ihn schon bemerkt, wenn wir zur Promenade auszogen, wenn wir weggingen oder heimkehrten, da stand er oft da droben, hart am Rande der Mauer, hob die Arme gen Himmel, breitete sie auch wohl aus, kurz, machte Bewegungen, die meine Aufmerksamkeit erregen mußten.«

»Und warum gerade die deinige?«

»O, man fühlt sein und genau in gewissen Dingen, meine liebe Blanda! Mir sagte es eine innere Stimme, daß der verkleidete junge Mann auf diese Art die Gefühle seines Herzens ausdrücken wolle, und kurze Zeit nachher wußte ich es ganz genau. Weißt du, vorige Woche, als wir nahe an der Mauer droben vorübergingen, da stand er malerisch an eines der alten Geschütze gelehnt, hatte einen Epheuzweig in der Hand, gerade so, wie ich einen auf meinem Hute trage, und wand ihn sich um das Haupt; das war doch deutlich genug. Ich muß gestehen, daß ich mich ein paarmal recht auffallend vor ihm am Fenster sehen ließ; ich wollte Gewißheit haben.«

»Und die erhieltst du?«

»Ich wage kaum, dir zu gestehen: ja; ich hob mein Taschentuch und er das seinige,«

»Aber das ist arg, Klothilde!«

»Ich weiß es, verzeihe mir, aber ich konnte nicht anders; mein Herz war gerührt von so viel Liebe und Aufopferung! Es ist doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, sich da oben in der garstigen Festung verkleidet aufzuhalten, nur um mich zuweilen zu sehen!«

»Weißt du denn bestimmt, daß er verkleidet ist?«

»Natürlich! Was denkst du, Blanda? Pfui, du glaubst doch nicht, daß ich mich so täuschen könnte? O nein! Er hat auch etwas Bekanntes für mich, etwas angenehm Bekanntes; ich meine immer, er wäre der junge Graf Bleiden oder Baron Pürker, von dem mir meine Tante häufig nicht ohne Beziehung erzählte, die ich beide vor Jahren, allerdings nur flüchtig, sah. Fändest du es nicht reizend, wenn sich einer von ihnen mir auf so zarte Art zu nähern suchte für ein späteres glückliches Wiedersehen?«

»Und warum denn für ein späteres glückliches Wiedersehen? Das verstehe ich wieder nicht. Wie kannst du dich für jemand interessieren und sogleich wieder an Trennung denken?«

»Ach, du liebes Närrchen, darin liegt ja aber der Reiz dieses alltäglichen, langweiligen Lebens scheiden und meiden und wiedersehen! Ach, und die süßen Gefühle, die uns so recht beim Scheiden kommen müssen, wenn wir daran denken, daß wir ihn verloren, und nicht wissen, ob wir ihn wiedersehen werden!

Hangen und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt.
Glücklich allein ist die Seele, die liebt.

Und daß ich an ein dereinstiges glückliches Wiedersehen denke, ist doch so natürlich, mein kleiner Schatz! Denn ebensogut, als ich weiß, daß wir beide hier bei einander sitzen, ebenso sicher ist es auch, daß der junge, hübsche Mann sich droben auf der traurigen Festung aufhält, um hier auf unser Kloster herabzusehen ganz Rolandseck und Nonnenwerth

Bis die Liebliche sich zeigte.

Und er wird so lange herabschauen, bis er Gelegenheit findet, sich mir zu nähern, ach, und ich fühle es an dem bangen Klopfen meines Herzens, daß er diese Gelegenheit finden, eines Tages vor mich hintreten, mir in bebenden Worten seine Liebe gestehen, vielleicht diese Granate aus meinem Haar entwenden und mir alsdann, entfliehend, zurufen wird: Diese Blüte zum Pfande, daß ich dich wiedersehe!«

»Aber Klothilde,« fragte Blanda in fast erschrecktem Tone, »wo hast du all diese Geschichten und Ausdrücke her?«

»Ach, das steht in all den schönen Büchern, in denen ich so gern lese, wenn ich Sonntags bei meiner Tante bin! Da lege ich mich nach Tisch auf den Diwan und lese, lese, bis es dunkel wird. Bekämst du nur einmal Erlaubnis, mich zu begleiten, ich wollte dir so süße Sachen vorlesen, daß dein kleines Herz vor Entzücken schaudern sollte! Jetzt gerade habe ich etwas erwischt, heimlich allerdings, was ja zu schön ist, wo er sich ebenfalls verkleidet der Geliebten naht, um sie aus den unerträglichen Banden zu erlösen. Leider mußte ich vorigen Sonntag gerade am interessantesten Punkte und da aufhören, wo er an der Pforte, deren Schloß er durchgefeilt, mit den Pferden wartet, um sie zu entführen es ist Nacht, am Himmel lagern schwere Gewitterwolken, und durch die alten Föhren, von denen die umherliegenden Hügel bedeckt sind, saust klagend der Wind, falbe Blitze begleitend, während man fernher das Murren des Donners hört da sieht er ihren weißen Schleier durch die Büsche blinken, und gerade da mußte ich aufhören, weil ein langweiliger Besuch kam, der mich sehen wollte doch was hast du, Herz, warum wendest du deinen Kopf zur Seite?«

»Ich horchte.«

»Auf was denn?«

»Eben rollt ein Wagen in den Hof. Hörst du, wie es dröhnt? Freilich ist das nichts, was mich betrifft, o, ich weiß das ganz genau und bin trotzdem immer so kindisch, an einen Besuch zu glauben, der mich zu sehen wünschte.«

»Was geht uns der Wagen an?«

»Es sind zwei, die rasch nacheinander eingefahren sind.«

In diesem Augenblick näherte sich den beiden die schwarz gekleidete Waldow und sagte mit leiser Stimme: »Es sind da eben zwei Wagen in den Hof gefahren, und ich glaube, es wird Ihre Hoheit die Frau Herzogin sein; soeben ist auch die Welten aus dem Zimmer geschlichen, nachdem sie zum Fenster hinausgeschaut, und wird wahrscheinlich zu Fräulein von Quadde hinaufeilen, um sie rasch zu benachrichtigen und sich ein Lob zu verdienen.«

»Mag sie thun, was sie will, die Stickerin!« sagte die Gräfin Haller mit einer unmutigen Bewegung ihrer Schulter. »Was kümmert uns jetzt die ganze Wirtschaft inklusive Herzogin und Quadde? Sind wir doch Gefangene und sitzen, unsichtbar für jedermann, hinter Schloß und Riegel!«

»Da bist du sehr im Irrtume,« erwiderte Blanda ernst, indem sie sich bemühte, ihr Haar aus der Stirn zu streichen, dasselbe zusammenzudrehen und notdürftig wieder aufzuheften; »wir müssen ebenfalls erscheinen. Vielleicht ist man so gnädig, uns nicht als entlassene Gefangene vorzuführen, vielleicht aber auch nimmt man die Gelegenheit wahr, uns, oder auch nur mir allein, recht eindringlich unsere Vergehen vorzuhalten.«

»Uns uns!« rief die Gräfin Haller lustig. »Mir wird es den größten Spaß machen, mich einmal angesichts des ganzen Hofes,« fuhr sie mit Pathos fort, »vor der Herzogin verteidigen zu dürfen!«

»Wenn sie ihre Migräne hat, wäre es gerade kein Spaß. Aber komm, Klothilde, laß uns helfen, Blandas Haar aufzustecken, und so dicht als möglich an den Kopf hin, denn ich kann euch versichern, die Herzogin hat einen wahren Abscheu vor allem schönen und dichten Haar.«

»Weil sie selbst nie welches hatte!« lachte die Gräfin Haller. »Aber trotz alledem wollen wir denn wirklich das Haar Blandas recht fest eindrehen. Adieu, mein süßer, goldener Traum!« rief sie mit liebevoller Herzlichkeit, indem sie einen Teil des Haares ihrer Freundin mit beiden Händen ergriff und an ihre Lippen drückte.

»Macht fort, macht fort,« sagte die Waldow ängstlich, »ich höre Schritte vor der Thür; wenn es Fräulein von Quadde ist, so gibt es neue Vorwürfe!«

Glücklicherweise aber war es nicht die erste Lehrerin des Instituts, die nun unter der Thür des Saales erschien, sondern Mamsell Stöckel mit einem etwas ängstlichen Gesicht.

»Kinder,« sagte sie, »die Frau Herzogin ist gekommen und will die ganze Anstalt besichtigen.«

»O weh, o weh!« sagte die Waldow.

»Sie war ja erst vor acht Tagen da was will sie denn heute schon wieder?« fragte trotzig die Gräfin Haller. »Hat vielleicht Migräne und will sich bei uns zerstreuen doch meinetwegen, was geht das uns an, wir sind Gefangene

Frei in den Lüften ist unsere Bahn,
Wir sind nicht dieser Herzogin unterthan.«

»Das ist recht widersinnig und unvernünftig gesprochen, Gräfin Haller, und wenn Sie sich auch nicht viel daraus machen, ob die Frau Herzogin Ihnen ein Kompliment sagt, so sollten Sie doch an andere denken, zum Beispiel an unsere gute Blanda, und behilflich sein, daß wir ihr Haar rascher in Ordnung bringen! Beschauen Sie sich auch selbst in dem Spiegel wollen Sie mit der Blume im Haar vor Ihrer Hoheit erscheinen?«

»Und warum denn nicht?« fragte die junge energische Person, indem sie ihren Kopf übermütig hoch aufrichtete. »Diese Blume soll da bleiben, oder man müßte sie mir mit Gewalt wegnehmen als ein Kompliment für die Frau Herzogin!«

»Sie sind unverbesserlich!« sagte die gutmütige Stöckel, indem sie sich selbst daran machte, das Haar Blandas, so gut es in der Geschwindigkeit ging, recht dicht um deren Kopf zu befestigen.

»Als ein Kompliment,« wiederholte hartnäckig die Haller, »als einen Beweis, daß die Frau Herzogin niemals unrecht haben kann! Hat sie doch einmal von meiner guten Mutter gesagt, dieselbe sei eine kokette Spanierin, und ich will ihr beweisen, daß der Apfel nicht weit vom Stamme fällt und selbst wenn die Quadde käme oder Madame la directrice in höchst eigener Person, ich würde es doch nicht thun!«

Da tönte es wie tief aus dem Keller herauf ins Zimmer: »Begreiflicherweise steht Mamsell Stöckel hier bei ihrem Liebling und plaudert über unnütze Dinge, während sich das ganze Haus in größter Bewegung befindet! Ei, Mamsell, wollen Sie nicht die Gnade haben und sich vielleicht in die Ankleidezimmer verfügen, damit die jungen Damen so vor der Herzogin erscheinen können, wie es der Anstand und die Ehre des Hauses verlangt!«

»Müssen wir auch erscheinen?« fragte die Haller in einem sehr trockenen Tone, während sie sich dabei bemühte, Blandas Haar zu glätten, eine Beschäftigung, welche wohl schuld war, daß die erste Hauslehrerin ihr ausnahmsweise mit einem finsteren Blicke und in einem Tone antwortete, der gerade so klang, als käme er aus irgend einem düsteren Schachte hervor:

»Unnütze Frage, Gräfin Haller, ob Sie erscheinen müssen nur so nicht!« setzte sie ärgerlich hinzu, indem sie mit dem Zeigefinger auf die Granatblüte in dem tiefschwarzen Haare des schönen Mädchens zeigte, worauf sie sich rasch und heftig gegen die arme Stöckel wandte und ihr zurief: »Statt sich unnötigerweise an dem widerspenstigen Haar der Miß Price aufzuhalten, hätten Sie sich um die Frisur der Gräfin bekümmern sollen und nun rasch, rasch, man versammelt sich im Speisesaal und wird von da in den großen Konversationssaal geführt!«

Damit rauschte sie hinaus, ohne ihrem Liebling, der Gräfin Haller, auch nur einen einzigen freundlichen Blick zu gewähren.

»Ein schlimmes Zeichen,« sagte diese lachend; »wie die Stirn der guten Quadde bewölkt war! Entweder leidet Ihre Hoheit die Frau Herzogin an äußerst starker Migräne, oder Mignon hat den Schnupfen, was letzteres noch schlimmer wäre so, nun kommt, wir sind fertig!«

»Und Ihre Granatblüte im Haare, Gräfin Haller, die nun auf meine Verantwortung geht?« fragte Mamsell Stöckel mit einigem traurigen Lächeln.

Klothilde stampfte heftig mit dem Fuße auf den Boden, dann riß sie die rote Blume aus ihrem Haar.

»Gut, ich gebe nach, Ihnen zuliebe; aber sie soll die kokette Spanierin noch zu sehen kriegen!«


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