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38. Kapitel

Fortsetzung des vorigen beim Lichte des Tages, ein ziemlich wichtiges Kapitel voll ernster und heiterer Erinnerungen.

Der kleine Bombardier Weitberg war schon häufig in Arrest und machte sich aus einer solchen Strafe nicht besonders viel, vorausgesetzt, daß sie nicht über vierundzwanzig Stunden dauerte, oder in eine Jahreszeit fiel, wo man unmittelbar durch die strenge Kälte zu leiden hatte, oder in eine andere, wo ihm die Hitze mittelbar noch andere, höchst unangenehme Plagen auf den Leib schickte. Rascher wie der letzte Arrest war ihm gestern noch keiner vorübergegangen. Er hatte sich ziemlich duselig auf die Pritsche gelegt und war, unter der ausgezogenen Jacke wie ein Igel zusammengekauert, augenblicklich eingeschlafen, auch während der Nacht nicht durch böse Träume oder gar durch den Besuch des Rattenkönigs aufgeschreckt worden, sondern hatte geschlafen bis zur Reveille, dann, da es ihn fröstelte, einen tüchtigen Zug aus der eingeschmuggelten Schnapsflasche gethan, um alsdann wieder weiter zu schlummern, bis das Dämmerlicht eines trüben Tages sehr gebrochen durch die verschiedenen Wände der hölzernen Käfige in seine Zelle drang.

»Gott sei getrommelt und gepfiffen!« hörte er einen Nebenmann in sehr verdrießlichem Tone hervorstöhnen, während ein anderer sehr glücklich das Krähen des Hahnes nachahmte und ein dritter Nachbar deklamierte:

»Auf, sprach der Fuchs zum Hasen,
Auf, hörst du nicht den Jäger blasen!«

»Schon wieder eine vorüber krieg' die Kränk' Offenbach!«

»Wieviel Tage hast du noch?«

»Zwei sechs sind vorüber!«

»Gott sei Dank,« hörte man eine andere Stimme etwas kläglich sagen, »da kann man schon zufrieden sein, wenn man auf der Höhe steht und abwärts geht! Ich fange leider erst an aufzusteigen Eins von zehn!«

»Brrrr...«

Diese Gespräche wurden geführt, ohne daß einer den anderen, da sie alle in Einzelhaft saßen, hatte sehen, ja kaum notdürftig verstehen können, und meistens unterhielt man sich auch nur ein paar Augenblicke während der Morgendämmerung oder vielleicht abends nach dem Zapfenstreich. Es war im Militärarrestlokale streng verboten, sich einander etwas zuzurufen; auch wußte man in seltenen Fällen, wen man zum Nachbar hatte. Bald darauf, als es ziemlich Tag geworden war, klirrten die Riegel an Weitbergs Kasten, und er wurde von dem Rattenkönig herausgelassen, der ihm mit verdrießlicher Miene sagte: »Man muß es verdammt eilig haben, Sie wieder nach Hause zu kriegen, daß man zu so früher Morgenstunde einen alten, gedienten Sergeanten, wie ich bin, so eines Grünschnabels wegen heraustrommelt; aber die Artillerie meint immer, daß sie etwas ganz Apartes haben müsse na, komm Er nur herunter, Er kann sich unterwegs striegeln und putzen.« Damit schlurfte der alte Rattenkönig in seinen weiten Pantoffeln hüstelnd vor Weitberg her ins Inspektionszimmer hinab, während er mit einer Bewegung des Kopfes nach rückwärts, ungefähr wie ein böser Hund, der zornig um sich schnappt, brummend sagte: »Werde doch noch einen Kommandanturbefehl durchsetzen, daß niemand mehr nach Dunkelwerden gebracht oder vor der Mittagsstunde abgeholt wird! Treiben da Spielerei mit der königlichen Militärarrestanstalt! Hätte Lust, das der Kommandantur zu melden, und die Kommandantur spaßt nicht gibt drei Tage Mittelarrest, daß die Seele pfeift!«

Drunten stand der Bombardier Schwarz in sehr dienstmäßiger Haltung und überreichte ebenso den Abholungszettel für den Arrestanten.

»Hm,« machte der Rattenkönig, nachdem er den Zettel durchgelesen und dann Weitberg mit einem boshaften Blicke forschend betrachtete »wie heißt Er denn?«

»Weitberg,« antwortete dieser auf die plötzliche Frage, ohne das rasche Zeichen seines Kameraden zu beachten und ohne daran zu denken, daß er ja nicht als der Bombardier Weitberg eingesperrt worden sei.

»Schau, Weitberg, schau, mein Söhnchen! Ei, ei, ei, kommt man so hinter eure Schliche! Was steht hier auf dem Zettel? Freiberg steht da! So will man einen königlichen Militärarrestinspektor und alt gedienten Sergeanten anführen, und erinnere ich mich jetzt, den Bombardier Freiberg gestern, nach drei Tagen, entlassen zu haben! Das gibt eine Meldung für die Kommandantur, Er aber spaziert in seinen Käfig zurück!«

»Gut dann!« sagte der Bombardier Schwarz rasch entschlossen, »und ich werde diesen Vorfall augenblicklich dem Herrn Hauptmann melden, und da wird sich die Frage herausstellen, wie es kommt, daß der Herr Inspektor den Bombardier Freiberg auf einen ganz richtigen Abholungszettel nicht herausgeben will, da er ihn doch gestern abend auf denselben Namen eingesperrt!«

»Das wollen wir erst sehen!« schrie erbost der Inspektor, indem er zu seinen Papieren rannte und den Zettel von gestern

abend durchlas, »Bombardier Freiberg! Und wie hat Er gesagt, daß Er heißt?«

»Freiberg, Herr Inspektor.«

»Hol Ihn der Teufel! Er hat anders gesagt, aber es ist mir im Grunde gleichgültig, ganz gleichgültig, und will mich nicht am frühen Morgen schon ärgern mit solchem Grobzeug von der Artillerie hinaus!«

Dann waren sie glücklich entronnen, und nun kam es darauf an, den echten Freiberg wieder aufzufinden. Doch hatte Erich alles, so wie es ungefähr kommen mußte, vorausgesehen und sich danach eingerichtet.

Als er heute nacht wieder in die Stadt zurückgekommen war, trat er in das Passagierzimmer der Post und that, als wolle er mit einem Eilwagen in aller Frühe abreisen oder jemand, der ankomme, erwarten, setzte sich in die Ecke des alten, ledernen Sofas, wo er in dem behaglich warmen Räume, übermüdet wie er war, in kurzen fest einschlief und erst erwachte, als draußen das Posthorn lustig erklang. Dann ging er hinaus und betrachtete sich bei anbrechendem Morgen den ankommenden Eilwagen mit seinen dampfenden Pferden und übernächtig aussehenden Passagieren, die teils hier in der Residenz blieben, teils ihre Reise in die östlich gelegenen Berge, wohin noch keine Eisenbahnen führten, zu Wagen fortsetzten. Es waren Morgennebel aufgestiegen, welche dem Tageslichte kaum erlaubten, sich bemerkbar zu machen, obgleich die Herrschaft der Nacht vorüber war, was der bunt bewegten Scene auf dem Posthofe bei dem Ungewissen Lichte der herbeigebrachten Laternen einen eigentümlichen Reiz verlieh. Die Pferde schienen wie in weiße, aufwallende Schleier gehüllt, und die Passagiere, wie sie nach und nach zum Vorschein kamen und dann fröstelnd den Wagen umstanden, wie schattenhafte gespenstische Wesen, bereit, beim ersten Hahnenrufe zu verschwinden. Und doch waren sehr körperhafte Gestalten darunter, besonders eine schwarzgekleidete Dame, die mit etwas koketter Aengstlichkeit unter der Beihilfe eines jungen Mannes zuletzt, als alle schon den Wagen verlassen hatten, Anstalten zum Aussteigen machte, indem sie mit dem kleinen Fuße prüfend den Wagentritt betastete, ehe sie sich mit einem leichten Aufschrei jenem jungen Manne in die Arme warf und dann auf den Boden niederglitt.

Der Postdiener mit der Laterne hatte sorgfältig dazu geleuchtet und ließ nun den Schein der Laterne auf das Gesicht dieser Dame fallen, und wen erblickte Erich, der aus einem dunklen Winkel neben dem Wagen diesem Treiben zuschaute? Selma.

Ja, sie war es; er hätte sie unter Tausenden wieder erkannt, und doch hatte sie sich sehr verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen. Die lebhaften, unruhigen Augen waren dieselben geblieben, auch das volle, rötlich blonde Haar, doch schien ihr Gesicht stärker und breiter geworden, und die Lippen, welche man früher mit dem Ausdrucke »schwellend« hatte bezeichnen können, traten jetzt beinahe etwas zu weit hervor und gaben ihren Zügen, wenn sie lachte und sie lachte häufig mit jenem jungen Manne einen unangenehmen, fast gemeinen Ausdruck.

Erich hatte sich noch mehr zurückgezogen, und obgleich er sich eines peinlichen Gefühls bei Selmas Anblick nicht erwehren konnte, ruhten doch seine Blicke auf ihr, und Erinnerungen vergangener Tage beschäftigten ihn so ausschließlich, daß er wie im wachen Traume dastand, um dann plötzlich erschreckt zusammenzufahren, als er die Stimme eines großen Herrn vernahm, der aus dem Postbureau zu Selma und jenem ihm unbekannten jungen Manne trat.

»Ha, ich verstehe,« stöhnte die Stimme des Pfarrers Wendler aus Zwingenberg »gewiß, ich verstehe es vollkommen, daß Sie, mein wertgeschätzter Herr, sich nach durchfahrener Nacht auf ein warmes Zimmer mit behaglichem Bette freuen, während es uns armen Sterblichen nicht so gut wird! Wie ich eben auf dem Postbureau erfuhr, geht es mit uns nach einer Stunde weiter, und wir haben noch bis gegen Mittag zu fahren, ehe ich an meinen neuen Bestimmungsort komme!«

»Aber warum machen Sie hier nicht eine Pause von ein oder zwei Tagen? Es wäre doch wohl der Mühe wert, sich die Residenz wieder einmal anzuschauen, auch für Ihre Frau Tochter nicht zu anstrengend, wenn sie sich hier ausruhen könnte.«

»Gewiß, und wenn meine Zeit nicht so bemessen wäre, würde mich Ihre liebenswürdige Gesellschaft unbedingt verführen, ein paar Tage zuzugeben; auch sehnt sich Selma nach Ruhe, um sich in der Einsamkeit besser sammeln zu können, ja, einigen Trost zu finden über den Verlust eines immerhin sehr geliebten Mannes.«

»Dazu würde ich lieber etwas anständige Zerstreuung anraten,« sagte der junge Herr.

»Ha, ich verstehe auch das und gedenke auch so bald als möglich mit Selma nach der Residenz zu gehen, werde aber leider drüben heute auf das bestimmteste erwartet.«

»Das ist recht schade wenn ich Ihnen nur sonst mit etwas dienen könnte!«

»Das könnten Sie allerdings, vortrefflicher junger Mann, wenn Sie so freundlich wären, mir ganz in der Nähe irgend einen Gasthof zu bezeichnen, wo ich mit Selma ein gescheites Frühstück einnehmen könnte.«

»Was mich anbelangt, Papa, so danke ich dafür,« gab Selma zur Antwort, wobei sie ohne alles Aufsehen eine so geschickte Bewegung machte, wie in gleichgültiger Betrachtung des immer noch dunklen Posthofes, daß es ihr möglich wurde, mit ihrem Arme den des jungen Mannes zu streifen.

»Das haben Sie ganz in der Nähe,« sagte dieser, »zwei Häuser von hier; Sie erlauben, daß ich Sie hinbegleite?«

»Ach nein,« entgegnete der andere in einem etwas verdrießlichen Tone, »Selma will mich nicht begleiten, und ich kann sie doch nicht allein hier im Posthofe stehen lassen!« »So will ich jenen Postdiener herbeirufen, den ich kenne und der Sie hinbegleiten wird; Sie aber werden mir vielleicht freundlich gestatten, Ihrer Frau Tochter Gesellschaft zu leisten, bis Sie zurückkehren.«

»Ha, ich verstehe und nehme Ihren Vorschlag mit großem Vergnügen an! Ich begreife übrigens nicht, Selma, daß du nicht den Drang in dir fühlst, dich mit einem guten Kaffee zu erwärmen.«

»Es ist mir zu früh, Papa,« erwiderte die junge Witwe in einem fast ungeduldigen Tone, »auch brauche ich keinen Kaffee, um mich zu erwärmen ich glühe von dem langen Fahren.«

»Nun denn, jeder nach seinem Willen; ich habe noch gut drei Viertelstunden zu meinem Frühstück und werde pünktlich zur Zeit da sein, auch um Ihnen, mein wertgeschätzter junger Freund, meinen tiefgefühlten Dank für alle Ihre Aufopferung zu wiederholen.«

Dann ging er mit dem herbeigerufenen Postdiener davon und war sogleich in dem immer dichter werdenden Morgennebel verschwunden.

Der junge Mann bot Selma seinen Arm, den sie annahm und, sich an ihn schmiegend, dann ein paarmal neben dem Wagen hin und her ging, so nahe an Erich vorüber, daß Selmas Mantel im Umwenden ihn beinahe streifte.

»Glühen Sie wirklich, schöne Selma?« fragte der freundliche junge Herr, nachdem er so tief geatmet, daß man es für einen Seufzer hätte halten können.

»Soeben noch,« gab sie zur Antwort; »jetzt aber durchschauert mich die Kälte des Morgens doch ein wenig.«

»Dann würde ich Ihnen dringend raten, in die Passagierstube zu treten, es ist da behaglich warm Sie sind gänzlich ungestört, da wir dort jedenfalls ganz allein sein werden.«

»Gut, gehen wir. «

Die beiden verschwanden in demselben Raume, wo Erich sich kurze Zeit vorher aufgehalten, und dieser verließ mit ganz eigentümlich gemischten Empfindungen den Posthof.

Tief aufatmend, dachte er lebhaft an Kolma, aber an die Kolma jener Nacht, wo sie bleich und blutend zu seinen Füßen lag, und wo er dann jene dort drüben wieder gesehen, wobei er sich glücklich pries, daß sich der heutige Tag, obgleich unter einiger Aehnlichkeit mit damals, doch für ihn ganz anders gestalten werde. Er eilte jetzt rasch nach der Kaserne, in deren Nähe sich ein kleiner Spezereiladen befand, wo die Kanoniere ihre kleinen Bedürfnisse kauften und wo sich die Avancierten feinere Lebensgenüsse, wie eine sogenannte Havannacigarre oder einen erschrecklich echten Cognak, zu verschaffen wußten. Hier wartete Erich, bis er Schwarz und Weitberg daherkommen sah, worauf er dann den letzteren unter Bezeigung seines herzlichsten Dankes ablöste.

»O, famos!« sagte der kleine Schwarz »ich glaube doch, daß der Hauptmann von Manderfeld recht hat und du ein Hauptgauner bist! Sage mir nur, wohin bist du gestern abend plötzlich geraten? Es war das eigentlich sehr leichtsinnig gehandelt, denn wenn der gute Weitberg nicht dagewesen wäre, so hätte ich mich wahrhaftig selbst müssen einsperren lassen, was doch von sehr komischer Wirkung gewesen wäre.« »Ich erzähle dir alles, was du wissen willst, später einmal ausführlich; aber jetzt bin ich müde und es fröstelt mich; ich will mich aus dem Arrest melden und dann sehen, ob ich noch eine Stunde schlafen kann.«

Letzteres that denn auch Erich – wir vermuten, die beiden anderen ebenfalls – und hatte Mühe, früh genug zu erwachen, um sich zum Appell so schön, als es ihm möglich war, herauszuputzen.

»Wenn der Herr Hauptmann Ihnen jetzt wieder etwas vom starken Frühstücken sagt,« meinte der Wachtmeister Pinckel, als die Batterie auf dem Kasernenhofe zum Appell angetreten war, »so halten Sie gefälligst Ihren Schnabel und geben ihm keine Veranlassung, weiter mit Ihnen anzubinden, besonders heute nicht, wo sich der lange Wibert zurück aus dem Lazarett meldet und wo dessen immer noch wundes Gesicht einen unangenehmen Eindruck auf ihn machen und nicht zu Ihren Gunsten sprechen wird.«

»Aber, Herr Wachtmeister, was geht mich Wiberts wundes Gesicht an?« »Na, na, reden wir lieber nicht darüber Still gestanden!«

Der Hauptmann trat schweigend zwischen die Compagnie und die Avancierten, und als sich ihm der lange Wibert mit einem allerdings noch sehr scheckigten Gesichte präsentierte, blinzelte er aus seinen Augenwinkeln nach Erich hinüber, während er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand seinen zierlichen Schnurrbart drehte. Dann meldete sich jener aus dem Arrest, wobei er in so dienstgemäßer Haltung, als es ihm nur möglich war, vor seinen Chef hintrat. Dieser wandte sich halb von ihm ab und sagte ungefähr gegen die Wolken hinauf:

»Nun, ich hoffe, Herrrr, daß Ihnen das eine Lehre für die Zukunft sein wird, sich der Trunkenheit in und außer dem Dienste zu enthalten!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!«

»Ueberhaupt rate ich Ihnen zu einer ganz anderen Führung, denn die Milde, mit der ich Ihnen bisher entgegenkam, ist vorüber, und es soll jetzt alles zwischen uns streng dienstlich verhandelt weiden; merken Sie sich das, Herrrr, und sehen Sie zu, was Sie in anständigem Betragen, wozu ich auch ein verträgliches Leben mit den Kameraden rechne, leisten können!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!«

Nach Beendigung des Appells wetterte der lange Wibert wie ein angeschossener Eber in der Stube herum, und als Erich eintrat, hatte er es gerade mit dem schmächtigen Schwarz zu thun, dem er ins Gesicht hinein schrie: »Wenn Sie mich noch einmal mit Ihren dummen Augen anglotzen und dazu sagen: O famos! so schlage ich Sie zu Boden, darauf können Sie sich verlassen!« Dann eilte er an sein Waffengerüst, untersuchte das Schloß sorgfältig und brummte mit einem Blicke auf Erich: »Ich werde doch meinen Schlüssel verändern lassen müssen, denn ich fürchte, auch ein anderer schließt hier auf! Das Wort »anderer« betonte er so ausdrucksvoll, als es ihm möglich war. Doch ließ sich Erich das nicht anfechten, sondern setzte sich ruhig an den Tisch und lachte mit, als er die anderen lachen sah.

Wibert sah übrigens auch gar zu komisch aus! Sein ganzes Gesicht war noch immer gefleckt und seinen ehemals so langen Schnurrbart hatte er bei den vielen Pflastern und Umschlägen zu zwei kleinen Punkten zusammen rasieren müssen. Wahrscheinlich wäre es heute noch zu ärgeren Händeln gekommen, wenn der Unteroffizier Wenkheim nicht mit der Faust derb auf den Tisch geschlagen und nach allen Seiten hin Ruhe geboten hätte.

Daß der letzte Bombardier trotz dieses Namens bald einer der ersten Bombardiere der Batterie war, haben wir früher schon andeutungsweise gesagt. Er begriff jede Art des Exerzierens leicht und spielend; er war in kurzer Zeit tüchtig und zuverlässig in der Anfertigung der verschiedenen Munitionen, besonders im Verpacken der Kugel- und Granatwagen, welches stets als ein großer Beweis artilleristischer Befähigung angesehen und vom ältesten Feuerwerker geleitet wurde. Was die mündlichen Vorträge anbelangte, so hatte Erich den ganzen Leitfaden im Kopfe und wurde von dem Premierlieutenant nicht selten dazu kommandiert, den Rekruten die ersten Anfänge der Artilleriewissenschaften beizubringen. Auch den praktischen Felddienst hatte er sich bald zu eigen gemacht, und da er schon früher ein kecker Reiter war und ihm deshalb bei dem bespannten Exerzieren der Batterie sein Pferd durchaus nichts mehr zu schaffen machte, so wurde er häufig von dem Offizier seines Zuges für einen Exerziermorgen zum Geschützführer ernannt und zeigte er sich auch darin ebenso gewandt als tüchtig.

Alles dies zusammen genommen, ließ es ganz natürlich erscheinen, daß ihn der Premierlieutenant nach kürzerer Zeit mit ein paar anderen dem Hauptmanne zum Unteroffiziersexamen vorschlug, wozu dieser aber erst nach langen und hartnäckigen Kämpfen mit seinem ersten Offizier seine Zustimmung gab, dabei aber versichernd, daß es wahrlich seiner Empfehlung nicht zuzuschreiben sei, wenn der letzte Bombardier trotz so liederlicher Aufführung doch noch zum Unteroffizier gelange. Worauf der Premierlieutenant im Vertrauen zu Erich sagte: »Ich zweifle, daß man Sie, auch beim besten Examen, baldigst zum Unteroffizier machen wird. Man wird das schon zu hintertreiben wissen, und es ist ja auch sehr gleichgültig; jedenfalls aber sieht das Brigadekommando aus einem glänzenden Examen, welches Sie hoffentlich machen werden, daß Sie etwas gelernt haben, und das kann auf alle Fälle nichts schaden, ob Sie nun aufs Geratewohl mit sehr wenig Aussicht weiter dienen wollen oder ob Sie etwas anderes und für Sie jedenfalls Solideres ergreifen werden.« Erich hatte ihm aufs herzlichste gedankt für diesen neuen Beweis von Wohlwollen und dann mit den anderen das Unteroffiziersexamen gemacht und, wie er hörte, glänzend bestanden. Die Papiere wurden an das Brigadekommando geschickt und Erich sowohl von seinem Zugführer als auch von dem Premierlieutenant um so häufiger zu Unteroffiziersdiensten verwendet. Natürlich nahm dies aber besonders jetzt bei den Frühjahrsexerzitien seine Zeit so sehr in Anspruch, daß ein paar Tage vergangen waren, ehe er einen Nachmittag für sich hatte, um nach dem Jagdschlößchen hinauf zu eilen; auch war es ein recht weiter Weg dorthin und Erich daher um so dankbarer dem glücklichen Zufalle, welcher ihm eine vortreffliche Reitgelegenheit verschaffte. Der Premierlieutenant sagte ihm nämlich nach dem Appell, er habe seinen Burschen ins Lazarett schicken müssen, und da er selbst keine Lust zum vielen Reiten hätte, möchte Erich eine Zeitlang nach seinen Pferden sehen.

»Ich kann mich auf Sie verlassen,« sagte er, »und wenn Sie besonders den Rappen ein wenig anstrengen, so schadet ihm das gar nichts; reiten Sie auch mit dem Säbel, er gewöhnt sich so schlecht an die klirrende Scheide.«

Der Rappe war ein schönes, gutes Pferd, ein wenig unruhig allerdings, weshalb er denn auch mit Erich in weiter Lancade zum Kasernenhof hinausflog, sehr zur unangenehmen Ueberraschung des Hauptmanns von Manderfeld, der mit dem langen Wibert zufällig in der Straße stand; doch kam Erich glücklich an ihm vorüber, das wild vorwärts strebende Pferd fest zurückgehalten, den Ellbogen an den Leib, die rechte Hand herabhängend und so fort, bis er ihm aus den Augen war, worauf der Rappe auf einer breiten, makadamisierten Straße große Neigung zu einem Galopp an den Tag legte, der ihm auch gnädigst bewilligt wurde.

Da war er schon mitten in der bekannten Umgebung: dort oben das Fort Maximilian, vor ihm das Haus, wo Blanda gewohnt, dort der Weg zum Jagdschlößchen hinauf, den er in einer recht animierten Gangart nehmen wollte.

Plötzlich hörte er seinen Namen rufen und sah, sich umwendend, den Bombardier Schmoller, der eilig gegen ihn kam und ihm schon von weitem zurief: »Ich wollte zu dir; es ist mir aber auch recht, daß ich dich hier treffe.«

»So komme ich um deinen Besuch und kann dir nicht die Honneurs eines Schnapses machen.«

»Ein andermal mit dir zu plaudern, ist mir die Hauptsache und wenn du nicht gar zu eilig hast, gehe ich ein paar Schritte neben deinem Pferde. Wohin willst du eigentlich?«

»Nur dem Pferde unseres Premierlieutenants etwas Bewegung machen,« erwiderte Erich, indem es ihm nicht recht behagte, dem Freunde sogleich die ganze Wahrheit zu sagen.

»Vor allen Dingen,« fuhr Schmoller fort, »sage mir aber, weshalb du neulich droben plötzlich, wie Schafleder, ausgerissen bist, nachdem du durch den Tubus zu dem Hause dort hinabgeschaut hattest?«

»Zu dem Hause hinab? Ja so so daß ich davonlief, geschah ohne allen Zusammenhang mit jenem Hause; ich erinnerte mich plötzlich, daß ich zum Premierlieutenant befohlen war!«

»So so « sagte Schmoller mit einem pfiffigen Lächeln, »und statt nach der Richtung eurer Kaserne zu laufen, ranntest du wie besessen hier denselben Weg hinauf, den du jetzt reitest, pralltest da an eine Schar Offiziere und bliebst dann wie ein begossener Pudel stehen, nachdem du dem davonrollenden Wagen nachgeblickt o, du Heuchler! Du wußtest freilich nicht, daß dir unser vortrefflicher, vier Fuß langer Tubus nachgerichtet wurde und daß ich dich auf dem Korn hatte und behielt, wie der Jäger einen Hasen. Ich hätte nur loszudrücken gebraucht, und im Feuer hättest du in der Luft ein Rad geschlagen! Aber, Erich, sei ehrlich, wie ich es stets gegen dich war, sei es besonders in diesem Falle, denn du kannst mir vielleicht auf eine Fährte helfen, wo mir jede Spur verloren gegangen ist! Siehst du dort das Haus mit seinen verschlossenen Läden? So ist es nun schon fast eine Woche lang! Kein Leben mehr dann, und ebenso still und finster, wie es dort vor uns liegt, sieht es auch in meinem Herzen aus!« »Armer Kerl auf diese Art hat dein Verhältnis mit der Gräfin oder Fürstin geendet!«

»Gänzlich rein abgeschnitten, und wenn du nicht ehrlich gegen mich bist, so werde ich an einem gebrochenen Herzen zu Grunde gehen!«

»Pah, ein Bombardier!«

»Gestehe, daß du einem Wagen nachgelaufen bist, der von der Pension wegfuhr, daß eine junge Dame in dem Wagen war, die dich interessiert so, das gibt dein Kopfnicken zu und du bist, hoffe ich, auch gesonnen, etwas für deinen Freund zu thun.«

»Mit Vergnügen, wenn ich etwas für dich thun kann!«

»Dort hinauf fuhr der Wagen, dorthin reitest du, bist also im Begriffe, jener jungen Dame einen Besuch zu machen ach, du Glückspilz! Auf diesem schönen Rappen, herausgeputzt wie nur möglich! Doch fühle ich deshalb keinen Neid, Erich; der Geschmack ist verschieden, und sie, für und an welche ich aus der Entfernung schwärmen durfte, schrieb so zart und bescheiden, daß ich überzeugt bin, dein glänzender Rappe würde auf sie nicht den geringsten Eindruck machen. Aber fragen kannst du sie, warum das Haus da unten so gänzlich geschlossen ist, fragen, wo alle geblieben sind, forschen nach ihr, die ich in meinem Herzen trage und die mich durch Uebersendung ihres Porträts zum glücklichsten Menschen machte! Willst du mir diesen Gefallen erzeigen?«

»Mit Vergnügen, wenn ich die junge Dame sehe, mit welcher ich übrigens durchaus nicht so vertraut bin, als du wohl denkst. Sie steht hoch über mir, und ich bin nicht so, wie du, kühn und von mir selbst überzeugt, um mich mit einem Sprunge über alle Schranken hinwegzusetzen!«

»Geh doch, Egoist! Du warst schon auf der Brigadeschule der ausgemachteste Heuchler und Duckmäuser und hast dich hier noch sehr darin vervollkommnet! Läßt sich da von meiner Gutmütigkeit über das Haus da unten erzählen, während er in demselben Verbindungen angeknüpft hat!«

»Darin irrst du sehr!« »Nun, laß es gut sein, Neid kenne ich keinen; aber nicht wahr, du forschest für mich und fuchst etwas über die Entschwundene zu erfahren?«

»Gewiß, wenn es mir möglich ist.«

»Weißt du was da, nimm die Photographie, zeig sie der Dame, das wird deinen Worten zu Hilfe kommen; aber bewahr sie wie ein Heiligtum ich habe keine zweite zu versenden!«

Schmoller betrachtete nochmals wehmütig die stillen Züge; dann reichte er das Bild an Erich, welcher es einschob und, da er zu gleicher Zeit dem ungeduldig drängenden Rappen etwas Zügelfreiheit gab, in der nächsten Sekunde seinen Freund hinter sich gelassen hatte.

»Auf Wiedersehen, Schmoller!«

Rascher, als neulich mit dem Wagen, hatte er den Waldweg droben erreicht, der zum Jagdschlößchen führte, kurz darauf dieses selbst und ritt dann durch das heute offen stehende Thor in den Hof. Da stand der Förster vor der Thür des Gebäudes, das Gewehr auf der Schulter, und schien eben aus dem Walde zurückgekehrt zu sein. Er schaute den Absteigenden mit keinem recht freundlichen Blicke an, ja erwiderte dessen Gruß kurz und mürrisch.

»Kann ich mein Pferd für eine halbe Stunde einstellen, Herr Förster?«

»Stallung haben wir keine bei der Hand, die ist weiter im Walde. Was hier herauf reitet, bringt meistens Dienerschaft mit, welche für die Pferde sorgt.«

Glücklicherweise war es ein milder, stiller Tag, wie man sie im Vorfrühlinge zuweilen hat, bei leicht bedecktem Himmel ohne Sonne, aber auch ohne Wind, ein träumerisch stilles Wetter, bei welchem man förmlich zu sehen glaubt, wie die Knospen in wohligem Behagen anschwellen. Auch hatte Erich eine Decke aufgeschnallt, die er nun über den Rappen warf, nachdem er ihn an einer Ecke der Mauer festgebunden.

»Ihr kommt wohl im Auftrage jener Frau, mit der Ihr neulich hier oben wäret?« fragte der Förster, als Erich wieder zu ihm trat.

»Ja und nein; ich komme, um mich nach dem Befinden der jungen Dame zu erkundigen, die hier oben bei Euch ist.«

»Wollt derselben vielleicht sagen, wann man sie abholen wird?«

»Nein, ich weiß darüber nichts Näheres.«

»So dann ist's schon recht sie sind hinter dem Hause in dem Garten, und Ihr werdet nicht unwillkommen sein, denn die junge Dame ist gestern und vorgestern ein paarmal an die Straße gelaufen, um nach Euch oder sonst jemand zu sehen.« »Hoffentlich kommt doch bald jemand, den sie sehnlicher erwartet, als mich, der sie mit sich fort nimmt und Euch, Herr Förster, von der Unbequemlichkeit befreit, die Euch das hier oben macht.«

»Hm ja,« brummte er und setzte dann kaum vernehmbar hinzu: »Hätte übrigens nicht gedacht, daß man sich so bald an eine solche Unbequemlichkeit gewöhnen könnte sagt das

jener Frau, wenn Ihr sie wieder seht – da sind die Frauenzimmer.«

Es war ein kleiner, in seinen Umfassungen, sowie in Spielereien, die man hier und da sah – die Reste einer Sonnenuhr, zerbrochene Vasen, umgestürzte Steinbilder etwas verwahrloster Gartenraum, in welchem nur die neu hergerichteten Beete sauber und hübsch gehalten waren, sowie eine kleine Laube im Hintergrunde, ein ehemals von Säulen getragener Pavillon, dessen eingestürztes Dach man auf malerische Weise durch roh zugehauene Baumstämme ersetzt hatte und welche dicht überrankt waren von wildem Wein und Geißblatt, jetzt allerdings noch eine wirre Masse kahler Zweige bildend. Doch sah man schon überall die grünen Knospen treiben, sowie an den Syringen, freilich noch dicht zusammengerollt, die späteren Blütendolden in zarten, grünen Blättchen schlummern. Aus der schwarzen, lockeren Erde drangen hie und da besonders in der Nähe mächtiger Stämme, schon Crocus, Schneeglöckchen und Lilien, letztere wie hellgrüne, spitze Pfeile, siegreich hervor an die Frühlingsluft.

In der Laube saßen Mamsell Stöckel und Blanda. Letztere hatte in einem Buche gelesen, das nun vor ihr auf dem Tische lag, während sie erwartungsvoll nach dem Hause blickte und, als Erich nun erschien, diesem mit lebhaften Schritten entgegenging.

Er war etwas verlegen, wie er sie begrüßen sollte, und darüber mit sich noch nicht recht ins klare gekommen, obgleich er auf dem Ritte hierher fleißig darüber nachgedacht. Hatte ihm doch Kolma neulich schon angedeutet, daß Blanda kein Kind mehr sei, daß sie sich wahrscheinlich sehr verändert habe, was er aber neulich abends bei dem zweifelhaften Lichte und bei der Ueberraschung durch das liebliche Märchenbild nicht so sehr bemerkt hatte, wie jetzt, da die schlanke und doch so reizend volle Mädchengestalt mit dem schönen, edlen Gesichte ihm entgegeneilte, würdevoll bei aller Herzlichkeit, vornehm elegant bei all ihrer Zutraulichkeit, abermals eines Märchens verkleidete Prinzessin. Erich hätte sich fast seiner groben Uniform geschämt, als er sah, wie zart sich ihre feinen, weißen Finger auf dem derben Tuche ausnahmen, als sie dieselben auf seine Schulter legte, während sie mit der anderen Hand die seinige ergriff; auch hatte er gefürchtet, klein neben ihr zu erscheinen, weshalb es ihn glücklich machte, daß sie, dicht vor ihm stehend, aufwärts schauen mußte, um in seine Augen zu sehen.

Aehnliches schien sie ebenfalls zu denken, denn sie sagte lächelnd: »Neulich abends, bei der Freude des Wiedersehens, habe ich es nicht einmal gemerkt, daß du so groß geworden bist.«

Dann führte sie ihn zu ihrer Freundin; er mußte sich zwischen beide setzen und erzählen: von seinem früheren Leben, auch von seinem Aufenthalte in Zwingenberg, und wie es ihm seit jenem Abende, wo ihn Blanda zuletzt auf dem Schlosse des Grafen Seefeld gesehen, ergangen sei. Was er alles sagte, war streng der Wahrheit gemäß; doch erzählte er bei einigen Vorfällen seines Lebens begreiflicherweise nicht die ganze Wahrheit, immerhin aber genug, um Blanda zu veranlassen, ihre schönen, ernsten Augen mit einem fast traurigen Ausdrucke auf ihm ruhen zu lassen und ihm zu sagen: »Du kannst nicht ganz glücklich in deinen Verhältnissen sein!« »Aber zufrieden, Blanda, bis ich etwas Besseres erringen kann; o, im gegenwärtigen Augenblicke sehr zufrieden, da ich euch wiedergefunden, dich und Kolma, die einzigen Wesen auf der ganzen, weiten Welt, an die ich stets so innig, so herzlich denken mußte!«

»Du hast das Recht,« gab sie mit einem traurigen Lächeln zur Antwort, »wenigstens in den Gedanken glücklich zu sein, dir selbst einen Weg zu bahnen, Hindernissen zum Trotz, während wir uns aber von der Flut müssen dahin treiben lassen, wohin es dem Schicksale gut deucht, uns zu führen oder es faßt uns auch zuweilen eine Gegenströmung, die uns plötzlich von unseren Wegen ab in eine ganz andere Bahn wirft, ohne daß wir darum glücklicher, zufriedener wären. So ist es mir ergangen, lieber Erich, und damals, als wir uns zum erstenmal sahen, trat kurz darauf dieser Wendepunkt meines Lebens ein. Ich habe hier vor meiner Freundin keine Geheimnisse, und auch du wirst dich des kleinen, ärmlichen Mädchens erinnern, wie es vor den Menschen tanzte, seine Kunstfertigkeiten zeigte, und wie es dafür, selbst von seinen eigenen Leuten, angestaunt, von diesen fast vergöttert wurde. Ich war die kleine, heranwachsende Herzogin des Stammes, und man erwies mir als solcher die größte Ehre. Ah, ich kann das nicht so leicht vergessen, wie ich nur zu wünschen brauchte, um jene wilden, widerspenstigen Männer, jene eigensinnigen Weiber nach meinem Willen zu lenken dann kam es plötzlich anders. Meine arme Mutter starb, Kolma war verschwunden, unsere Leute fingen an, sich hier- und dorthin zu zerstreuen. Ja, wenn du jetzt nur zwanzig Jahre alt wärest, sagte mir damals Zarregg, du würdest den Stamm zusammenhalten, wie die mächtigste Königin! Und obgleich ich noch ein Kind war, hätte ich es doch vielleicht vermocht, wenn nicht meine arme Mutter in dem seligen Gefühle gestorben wäre, daß ihr Kind unter dem mächtigen Schutze jener vornehmen Dame glücklich werden würde. Mir aber war zu Mute wie einem gefangenen Waldvogel, und wenn ich auch, wie dieser, all die schönen Weisen lernte, die man mir beständig wiederholte, all die nützlichen Dinge, welche mir meine Lehrer vortrugen, so fühlte ich doch schmerzlich meine Gefangenschaft in den Banden jener geordneten Welt, that, was ich that, weil ich es thun mußte, und wenn ich je einmal glücklich sein wollte, so träumte ich mich weit hinweg über Berg, und Thal, am liebsten auf eine grüne Wiese hin, die von murmelndem Wasser umflossen war, wo unsere Zelte standen, wo nachts unsere Feuer loderten. Weißt du, Erich, wie damals, als du in jener Nacht von mir Abschied nahmst aaaah, damals war es dort schön!«

Mamsell Stöckel schaute mit einem ernsten Blicke in die strahlenden Augen des jungen Mädchens, worauf diese mit der Hand schmeichelnd über den Arm ihrer ehemaligen Lehrerin fuhr und dann sagte:

»Gewiß, ich verstehe deinen Blick, und es ist ja auch nichts als eine Erinnerung, die aus mir spricht; keine Sehnsucht, nicht einmal ein Wunsch es sind nur Gedanken, vorüberschwebend, wie dort oben die lichten Wölkchen, die ich gern eine Zeitlang verfolge, um sie dann ihres Weges ziehen zu lassen wohin, das weiß ich ebensowenig, als woher sie kamen ganz das Bild meines Lebens. Doch wir wollen heute nichts Trauriges reden, das kommt ohnedies häufig genug; ich will dir nur noch berichten, wie sich darauf mein Leben wieder änderte und wie ich aus der Gefangenschaft so erschien mir mein Leben in der ersten Zeit nach dem Tode meiner Mutter ins wirkliche Gefängnis kam, in das Gefängnis des Hauses da unten, das ihr, Kolma und du, neulich abends besucht o, da war es zuweilen so arg, daß mir mein Leben vorher wie das freieste auf der Welt erschien und daß ich an das Umherwandern während meiner Jugendzeit nur mit einem Schauer denken konnte!«

»Gewiß eine wohlthätige Reaktion!« sagte die Stöckel.

»O ja, wenn ich nicht durch so vieles absichtlich daran erinnert worden wäre, daß ich dabei doch gewissermaßen immer noch vogelfrei geblieben sei: ein fremdartiges Geschöpf unter so viel wohl bekannten, glänzend befiederten Wesen, von denen denn auch eine gute Partie auf den eingedrungenen Vogel loshackte! O ich habe das an tausend Kleinigkeiten bemerkt und darüber manche kummervolle Stunde in meinem Bette verweint!«

»Das war anfänglich so, Blanda; dann erwarbst du dir nicht nur Freundinnen, sondern übtest sogar eine Art von Herrschaft über die anderen aus.«

»Als gewesene kleine Herzogin,« erwiderte das junge Mädchen lächelnd, »war doch auch nichts natürlicher; doch ist es mir gegangen, wie mancher, die unbewußt, ja, ohne das zu wollen, zu Macht und Hoheit kam und schwer dafür büßen mußte; wenn sie mir auch nicht mein Haupt abschlugen, so haben sie es mir doch arg verstümmelt!«

Erich blickte sie fragend an, und erst als sie mit der Hand recht auffallend und ihn dabei anlächelnd, zu ihren dichten, blonden Locken fuhr, rief er aus: »Ach, dein langes Haar, Blanda! Warum hast du es abgeschnitten?«

»Es fiel als ein Sühnopfer zur Zeit einer schweren Revolution; ich werde dir die Einzelheiten darüber später einmal erzählen, habe dir aber jetzt Notwendigeres zu sagen. Du weißt, daß die Gräfin Seefeld sich meiner annahm, nachdem meine Mutter gestorben. Warum that sie das? Es ist möglich, aus Herzensgüte, aus Mitleid mit dem verlassenen Kinde, von dem sie sich dann wieder abwandte, als sie erfahren, daß es so wenig ihren Erwartungen entsprochen ja, Erich, wie du mich hier vor dir siehst, bin ich ein sehr bösartiges Geschöpf gewesen, das Wohlthat mit Undank belohnte, das einer großen Gesellschaft junger Mädchen zum schlechtesten Beispiel diente, ein Geschöpf, von dem man sich mit Widerwillen und Abscheu wandte frage nur meine liebe Stöckel trotz alledem aber ein armes Wesen, das gänzlich allein in der Welt stehen würde, wenn nicht die beste ihrer Lehrerinnen der armen Verlassenen hier oben ein Asyl verschafft hätte!«

Bei diesen letzten Worten zuckte es eigentümlich schmerzlich um die Lippen Blandas; dann warf sie sich rasch an die Brust ihrer Freundin, wobei das Zusammenzucken ihres Körpers deutlich zeigte, daß sie heftig weine.

»Du bist ein närrisches Kind,« sagte die gute Stöckel »freue mich aber in der That, daß du jetzt erleichternde Thränen findest für all den Schmerz, der sich in deinem Herzen festgesetzt; weine nur, weine nur!«

Das that sie denn auch in der leidenschaftlichsten Weise, mit der sie all ihre Empfindungen kundgab, sobald einmal eine gewisse Schranke der Zurückhaltung ihres eigenen Willens gebrochen worden war. Dann schüttelte sie ihre Locken heftig aus der erhitzten Stirn, legte ihre beiden zusammengefalteten Hände in die Rechte Erichs und sagte mit immer noch thränenden Augen: »Daß ich bis jetzt von Kolma nichts gesagt, darf dir kein Beweis sein, Erich, als hätte ich mich nicht aufs herzlichste über ihre Anhänglichkeit und Liebe gefreut, mit der sie kam, mich aufzusuchen; und doch will ich dir nicht verhehlen, daß ihr Erscheinen mir wie ein fremder, zu greller Ton erklang in der sanften Melodie dieser Waldeinsamkeit, daß es mir wie eine Störung besserer Gedanken erschien, wenn ich mich mit der Idee vertraut machen wollte, ihr zu folgen, mit ihr zu leben. Du wirst mich lächerlich finden, Erich! Du hast das Recht, mich erstaunt zu fragen: Was willst du denn sonst auf dieser Welt beginnen? Und ich gebe dir darauf mit einigem Stolze die Antwort, daß mir meine gute Stöckel die Versicherung gab, ich hätte in den letzten Jahren so viel gelernt, daß ich mir selbst eine Stellung, in der Art, wie die ihrige, zu schaffen vermöge was siehst du mich dabei so verwunderlich und ungläubig an?«

»Weil ich überzeugt bin, daß das nicht deine Bestimmung ist, Blanda, daß ich mir das wenigstens nicht zu denken vermag. Lache du über mich, wenn ich dir sage, daß ich mich einer eigentümlichen Phantasie nicht erwehren konnte, so oft ich dich noch gesehen, daß es mir dann gerade so ist, als müßten fremde, unbekannte Leute erscheinen, atemlos herbeistürzen, da sie dich jahrelang vergeblich gesucht, müßten dir zu Füßen sinken, dir die Hände küssen und dich im Triumphe alsdann mit sich davonführen.«

»Du denkst an die kleine Herzogin von damals,« sagte sie durch Thränen lächelnd, »oder an die wiedergefundene Prinzessin eines Märchens.«

»An das letztere vielleicht du wirst sehen, Blanda, wie man dich eines Tages findet, dich inmitten eines glänzenden Gefolges davonführt und wie du uns, die wir traurig zurückbleiben, zum letztenmal ein Lebewohl zurufst.«

»Das letzte gewiß nicht,« erwiderte sie in einem so herzlichen Tone und mit einem so innigen Blicke, daß es ihn durchschauerte »und auch das andere nicht,« rief sie lachend, »obgleich ich selbst schon dergleichen thörichte Träumereien hatte! Aber ich wollte noch etwas von Kolma sagen: sie will mich mit sich nehmen, ich soll bei ihr leben, und das ist es, was mir widerstrebt, wenigstens so lange, bis ich es möglich gemacht, vor jene Gräfin Seefeld hinzutreten und ihr zu beweisen, daß ich weder unwürdig noch undankbar gegenüber ihren Wohlthaten war; daß ich aber wissen möchte, aus welchem Grunde sie sich des verlassenen Kindes angenommen, ob ihre Gründe nur die des Mitleids, der, Barmherzigkeit gewesen, ob ihr Interesse für mich nur eine Spielerei war, die sie wegwarf, als man das Spielzeug bei ihr verdächtigte.«

»Was du denkst und fühlst, ist richtig, und ich könnte es auch wohl nicht verständlicher ausdrücken,« sagte Mamsell Stöckel.

»Ach, der Anblick Kolmas,« fuhr das junge Mädchen nach einer Pause fort, »hat alle die schönen Plane zerstört, die wir beide hier oben gemacht! Wie hat sich Kolma verändert, wie leidend sieht sie aus! Warst du nicht ebenfalls bei ihrem Anblicke erschrocken, Erich?«

»Ich kann das nicht leugnen, obgleich ich durch Nachrichten, die ich zufällig über sie erhielt, auf ihren Anblick vorbereitet war.« Er mochte nichts davon sagen, wie er sie vor dem letzten Mal gesehen.

»Welch traurige Aenderung in wenig, Jahren!« rief Blanda, nachdem sie eine Weile sinnend vor sich niedergeblickt, schmerzlich bewegt aus »und das bewog mich auch, rückhaltslos in alles zu willigen, was sie verlangte! Doch fürchte ich fast ihr Wiedererscheinen ich fühle mich so glücklich hier oben, besonders jetzt, da ich dich wieder gesehen, Erich, an den ich beständig und aufs herzlichste in den schwersten Augenblicken gedacht; dann erinnerte ich mich immer, wie du meine kleinen Pferdchen in jener Nacht so sicher durch die wilden Soldatenhaufen gelenkt denke dir aber mein Erstaunen, als ich dich vor nicht gar zu langer Zeit nun selbst inmitten ähnlicher Reiter erkannte, die mit den dumpfdröhnenden Geschützen an uns vorüberzogen!«

»Hattest du mich in der That erkannt, Blanda?«

»Frage die gute Stöckel, was ich ihr von dir sagte, als sie mein auffallendes und unanständiges Stehenbleiben streng verweisen mußte.«

»Und anderes noch,« meinte die ehemalige Lehrerin lächelnd.

»Woran ich aber sehr unschuldig war.«

»Aber als Hehlerin doch nicht ganz ohne Schuld.«

»Was war denn das, Blanda?« fragte Erich. »Du verzeihst meine Neugierde, da ich mir auch diesen Vorwurf als mit mir in einigem Zusammenhange denken muß.«

»Auf der Höhe vor unserem Hause erhob sich eine kleine Festung,« sprach Blanda unter einem schelmischen Lächeln gegen die Stöckel.

»Fort Maximilian!« rief Erich, dem nun plötzlich Schmoller einfiel und die ganze Geschichte, welche er von diesem erfahren.

»Mir war diese kleine Festung sehr gleichgültig, und wenn ich sie, nachdem ich dich gesehen, mit einigem Interesse betrachtete, so geschah das nur, weil ich durch eine Freundin erfahren, daß dort oben ebenfalls Artillerie liege.«

»Für welche sich deine Freundin lebhafter interessierte.«

»Mehr als billig war,« sagte ernst die ehemalige Lehrerin der Pension.

»O, ich kenne den Gegenstand dieses Interesses!« rief Erich lachend.

»Ich möchte lieber nichts mehr davon hören,« meinte Mamsell Stöckel; »es gibt denen ein Recht, denen ich gerade darin kein Recht geben möchte; jedenfalls war es von der Gräfin Haller unverantwortlich, dich zur Vertrauten zu machen.«

»So war es in der That eine so vornehme junge Dame,« fragte Erich erstaunt, »die mit einem meiner Kameraden Briefe wechselte und ihm ihr Porträt sandte?«

»Davon weiß ich nichts,« sagte Blanda eifrig.

»O, es sieht der leichtsinnigen Haller ähnlich!«

»Einem deiner Kameraden, Erich?«

»Einem einfachen Bombardier der Festungscompagnie des Forts Maximilian.

»Aber von guter und bekannter Familie?«

»O, ich glaub' wohl, daß seine Familie in ihren Kreisen als sehr gut gilt und dort auch wohl gut bekannt ist; wenn du aber unter dieser Bezeichnung eine vornehme und adelige Familie verstehst, so thut es mir leid, dir sagen zu müssen, daß deine Gräfin Haller sich arg täuschte. Schmoller kann durchaus keine Ansprüche machen auf eine vornehme Familie oder auf Reichtümer irgend welcher Art.«

»Er heißt Schmoller?« fragte Mamsell Stöckel. »Schade, daß ich das nicht früher gewußt habe, es wäre auch das ein Mittel gewesen gegen diese Kindereien der Gräfin Haller! Denn wer weiß für welch poetischen Namen sie geschwärmt hat aber hoffentlich alles das total vergessen in den ersten Tagen, welche sie zu Hause zubrachte.«

»Und mich dazu,« meinte Blanda mit einem trüben Lächeln; »doch gleichviel. Sage mir, Erich,« fuhr sie alsdann in heiterem Tone wieder fort, »wie ist dein Freund Schmoller, wie sieht er aus? Ich möchte ihn wohl einmal sehen!«

»O, er ist ein ganz anständiger junger Mann, gut aussehend, wenn ich auch nicht begreife, wie er imstande gewesen, bei jener jungen Dame so großes Interesse zu erregen!«

»Aus weiter Entfernung, Erich; ich glaube, daß sie ihn nie in der Nähe gesehen hat, und wenn auch vielleicht einmal, so war doch ihr Köpfchen so mit romanhaften Schwärmereien angefüllt, daß sie das an ihm, was vielleicht nicht in ihre Phantasie paßte, für Verstellung und Maske hielt. Sie schwärmte für einen jungen, hübschen und sehr vornehmen Kavalier, der sich ihr zuliebe in die Verkleidung eines Soldaten geworfen.«

»Die böse Frucht müßiger Stunden,« sagte die Stöckel, »und des Lesens verbotener Bücher, was Fräulein von Quadde der Gräfin Haller gern hingehen ließ, solange sie ihr Liebling war aber einem fremden jungen Menschen seine Photographie zu schicken!«

»Die ich hier zufällig bei mir habe. Schmoller gab sie mir, um vielleicht auf eine oder die andere Art zu erfahren, wo die ihm so plötzlich Entschwundene geblieben ist.«

»Laß sehen, Erich!«

Dieser hatte damals auf dem Fort Maximilian die Photographie nur sehr flüchtig angesehen, heute morgen aber gar nicht, und, als er sie jetzt aus dem kleinen Couvert hervorzog und betrachtete, konnte er sich eines leichten Erschreckens nicht erwehren.

Blanda nahm ihm das Blatt aus der Hand, und kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, so lachte sie laut und fröhlich hinaus, um aber gleich darauf mit etwas angenommenem Ernste zu sagen: »Ach, das ist doch recht abscheulich von Klothilde!«

»Was gibt's denn?« fragte Mamsell Stöckel.

»Das hat sie dem jungen Manne als ihr Bild geschickt!«

»Das meinige!« rief die ehemalige Lehrerin mit großer Entrüstung. »Sie hatte kein Herz, diese Haller sie haben alle kein Herz, diese Vornehmen! Mein Bild, das ich ihr freundlich und liebevoll gab, so förmlich wegzuwerfen pfui!«

Erich befand sich in Verlegenheit und suchte sich so gut als möglich mit der Wahrheit zu entschuldigen, besonders mit seinem allzu flüchtigen Betrachten der Photographie. Ja, es konnte kein Zweifel daran sein, die leichtsinnige junge Gräfin hatte das Bild ihrer Lehrerin an Schmoller geschickt, und dieser fühlte sein Herz gerührt durch die freundlich stillen Züge der guten Stöckel. »Jetzt verlange auch ich, Ihren Freund zu sehen,« sprach die Stöckel mit größerer Energie, als man sonst an ihr gewohnt war, »um ihm meine Empfindungen auszudrücken über das taktlose Benehmen jenes jungen Mädchens; und was diese Photographie anbelangt, so werde ich sie behalten.«

Sie entfernte sich etwas aufgeregt mit gerötetem Gesichte aus der Laube und dem Garten, die beiden jungen Leute allein lassend, wodurch aber eigentümlicherweise der bisher so muntere Redestrom im Sande zu verrinnen schien; vielleicht auch wohl, weil Erich mit herzlicher Freude schweigend in Blandas liebe, schöne Augen blickte, während sie unverwandt etwas in den langsam dahinziehenden Wolken zu suchen schien. Dann besann er sich plötzlich darauf, daß sein Spazierritt schon sehr lange gedauert habe, und diesem Gedanken Worte gebend, erhob sie sich mit ihm, und dann ging sie, die Hand auf seine Schulter gestützt, an seiner Seite vor das Jagdschlößchcn, wo er den Rappen bestieg und ihr dann zum Abschiede die Hand reichte.

»Nicht wahr, du kommst recht bald wieder, Erich?«

»O gewiß, recht bald, Blanda!«


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