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36. Kapitel

Erich, von einer fremden Dame entführt, erneuert eine alte Bekanntschaft und erfährt einiges aus den letzten Tagen des adeligen Damenstiftes.

Erich hatte, nachdem der Wagenschlag geschlossen war und die raschen Pferde davontrabten, wohl die peinlichsten Sekunden seines Lebens verbracht, eine Ewigkeit quälendster Besorgnis in weniger als dem Zeiträume einer Minute zusammengedrängt und deshalb so furchtbar auf ihn einwirkend, daß er mühsam nach Atem rang und überzeugt war, die Dame ihm gegenüber müsse trotz des Lärmens der rollenden Räder das wilde Klopfen seines Herzens vernehmen.

Und hätte sie es nur vernommen! Hätte sie den Plaid entsetzt von ihm herabgerissen und wäre nur der erste fürchterliche Moment der Aufklärung vorüber gewesen! So aber schien die Dame gar keine Ahnung von ihm zu haben, sondern ruhte in der Ecke auf der anderen Seite des Wagens tief im Schatten, und es war um so weniger etwas von ihren Zügen zu erkennen, da sie einen Schleier um ihr Haupt gewickelt hatte. Da jetzt auf einmal schien ihr Blick auf ihn zu fallen; ja, es war, als bemerkte sie jetzt erst mit Erstaunen und Schrecken das unförmliche Plaidpaket sich gegenüber, richtete sich rasch auf, und ihre Hand langte nach der Schnur, die zum Kutscher führte, um diesem und ihrem Bedienten ein Zeichen zu geben.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wo Erich sich entschließen mußte, seine Hülle abzuwerfen, und er that dies so langsam als möglich, wobei er mit der sanftesten Stimme, die ihm zu Gebote stand, ja, in einem flehentlichen Tone die Worte hervorbrachte: »Ach, gnädige Frau, machen Sie um Gottes willen keinen Lärm, ich bin weder ein Dieb, noch ein Räuber, noch sonst etwas Schlimmes dieser Art!« Dabei richtete er sich in die Höhe, um durch Vermittlung eines vorüberhuschenden Lichtstreifens, ausgehend von einem der Gaskandelaber, sein hübsches und nichts weniger als räubermäßiges Gesicht sehen zu lassen. »Ach, gnädige Frau, verzeihen Sie einer kleinen Unbesonnenheit, einer Tollheit, die mir jetzt selbst ganz unerklärlich erscheint!«

Die Dame aber hatte trotz alledem einen kleinen Ausruf des Erstaunens, ja, des Schreckens nicht unterdrücken können; doch machte sie von der Schnur keinen Gebrauch, ließ vielmehr ihre Hand rasch wieder herabsinken und sagte nach einer kleinen, für Erich sehr peinlichen Pause mit leiser Stimme: »Gut, ich will meine Leute nicht rufen, ich will Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, will aber wissen, auf welche Art Sie in meinen Wagen kamen, und ersuche Sie, mir das mit aller Wahrheit zu erzählen. Zuerst aber sagen Sie mir, wer Sie sind.«

»Nur ein Bombardier der reitenden Artillerie, Erich Freiberg.«

»Gut, das sehe ich an Ihrer Uniform,« sagte die Dame nicht ohne einige Bewegung in ihrer Stimme, während sie den Schleier so fest um ihr Gesicht zog, daß der junge Mann ihr gegenüber kaum das Leuchten ihrer Augen sehen konnte.

»Mit zwei Kameraden,« fuhr Erich fort, »war ich auf dem Wege, durch einen derselben in Arrest gebracht zu werden.« »Ah, Herr Bombardier,« warf die Dame leicht hin, »ich hätte am Ende doch besser gethan, meine Leute zu rufen!«

»Gewiß nicht, gnädige Frau! Sie haben allerdings keinen Begriff davon, wie leicht es ist, in Arrest geschickt zu werden, besonders unter meinem Chef, der uns nicht wohl will, und wenn ich je von mir sagen konnte, daß ich auf ungerechte Art in Strafe verfiel, so war dies am heutigen Abend der Fall. Meine Kameraden fühlten das mit mir, und wir alle drei suchten uns bei einem Glase Wein über die bevorstehende dunkle Stunde zu trösten. Daß ich dabei nicht zu viel gethan, davon werden sich die gnädige Frau durch meine ruhigen und wohl überlegten Worte überzeugen.«

»Aber nicht durch Ihre Thaten; denn es geschah doch wohl in einem fast unverzeihlichen Anfluge froher Weinlaune, daß Sie hier meinen Wagen zum Schauplatze derselben machten?«

»Allerdings; aber es sollte nur ein vorübergehender Schauplatz freilich sehr leichtsinniger Thaten sein, was auch meinen Kameraden, die vor mir durch den Wagen stiegen, gelang, während ich, gnädige Frau, durch Ihr plötzliches Erscheinen in dieser allerdings sehr schönen Falle gefangen wurde und nun bitte ich herzlich, lassen Sie die ausgestandene Angst meine Strafe sein, und haben Sie die Gnade, mich zu entlassen, damit ich meine Kameraden wieder finden kann, um sie vielleicht von einem thörichten Schritte abzuhalten!«

»So gern ich auch Ihre Bitte erfüllen möchte, so werden Sie begreifen, daß das im Augenblicke nicht angeht. Ich kann doch nicht mitten in den Straßen der Stadt halten und vor den Augen meiner Leute einen jungen Menschen aussteigen lassen, von dem es ihnen alsdann durchaus nicht glaublich erschiene, daß er sich heimlich in den Wagen geschlichen. Macht es Ihnen denn so großen Kummer, noch eine kurze Weile in meinem Wagen zu fahren?«

Lag etwas im Tone der Stimme, mit welcher die Dame das sagte, oder in der Frage selbst, was Erich eigentümlich bewegte und ihn veranlaßte, schärfer auf den dichten Schleier zu blicken, sowie Erinnerungen wachzurufen, um sich von ihnen sagen zu lassen, ob und wo er früher schon einen ähnlichen Klang wie den dieser Stimme vernommen aber vergebens. Der Schleier war zu dicht, und wenn es ihm auch zuweilen vorkam, als habe er bekannte Töne gehört, so mußte er sich doch gleich darauf gestehen, daß er sich geirrt habe und daß ihm diese schwache, ja, kränkliche und zuweilen von leichtem Husten unterbrochene Stimme gänzlich unbekannt sei.

»Wir werden gleich die Straßen verlassen und vor die Stadt gelangen, wo ich einen Besuch zu machen habe, und so lange werden Sie sich zur Strafe Ihres Leichtsinnes schon noch in meiner Gesellschaft gefallen müssen. Sie kennen wohl die Stadt genau?« fragte sie alsdann rasch, um Dankesworte von Erichs Lippen abzuschneiden, worin er seine Erkenntlichkeit für die gütige Verzeihung eines tollen Streiches aussprach. »Wissen Sie, wo wir sind? Ich sehe hier an meiner Seite etwas wie ein Schloß oder ein Festungswerk was ist es?«

Erich, der sich bis jetzt noch keine Zeit genommen hatte, auf den Weg zu achten, den sie gefahren, neigte sich jetzt so stark er vermochte nach der Seite, wo die Dame saß, und erkannte augenblicklich das Fort Maximilian, welches sich, eine dunkle Masse, von dem hellen Abendhimmel abhob und dessen Namen er nannte.

»Also ist das eine kleine Festung dort oben, vielleicht Ihre Wohnung?«

»O, nein, gnädige Frau, die liegt ganz am entgegengesetzten Ende der Stadt! Dort oben ist nur Festungsartillerie.«

»Aber es muß schön dort oben sein welch freien Blick über den Himmel man dort oben wohl hat ja, wir hier unten schon, nachdem wir die beengten Häuser der Stadt hinter uns gelassen! Betrachten Sie dort diesen prachtvollen Sternenhimmel! Fühlen Sie auch Sympathie für eines jener funkelnden Bilder dort oben? Setzen Sie sich an meine Seite, damit Sie besser sehen können! Ach, wie schön ist das, welche Erinnerungen diese nächtliche Pracht in uns erweckt, angenehme und höchst schmerzliche!« Was die Dame Erich gegenüber mit ihrer sanften, fast zu weich klingenden Stimme sagte, klang in seinem Herzen wider, als dächte er es selbst, ohne es von jemand anderem zu hören. Ja, wie viele Erinnerungen, angenehme und schmerzliche, sah er verkörpert in jenen tausend und aber tausend funkelnden Lichtpunkten dort oben, besonders in dem Bilde des Orion, der mit blitzendem Gürtel, mit Keule und Schwert dort neben dem Fort Maximilian äußerst kennbar unter allen Sternbildern hervor hell an dem dunklen Nachthimmel leuchtete.

Da sagte sie wieder etwas, was er selbst dachte und was er wie im Traume hörte; denn es kam ihm vor, als hätte das, was sie jetzt zu ihm sprach, ihm schon früher jemand mit den ganz gleichen Worten gesagt: »Ja dort glänzt der Orion! Es gibt kein besseres und schöneres Sternbild! Ein gewaltiger Krieger, gewappnet vom Helm bis zur Fußspitze, mit strahlendem Zaubergürtel, und dabei hat er Doppelsterne, glückliche Sterne, aber auch nebelhafte Flecken o, wer sich stets hüten könnte vor den nebelhaften Flecken!«

Sie sagte das mit einem ganz eigentümlichen, melancholischen Tone, weich und doch klingend, fast singend, daß es ihm klang wie ein Wiegenlied und daß er, seine Augen fest auf das Sternbild heftend, schwer und tief atmend an eine Nacht dachte, wo ihn ein schönes, glühendes Weib wie ein kleines Kind in Schlaf gesungen.

»O Kolma Kolma!« Diesen Ruf stieß Erich fast erschreckt aus, als er seine fragenden Blicke von dem gestirnten Himmel ab wieder gegen die Dame gewandt hatte, als er sah, wie diese langsam ihren Schleier zurückwarf und er in ihrem blassen, eingefallenen Gesichte, hauptsächlich aber in den fast noch stärker als früher leuchtenden schönen Augen die Ticzka erkannt hatte. »Kolma, Kolma!«

Sie streckte ihm stumm ihre beiden Hände entgegen, sie lächelte ihm zu, ebenso lieb und herzlich wie damals, und doch war es ein trauriges Lächeln und schnitt ihm tief ins Herz, besonders als sich nun ihre großen, dunklen Augen mit Thränen füllten und als sie, ausrufend: »Erich, mein lieber Erich!« einen schluchzenden Ton tiefen Schmerzes vernehmen ließ. Doch dauerte ihre heftige Aufregung nur ein paar Sekunden, während welcher sie ihre Hände fest vor das Gesicht preßte, dann aber die seinigen hastig ergriff, ihn rasch an sich zog und auf die Stirn küßte.

»Wenigstens hast du mich wieder erkannt, meine liebe Puppe, und nach allem, was ich ausgestanden und gelitten, muß mir das schon genügen sage mir aufrichtig, ob du meine Züge wirklich erkannt hättest, auch wenn ich deinem Gedächtnis durch meine Schwärmerei für den Orion nicht zu Hilfe gekommen wäre?«

»O gewiß, gewiß, Kolma!«

Sie seufzte tief auf und sagte erst nach einer kleinen Pause: »Ich will dir glauben, lieber Erich, denn unmöglich war es ja, daß du den Ton meiner Stimme hättest wieder erkennen sollen. Es hat sich ja so vieles und so sehr in mir verändert nicht wahr, das wirst du nicht leugnen wollen?«

Wer hätte vermocht, das zu leugnen, wer, wie Erich, die Kolma früher gekannt! Jenes wilde, heiße, wunderbar schöne und dämonisch glühende Weib, jene elastische Gestalt voll Kraft und Jugendfrische, den übermütigsten Trotz zeigend, sobald es ihr beliebte; in den trotzig aufgeworfenen Lippen und dazu neben der unglaublichsten Kraft und Gewandtheit den tollkühnsten Mut, um jedem noch so trotzigen und heftigen Gedanken gerecht zu werden und nun nicht einmal mehr der Schatten der Kolma von damals, jener kühnen, wilden Reiterin, die mit ihrem Lasso das Pferd der Steppe einfing und zugleich Tausende von Herzen vor sich niederwarf! Wohl sah man noch Spuren der schönen Züge, wohl war es noch der fein geschnittene Mund, die herrlichen Zähne, vor allem die schönen Augen, aber es waren das alles wohl dieselben, gleichen Teile ihres ehemaligen Gesichtes, denen aber in gewisser Beziehung der kräftige, geistige Zusammenhang fehlte. Wohl blickten ihre Augen wieder freundlich lächelnd wie damals, doch waren die ehemals so schwellenden Lippen nicht mehr imstande, diesen Ausdruck zu verstärken und schienen einer anderen Macht zu gehorchen, die sich ihrem heiteren Lachen widersetzte.

Bei den ersten Worten, die sie an Erich richtete, nachdem sie ihren Schleier zurückgeschlagen, hatte die heftige Aufregung ihr Gesicht gerötet, es lebhafter erscheinen lassen, ja, ihre Stimme verstärkt; doch bei alledem war gleich darauf eine um so heftigere Abspannung gefolgt, und als sie jetzt, stumm in ihrer Ecke ruhend, während sie seine Hände hielt, ihn mit einem traurigen Lächeln anblickte, erschien sie ihm, besonders im bleichen Scheine des aufsteigenden Mondes, so gänzlich verwandelt, so krank und lebensmüde, daß es ihm unmöglich war, seine Thränen zurückzuhalten und er still auf ihre weichen, dünnen Finger weinte.

»Davon ein andermal, Erich,« sagte sie nach einer Pause, sich aufraffend; »wir wollen die ersten Augenblicke des Wiedersehens nicht mit traurigen Erzählungen verdüstern was ist's auch weiter! Mein Auge wird sich etwas früher verdunkeln, als ich damals gedacht, vielleicht auch gehofft, aber immerhin nicht zu früh nach dem, was ich von diesem armseligen Leben erfahren.«

»O, Kolma, reden Sie nicht so, das wird vorübergehen eine schwere Krankheit hat Sie allerdings etwas verändert, aber Sie werden sich erholen!«

»Du weißt zu genau den Grund meiner schweren Krankheit, wie du das nennst, um nicht auch zu wissen, daß, weil mir damals ein plötzlicher Tod nicht beschieden war, ich nun jahrelang einen sehr langsamen sterben muß; doch, wie aber schon gesagt, laß uns später darüber reden. Es beschäftigen mich jetzt wichtigere Dinge ich suche Blanda auf, von der ich zu meinem großen Schmerze erfahren, daß es ihr nicht gut gegangen sein soll.«

»Blanda? Ich habe sie vor einigen Tagen gesehen!« rief Erich mit einer Hast, welche die rasche Frage Kolmas hervorrief:

»Sahst du sie zufällig, oder wußtest du ihren Aufenthaltsort und hattest Gelegenheit, sie öfter zu sehen?«

»Das letztere muß ich leider verneinen; ich sah sie nur zweimal ganz zufällig. Das erste Mal, als ich sie sah, zweifelte ich, daß sie es sei. Wir ritten mit der Batterie vom Exerzierplatze nach Hause bei einer Reihe junger Damen vorüber, und erst als wir sie schon hinter uns gelassen hatten, sagte einer der Offiziere zum anderen: ,Wer mag wohl die schöne, blonde, junge Dame gewesen sein, die uns so aufmerksam betrachtete? Ich wandte mich rasch auf dem Sattel um, und da war es mir gerade, als hatte ich Blanda erkannt.«

»Sie wird es auch gewesen sein, und blieb vielleicht absichtlich stehen, als ihr vorüberzoget, weil sie dich zu erkennen glaubte; das sähe ihr ähnlich und ich weiß, daß sie dich nicht vergessen hat.«

»Wie mich das freuen würde! Das zweite Mal, als ich Blanda sah und erkannte, war ganz vor kurzem. Es sind nur wenige Tage; doch war ich damals zu weit von ihr entfernt, um auch nur den Versuch machen zu können, mit ihr zu reden. Doch erkannte ich sie augenblicklich, als sie vor einem Hause hier ganz in der Nähe in den Wagen stieg und davonfuhr.«

»Darin wirst du dich doch getäuscht haben,« entgegnete Kolma, nicht ohne Besorgnis in ihren Zügen »oder machte sie vielleicht eine Spazierfahrt mit den anderen jungen Damen?« .»Nein, so sah es nicht aus; es war keiner von den Wagen, in denen man spazieren zu fahren pflegt, es war eine einfache verschlossene Droschke, blau mit roten Rädern, und ehe Blanda einstieg, besorgte man einiges Gepäck in den Wagen.«

»So sollte ich zu spät kommen? Unmöglich; ich würde es gewiß erfahren haben, wenn die Gräfin Seefeld sie so rasch aus dem Damenstifte hätte entfernen lassen oder sollte Herr Renaud voreilig gewesen sein? Möglich Gott, wie langsam die Pferde laufen!«

»Da sind wir schon,« sagte Erich, »wenn nämlich Ihr Besuch dem Hause gilt, wo Blanda in die blaue Droschke stieg.«

Damit hielt der Wagen und der Bediente zeigte sich am Schlage, um von Kolma eine Karte in Empfang zu nehmen, vermittelst welcher er sie in dem Damenstifte anmelden sollte. Er kam auch bald darauf zurück und sagte, der Besuch werde angenehm sein.

»Du hast wohl noch etwas Zeit für mich, um mich hier zu erwarten?« sagte Kolma zu Erich. »Bleibe nur im Wagen sitzen, ich werde nicht lange dort im Hause zu thun haben.«

Damit schritt sie durch das Gitterthor über den Hof dahin, und Erich blickte ihr mit trüben Gedanken nach, als er bemerkte, wie sie so langsam und gebeugt ging; dann schaute er an dem Hause in die Höhe. Er hatte es früher schon oft betrachtet mit seinen vielen hell erleuchteten Fenstern, wenn er abends nach einem Besuche bei Schmoller von dem Fort Maximilian herunter gegangen war. Ach, hätte er damals gewußt, daß Blanda hier lebte, mit welchem Interesse würde er in jedem der erleuchteten Fenster ihr Zimmer gesucht haben! Doch nun war sie fort und man sah es dem Hause wohl an, daß es, in Erichs Gedanken, sein Bestes verloren hatte; denn heute schien kein freundlicher Lichtstrahl in die Straße hinaus. Das Gebäude lag ganz dunkel vor ihm und blickte mit den geschlossenen Läden den Beschauer so teilnahmlos an.

Kolma war von dem Portier, der ihr das Gitterthor geöffnet hatte, über den Hof geleitet worden, dann ins Haus hinein und die spärlich beleuchtete Treppe hinauf, wobei sie sich wunderte, daß sie hier überall, statt von Zeugen regen Lebens, von einer tiefen Stille empfangen wurde, die auf beinahe unheimliche Art ein fast gänzliches Verlassensein ausdrückte. Da klang aus keinem der Zimmer munteres Lachen oder der behagliche Lärm plaudernder Stimmen alles schien öde und leer. Droben im ersten Stocke öffnete eine alte Dienerin ein Zimmer und bat die Dame, einen Augenblick zu warten, die Direktorin, Frau von Welmer, werde augenblicklich erscheinen.

Es dauerte auch nicht lange, so trat die Gerufene ein und ersuchte, nicht ohne die Spur einiger Verlegenheit, die fremde Dame, Platz zu nehmen.

»Ich komme etwas spät,« sagte Kolma, »was ich bitte, meiner Ungeduld zu gute zu halten, die mir nicht gestattete, bis

morgen zu warten, um einige Erkundigungen einzuziehen.«

»Sollte es sich dabei um die Aufnahme einer jungen Dame in das Stift handeln,« gab Frau von Welmer rasch zur Antwort, »so bedaure ich sehr, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie einen vergeblichen Weg gemacht. Vielleicht hat Ihnen die Stille des Hauses schon angezeigt, daß dasselbe im gegenwärtigen Augenblicke fast gänzlich unbewohnt ist.«

»Allerdings hat mich diese Stille überrascht.« »Das Damenstift,« fuhr die ehemalige Direktorin unter einem etwas tiefen Atemzuge fort, »wurde vor wenigen Tagen nach reiflicher Ueberlegung aufgelöst und die jungen Damen ihren Eltern und Verwandten zurückgegeben. Es ist allerdings die Rede davon, dasselbe auf anderen Grundlagen neu erstehen zu lassen, aber es dürfte bis dahin für Ihre Wünsche doch zu viel Zeit vergehen.«

Kolma hatte die Dame ruhig ausreden lassen, dann erst sagte sie: »Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, die mir um so wichtiger ist, da ich nur in der Absicht hergekommen, um mich nach einer jener jungen Damen zu erkundigen, für die ich das höchste Interesse fühle.«

Frau von Welmer schaute jetzt mit größerer Aufmerksamkeit in das bleiche Gesicht der fremden Dame, die nach ihrem ganzen Benehmen, nach ihrer Haltung, sowie nach ihrer einfachen, aber höchst elegant gewählten Kleidung den vornehmsten Ständen angehören mußte; dann sagte sie mit einer leichten Verbeugung: »Ich erinnere mich nicht, das Glück gehabt zu haben, die gnädige Frau bei mir zu sehen; auch ist mir, ich muß es gestehen, der Name auf dieser Karte ein gänzlich fremder.«

»Ich glaube das wohl,« entgegnete Kolma, und setzte dann im Tone so großer Ueberlegenheit hinzu: »Ich hatte meine guten Gründe, früher nicht selbst hierher zu kommen und so zu handeln, wie ich gehandelt« daß die Direktorin durch ein bezeichnendes Niederschlagen ihrer Augen die vollkommene Richtigkeit jener Gründe zugab, worauf die fremde Dame fortfuhr: »Es handelt sich um ein junges Mädchen, welches hier im Hause nicht so behandelt worden ist, als man hätte hoffen können, daß es behandelt werde.«

Frau von Welmer zeigte die größte Ueberraschung oder affektierte wenigstens eine solche, indem sie zur Antwort gab: »Ich würde trostlos sein, gnädige Frau, wenn Ihre Angabe nicht auf Entstellungen und Mißdeutungen gegründet wäre.«

»Im Gegenteil, auf keines von beiden, und wenn ich Ihnen den Namen jener jungen Dame nenne, so müßte ich mich sehr wundern, wenn derselbe nicht schwer auf Ihr Gewissen fiele.«

»Gnädige Frau, ich habe stets meine Schuldigkeit gethan, und da ich dies mit gutem Gewissen von mir sagen kann, so wäre ich Ihnen sehr verbunden für die rasche Nennung jenes Namens.« »Recht gern, Madame; das junge Mädchen, welches hier nicht zum besten behandelt wurde, obgleich es sowohl seinem Stande nach, als wegen seiner Herzensgüte, seiner Liebenswürdigkeit, in jeder Hinsicht seines seltenen Charakters wegen verdient hätte, auf den Händen getragen zu werden, befand sich hier unter dem Namen Miß Blanda Price.«

Hatte die Direktorin diesen Namen nicht erwartet ober hielt sie es für geraten, sich in hohem Grade überrascht zu zeigen, genug, sie zuckte förmlich in die Höhe, um dann mit einem kalten Lächeln zu sagen: »Diesen Namen hatte ich gerade nicht erwartet!«

»Vielleicht nicht gehofft, ihn aus meinem Munde mit dem Zusätze zu vernehmen, daß ich Sie dringend ersuchen muß, mir zu sagen, was aus dem jungen Mädchen geworden ist!«

»Ich nehme an, daß die gnädige Frau ein Recht hat, danach zu forschen, und da mir von anderer Seite, von welcher ich vollkommen überzeugt bin, daß ein Recht besteht, über das Schicksal jenes jungen Mädchens zu bestimmen, nicht verboten wurde, ihren jetzigen Aufenthalt zu nennen, so will ich keinen Anstand nehmen, Ihnen denselben mitzuteilen, wenn Sie mir vorher eine Frage gestatten wollen.«

»Mit Vergnügen.«

»Ueber Ihre gewiß ungerechten Vorwürfe in betreff jenes jungen Mädchens hinweggehend, belieben Sie mir vielleicht einige Aufklärung zu geben über das, was Sie vorhin erwähnten von dem höchst vornehmen Stande der Miß Price, der mir bisher gänzlich unbekannt war und mir heute noch nicht ganz glaublich erscheint, da sie, allerdings von sehr hochansehnlicher Seite protegiert, nur allein durch jene Empfehlungen Zutritt in dem hiesigen Damenstift erhielt, unter den Töchtern der ersten Familien des Landes.«

»Was Sie sie wahrscheinlich fühlen ließen, und wodurch Blanda, wie ich ihren Charakter kenne und ich kenne ihn sehr genau vielleicht verschlossen, trotzig, widerspenstig wurde, da sie zu stolz war, mit nur wenigen Worten jene Schranken zusammenzuwerfen, die das junge Mädchen in Ihren Augen von den anderen hochadeligen Zöglingen trennten.«

»Und diese Worte ich wäre dankbar, sie aus Ihrem Munde zu vernehmen!« entgegnete Frau von Welmer mit einem kühlen Lächeln.

Um Kolmas Lippen zuckte es heiter und ihre Augen strahlten wieder einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, mit der ganzen ehemaligen Lebendigkeit; dann sagte sie: »Daß hier Gründe vorlagen, den Namen Blandas nicht zu nennen und daß der einer Miß Price ein angenommener war, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, muß aber hinzufügen, daß ebensowenig mir als jener hochansehnlichen Beschützerin des jungen Mädchens es heute noch gestattet ist, jenen Namen zu nennen, wogegen ich mir die Frage wohl erlauben darf: ob Ihnen, einer Dame von solcher Weltkenntnis, die jahrelang im innigsten Verkehr stand mit den Töchtern der besten Familien des Landes, je ein Zweifel kommen konnte, als gehöre Blanda nicht einem der vornehmsten Häuser an? Bitte, beantworten Sie mir diese Frage, indem Sie sich gefälligst die ebenso schöne, aristokratisch feine Gestalt Blandas, ihre edlen Gesichtszüge, vor allem aber die wahrhaft gebietende Art ihres Benehmens ins Gedächtnis zurückrufen!«

»Allerdings muß ich diese Vorzüge des jungen Mädchens bedingungsweise zugestehen, und waren sie es gerade, welche Blanda in innigen Verkehr mit den meisten der anderen jungen Damen treten ließen, wogegen ich Ihnen nicht verschweigen kann, daß ein zu Zeiten scheues und verschlossenes Wesen des jungen Mädchens, welches dann mit einem Male wieder in zügellose Wildheit umschlagen konnte, ebensosehr unsere, von guter Seite bestätigte Annahme einer geringen Herkunft, als auch einer sehr vernachlässigten Erziehung bekräftigte. Glauben Sie mir dabei, daß ich mich persönlich zu jenem eigentümlichen Wesen trotz alledem hingezogen fühlte und daß, wo ich mit Härte gegen Blanda auftreten mußte, dies nur geschah, um meine Autorität, vor allem aber jene der mir untergebenen Lehrerinnen aufrecht zu erhalten und daß mir dies dennoch nicht gelungen ist,« setzte sie mit einem kummervollen Blicke hinzu, »mag Ihnen die trostlose Stille dieses Hauses bestätigen; erlassen Sie es mir, weiter darüber zu reden, aber glauben Sie mir, es ist mehr als gewöhnliche Neugierde, wenn ich Sie bitte, mir etwas Näheres über Blandas Herkunft zu sagen.«

Da zuckte es abermals heiter und fast schelmisch um Kolmas Lippen, während sie erwiderte: »Wie ich Ihnen schon vorhin sagte, ist es auch mir heute noch nicht gestattet, Blandas Familiennamen zu nennen; aber glauben Sie meiner Versicherung, die ich mit einem feierlichen Schwure bekräftigen könnte, daß Blanda einer der mächtigsten Familien, einem der mächtigsten Stämme angehört, und daß es ihre Bestimmung ist, einst als Fürstin, als gebietende Herzogin über einen zahlreichen Volksstamm, über ausgedehnte Länderstrecken zu herrschen.«

Frau von Welmer blickte staunend auf die Sprecherin und konnte nicht anders, als den Worten, die sie soeben vernommen, Glauben beimessen. – Eine Herzogin hatte sich unter ihrem Dache, unter ihren Zöglingen befunden! Eine Herzogin war es gewesen, die von der abscheulichen Quadde so gehaßt und gequält worden war, der man ihr reiches, blondes Haar abgeschnitten, die man mit etwas weniger als Schimpf und Schande aus dem Damenstifte entfernt hatte! Und warum hätte .sie den Worten jener fremden Dame mißtrauen sollen? Konnte dieselbe doch durchaus von keiner zweideutigen Absicht getrieben sein, ihr etwas über die Vergangenheit jenes jungen, gewiß so interessanten Mädchens mitzuteilen! Blanda war ja fort; weder sie, die Direktorin, noch die garstige Quadde, wenn diese noch da gewesen, wäre mehr imstande gewesen, sie zu hassen oder zu protegieren ja, wenn sie diese Nachricht nur um einige Wochen früher erhalten hätte, statt jener gänzlich falschen Berichte aus dem Munde des Geschäftsmannes der Frau Gräfin Seefeld, jenes ruhig und behaglich lächelnden Herrn Renaud und daß sie jenem vollkommen getraut und in seine Ansichten über das junge Mädchen eingegangen war, hatte sie auch wieder dieser Quadde zu verdanken, welche ein so großes Interesse an diesem Herrn Renaud genommen pfui über die alte Jungfer!

»Und Blanda?«

Diese Frage that die fremde Dame, nachdem sie eine Zeitlang, nicht ohne ein eigentümliches Leuchten ihrer Augen, zugesehen hatte, wie die Direktorin in tiefen Gedanken verloren dasaß.

»Ja so ich versprach Ihnen, über den jetzigen wahrscheinlichen Aufenthaltsort jener jungen Dame mitzuteilen, was ich weiß; ganz Genaues leider nicht, aber jedenfalls genug, um ihre Spur aufzufinden wir folgten pünktlich den Anordnungen jenes Geschäftsmannes der Gräfin Seefeld,« setzte sie achselzuckend hinzu, als sie den ernsten Blick der anderen und das mißbilligende Kopfschütteln derselben bemerkte. »Hier im Hause war eine Unterlehrerin, eine wie ich jetzt immer mehr einsehe brave und verständige Person, Mamsell Stöckel, an der Blanda mit großer Zärtlichkeit hing, und die sich erbot, Blanda bei sich aufzunehmen, bis nähere Weisung ihrer Angehörigen eingetroffen sein würde.«

»Und die Adresse dieser Mamsell Stöckel?«

»Leider kann ich Ihnen das nicht ganz bestimmt sagen, doch vermute ich, daß sie sich im gegenwärtigen Augenblicke bei ihrem älteren Bruder aufhält, einem Förster in der Nähe der Residenz, auf dem sogenannten Jagdschlößchen, zu Wagen in einer halben Stunde erreichbar.«

Kolma erhob sich mit einem so trockenen: »Ich danke Ihnen, Frau Direktorin!« daß diese mit allen Zeichen des Unbehagens, ja der Verlegenheit entschuldigende Worte sagte, von gänzlicher Unkenntnis der wirklichen Sachlage sprach und ihr innigstes Bedauern ausdrückte, nicht früher zu Blandas Bestem, wie auch zu ihrem eigenen, durch eine so wohlwollende Freundin der jungen Dame bei diesen Worten verbeugte sie sich gegen Kolma unterrichtet worden zu sein. Dann geleitete Frau von Welmer die Fremde bis an die Treppe vor dem Hause, und während letztere ihrem Wagen zuschritt, ging sie in ihr stilles, einsames Zimmer zurück, um dort, hastig auf und ab gehend, ihrer früheren ersten Lehrerin, des Fräulein von Quadde, in durchaus nicht freundlicher Weise zu gedenken, wobei sie sich einer grimmigen Freude darüber nicht erwehren konnte, daß die allerhöchste Ungnade, welche ihr eigenes Haupt getroffen, noch viel zerschmetternder auf das der Quadde gefallen war, die infolge der Vorfälle in dem adeligen Damenstifte für alle Zeiten und für die weitesten Kreise gänzlich unmöglich geworden war, und die später ihr Leben dadurch fristete, daß sie kleinen Mädchen armer Leute Unterricht im Stricken erteilte und ihnen die Anfangsgründe des Alphabetes beibrachte.


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