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44. Kapitel

Reiseplaudereien unangenehmer und angenehmer Art; von einem freundlichen Feinde verlassen, findet Blanda einen feindlichen Freund und wird schließlich von diesem entführt.

Unterdessen rollte der bequeme Reisewagen des Grafen Dagobert Seefeld auf der Chaussee dahin und ließ rasch Station um Station hinter sich; überall standen die Pferde bereit und überall beeilten sich die Postillone sowohl beim Umspannen als bei der Erzählung der unerhörten Begebenheit, besonders nachdem sie schüchterne Blicke in das finstere Gesicht des Husarenoffiziers geworfen, der sich zuweilen beim Wechseln der Pferde vorbeugte, um düster in die langsam sich erhellende Gegend zu schauen. Nur selten hatte einer dieser Blicke seiner Nachbarin gegolten, welche, fest in die andere Ecke geschmiegt, fast gänzlich bewegungslos verharrte und nur zuweilen durch ein kurzes, schmerzliches Aufschluchzen ein Lebenszeichen von sich gab. Endlich aber war es hell genug geworden, um ihre bleichen, verstörten Gesichtszüge deutlich erkennen zu können, sowie ein eigentümliches Zucken ihrer gefalteten Hände und ein fröstelndes Erbeben ihres Körpers zu bemerken.

Bei diesem Anblicke, der allerdings jammervoll und traurig genug war, verwandelte sich langsam der düstere Groll in den Zügen ihres Nachbars in einen wohlwollenderen Ausdruck und er fragte, freilich noch in ziemlich rauhem Tone: »Nun, Sie werden jetzt bemerkt haben, daß ich weder beabsichtige, Sie zu beißen, noch Ihnen sonst ein Leides zuzufügen; wäre auch bei meinem verwundeten Arme selbst bei der schlimmsten Laune nicht zu dergleichen aufgelegt es wäre in jeder Richtung klüger von Ihnen, irgend etwas mit mir zu reden und mir zu sagen, wie Sie auf die verfluchte Idee kamen, mit jenem Menschen davonzulaufen!«

Ein Schauer überflog Blandas Körper und machte ihre bleichen Lippen erbeben.

»Frieren Sie vielleicht?«

»Ja,« hauchte sie leise.

Ein rascher Zug an der Schnur, die rückwärts zur Dienerschaft ging, brachte den Wagen nach ein paar Minuten zum Halten, worauf der Kammerdiener von seinem Sitze herabflog und an den Schlag trat.

»Geben Sie meinen Pelz und Fußsack herein dort für das Fräulein und helfen Sie ihr, da ich selbst nicht imstande bin.«

»O nein, ich danke Ihnen, ich habe ja meinen Plaid!«

»Aber ich will es so rasch, François!«

Im nächsten Augenblicke erschien der Kammerdiener an dem anderen Wagenschlage, öffnete denselben behutsam, und während der Lakai, der ebenfalls herbeigeeilt war, den Pelz des Grafen hielt, bemühte sich François mit der zarten Sorgfalt und Geschicklichkeit eines vortrefflich geschulten Dieners, Blandas Füßchen in die warme Umhüllung zu bringen; doch blickte er dabei seinen Herrn mit einem fragenden Ausdrucke an. »Was gibt's, François?«

»Das gnädige Fräulein müssen tief ins Wasser getreten sein, und da weiß ich doch nicht, ob ...«

»O, ich bitte Sie, Herr Graf, lassen Sie mich, wie ich bin!« flehte Blanda.

»Und ich bitte Sie ebenfalls,« erwiderte dieser in sehr entschiedenem Tone, »sich nicht auf lächerliche Art zu zieren! Ich {bild} sehe ganz genau, wie Sie der Frost schüttelt, und wenn wir noch eine Stunde dahinfahren, so habe ich eine Kranke an meiner Seite und das will ich nicht bei Gott, das will ich nicht!«

Das junge Mädchen fuhr zusammen bei dem, rauhen Tone, in dem er sprach, und blickte ihn scheu von der Seite an. Was konnte sie thun? Sie fühlte wohl, daß aller Widerstand vergebens sei.

»Schließ deinen Schlag, François, und warte, bis das Fräulein ihre nassen Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die Füße mit ihrem Plaid umwickelt hat!« Das befahl Graf Seefeld wie jemand, der überzeugt ist, daß von allen Teilen ohne Widerrede gehorcht werde, und um diese Ueberzeugung noch zu schärfen, ließ er das Wagenfenster an seiner Seite herab und lehnte sich hinaus, um in die Gegend zu schauen.

»Sind Sie fertig?«

»Ja. Herr Graf.«

»Es ist von Ihnen sehr klug, daß Sie gehorsam waren Francis, den Fußsack so; nun decke den Pelz über das Fräulein und dann mache, daß wir weiterkommen! Sage auch dem Postillon mein Kompliment, und er möge die Güte haben, den Aufenthalt wieder einzubringen!«

Dahin flog der Wagen mit erneuerter Schnelligkeit, und es schien, als ob es den Pferden selbst darum zu thun wäre, dem Wunsch des Reisenden nachzukommen und so bald als möglich den warmen Stall zu erreichen; denn jetzt, bei Sonnenaufgang, wurde es empfindlich kalt, und Dagobert Seefeld, der zuweilen einen flüchtigen Blick auf seine Nachbarin warf, bemerkte zu seinem Vergnügen, daß unter der warmen, schützenden Hülle auf den eben noch so verstörten Zügen des jungen Mädchens sich eine angenehme Ruhe, der sichtliche Ausdruck von Wohlbehagen, gelagert hatte; ja, es zeigte sich auf denselben eine leichte, freundliche Röte, vielleicht auch hervorgebracht durch den Reflex auf den Fensterscheiben der im Rücken der Fahrenden glühend aufsteigenden Sonnenscheibe. Aber auch ihre Atemzüge hatten das Unruhige, Schluchzende verloren, und nachdem Blanda, aus einem leichten Halbschlummer auffahrend, noch einmal hastig, beinahe scheu um sich geblickt, sank sie in einen tiefen Schlaf, wie ihre nun ganz regelmäßig sanften und langen Atemzüge verkündeten.

Dagobert Seefeld hatte sich fest in seine Ecke gedrückt und betrachtete das schlummernde Mädchen mit großem Interesse. Noch nie war ihm die edle Form des Kopfes, die regelmäßige, gänzlich untadelhafte Schönheit ihrer Gesichtszüge so aufgefallen. Wie frei und prächtig war ihre breite, offene Stirn! Wie anmutig senkten sich die Augenlider mit den langen, seidenartigen Wimpern herab! Wie reizend geformt waren ihre leicht geöffneten Lippen, zwischen denen man die weißen Zähne hervorschimmern sah! Er bedeckte mißmutig seine Augen mit der Hand und konnte sich eines unangenehmen bitteren Gefühls nicht erwehren, während er vorwurfsvoll zu sich selber sagte: Das habe ich wieder einmal recht dumm, recht tölpelhaft angegriffen sehen wir, was gut zu machen und was bei einer ganz entgegengesetzten Behandlung zu erreichen ist.

Dann kam eine neue Station, und als sich François hier sogleich am Schlage zeigte, legte Graf Seefeld mit einem strengen Blicke den Zeigefinger auf den Mund, worauf das Umspannen mit einer Ruhe vor sich ging, als seien Postillone und Pferde nur Schattengestalten gewesen, ebenso auf der nächsten Station, wogegen auf der übernächsten zuerst eine lange Holzbrücke über einen Fluß zu passieren war und der Wagen alsdann in die engen Straßen eines kleinen Städtchens einfuhr, worauf bei dem ersten Klange der Hufeisen auf dem Pflaster Blanda die Augen aufschlug und verwundert, erschreckt um sich blickte.

»Sie haben mehrere Stunden recht gut geschlafen,« sagte der Husarenoffizier in ruhigem, freundlichem Tone, »und befinden sich, hoffe ich, besser?«

»O ja aber...« sagte sie auffahrend und mit einem fragenden Blicke ängstlich um sich schauend.

»Beruhigen Sie sich vollkommen; Sie sehen, daß ich eigentlich doch kein Werwolf und auch kein Menschenfresser bin, und wenn Sie die Güte haben wollen, bei sich zu überlegen, daß ich Sie nach dem, was heute früh vorgefallen, doch nicht auf der Landstraße lassen konnte, so werden Sie mir, wenn mir nachher weiterfahren, wohl ein paar Worte der Ueberlegung gönnen.«

»O mein Gott ja, es ist Entsetzliches vorgefallen, und wir sind recht, recht unglücklich geworden!«

»Sagen Sie nicht: wir,« gab Dagobert Seefeld mißmutig zur Antwort »wer Böses säet, muß erwarten, daß Schlimmes aufgeht.«

Warum wandte er die Augen rasch von ihr ab, als Blanda ihn nach diesen Worten mit einem traurigen Blicke betrachtete? »Wenigstens jetzt hier lassen Sie diese Erinnerungen, die auch mir unangenehm genug sind später, an einem andern Orte, ist vielleicht darüber zu reden. Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich Sie aufs rücksichtsvollste behandle, was allerdings, wie ich leider bekennen muß, nicht immer geschehen ist. Stellen Sie sich meinetwegen vor, wir seien ein paar feindliche Parteien, die einen Waffenstillstand geschlossen, aus welchem vielleicht nach glücklicher Uebereinkunft später ein dauernder Friede entstehen kann.«

Sie sagte nichts darauf, blickte vielmehr mit düsterem, starrem Blicke vor sich nieder.

»Geben Sie wenigstens meinen Leuten,« fuhr er in einem bitteren Tone fort, »nicht durch fortgesetzte allzu große Unfreundlichkeit Ursache zu weiteren unnötigen Betrachtungen.«

»Seien Sie überzeugt,« erwiderte sie leise, »daß ich Ihnen für das Gute, welches Sie mir erzeigt, gewiß dankbar sein werde, aber, wäre es nicht auch für Sie angenehmer und besser, wenn Sie mich hier in dem Städtchen, das wir so eben erreicht haben, meinem Schicksale überließen o, ich flehe darum!«

»Nein,« antwortete er kurz und barsch »wozu auch? Hätten Sie vielleicht die thörichte Idee, zurückzukehren, um... Doch wozu das wieder erwähnen! Beantworten Sie mir lieber eine Frage offen und ehrlich: Sind wir hier nicht auf demselben Wege, den Sie beabsichtigten, mit dem Eilwagen zu verfolgen?« Ich vermute fast, ja, ich vermute noch mehr, ich denke, daß wir ein und dasselbe Reiseziel haben.«

»Aber meines verändert sich vollkommen, wenn wir es gemeinschaftlich erreichen.«

»Das hat was für sich,« versetzte er mit einem kurzen Lächeln, »und wäre zu überlegen, wie denn überhaupt manches zu überlegen und in Ordnung zu bringen wäre, wenn Sie mir ein wenig Vertrauen schenken wollten. O, ich verstehe Ihren Blick, doch denken Sie an meinen Vorschlag, daß wir zwei feindliche Parteien sind, die aber behufs Unterhandlungen einen Waffenstillstand geschlossen haben bitte, denken Sie daran.« »Ich will thun, was mir möglich!« Diese Worte rangen sich mit einem schmerzlichen Seufzer kaum hörbar aus ihrer Brust.

Damit hielt der Wagen, und der geschäftige François erschien am Schlage, um seinem Herrn zu melden, daß das befohlene Frühstück im Posthause bereit stehe.

»Ich will nicht aussteigen, mag auch den Leuten hier wegen meines Armes keine weitere Veranlassung zum Reden geben, ersuche dich überhaupt, dem Postillon zu sagen, daß wenn er seinem neuen Kollegen Mitteilungen über jenen Vorfall schuldig zu sein glaubt, er sich auch von diesem für diese Mühe das Trinkgeld soll bezahlen lassen. Hast du mich verstanden?«

»Gewiß, Erlaucht, und habe das auf der letzten Station schon aus eigenem Antriebe besorgt.«

»Danke.«

»So befehlen Erlaucht, daß das Frühstück in Ihrem Wagen serviert wird?«

»Ja, etwas Weniges für mich, und was das Fräulein befiehlt« ....

»O, ich danke für alles, Herr Graf!«

»Das Fräulein wird wohl ebenfalls eine Tasse Thee wünschen also mach' hurtig, François!«

Rasch wurde das Verlangte gebracht, und auch Blanda konnte sich ferner nicht weigern, von dem angenehm duftigen Thee, sowie einigen Zwieback zu nehmen, wobei sie aber einen schüchternen Blick auf ihren Nachbar warf; nicht aus Furcht oder Verlegenheit, sondern weil sie sah, wie schwer es ihm bei seinem verwundeten Arme wurde, die Tasse zu halten, worauf das Mitgefühl sie veranlaßte, ihm ihre Hilfe anzubieten. Er nahm das auch an, und als er hierauf seinen Dank sagte, klang der Ton seiner Stimme ernst, ja ehrerbietig.

Weiter rollte nun der Wagen, und während Blanda jetzt mit gefalteten Händen dasaß und mit trübem Blicke in die Gegend schaute, sie hatte den Pelzüberwurf, der ihr zu warm geworden, von ihren Schultern herabgleiten lassen lehnte sich der Graf in seine Ecke zurück und schien augenblicklich einzuschlafen, wenigstens sprachen dafür seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge. Dann nahm Blanda, nachdem sie einen forschenden Blick auf den Schlafenden geworfen, ihr Hütchen ab und ordnete ihr prächtiges, blondes Haar, zuweilen scheu auf die Seite blickend, aber beruhigt durch seine fest geschlossenen Augenlider.

Und doch hatte er alle ihre Bewegungen belauscht, und es war ein seltsam angenehmes Gefühl, welches ihn überschlich, als {bild} er das schöne junge Mädchen so neben sich sitzen sah in dem einfachen, fast ärmlichen grauen Kleidchen, das aber, besonders als sie ihre Arme emporhob, um mit den seinen Fingern ihr volles Haar aufzustecken, so recht ihre schönen Formen zeigte. Doch hütete er sich wohl, auch nur durch eine Bewegung, durch einen Blick ihr Vertrauen zu täuschen; denn trotz des rücksichtslosen Leichtsinnes, der ihn von jeher beherrscht, fühlte er sich mehr und mehr von einer ehrerbietigen Scheu gegen das junge Mädchen erfüllt, ja, er begriff es selbst nicht, wie jetzt an ihrer Seite so ganz eigentümliche Phantasien in ihm auftauchten, wie er es mit einem Male für ein ganz beneidenswertes Los hielt, wenn dieses schöne junge Wesen auf die natürlichste und zugleich verständigste Art neben ihm hätte sitzen können. Er hatte immer noch Poesie genug, um sich das in seinen Folgen mit den glühendsten Farben auszumalen, und es kam ihm der Gedanke, wie glücklich er vielleicht sein könne, wenn sie jetzt ihr edles, schönes Gesicht ihm freundlich zuwenden, vielleicht ihre Hand auf die seinige legen und ihm ein freundliches Wort zuflüstern würde.

Daß aber dies in Wirklichkeit ganz anders war, ließ ihn jetzt mit einem Seufzer aus seinem Scheinschlafe auffahren. Trotzdem die Straße etwas aufwärts stieg, trabten die Pferde lustig davon, waldbewachsenen, nicht mehr fernen Höhen entgegen.

»Das ist für mich schon eine recht bekannte Umgebung,« sagte Dagobert Seefeld, »und dort vor uns, wo die Wälder anfangen, beginnt das Jagdrevier der Waldburg. Wir haben noch zwei Stationen, und ich muß gestehen, daß wir nicht schlecht gefahren sind in zwei starken Stunden habe ich mein Reiseziel erreicht, und jetzt wäre es nicht übel, Fräulein Blanda, wenn Sie mich mit Ihren Plänen bekannt machten.« Sie hatte diese Frage schon längst erwartet und sich nach reiflicher Erwägung entschlossen, ihm ohne Rückhalt den Zweck ihrer Reise mitzuteilen, wobei es ihr von Wert erschien, in schlichten Worten von ihrer Vergangenheit zu reden. Konnte sie auch anders, ohne daß es erschien, als wolle sie ihm absichtlich Unwahres sagen! War es nicht auch eine Fügung des Schicksals, daß gerade dieser Mann es war, den ein allerdings schrecklicher Vorfall in ihren Weg geführt! Auch war die zarte, rücksichtsvolle Behandlung, die er gegen sie angenommen, nicht ohne Eindruck auf ihr gutes, empfängliches Herz geblieben, und dann lag es schließlich auch mit in seiner Hand, das Los des unglücklichen Erich, der ja allein um ihretwillen so elend geworden war, zu mildern, wenn nicht wieder ganz zum Guten zu wenden. Thränen hatte das arme Mädchen während der Nachtfahrt zur Genüge vergossen, und wenn jetzt, während sie sprach, ihre Augen heiß, trocken, unbewegt erschienen, so waren sie darin nur der Spiegel ihres Herzens, das ebenfalls nach dem erduldeten furchtbaren Schmerze nur noch teilnahmlos sich zu bewegen schien, für die Außenwelt gleichgültig, krampfhaft umschließend ein heiß geliebtes Bild, über dessen Haupt Blitz und Donner in verschiedener Gestalt hinweggegangen war.

Von dem, was sie ihm, wie oben schon erwähnt, in schlichten, einfachen Worten erzählte, schien er vieles zu wissen, auch über ihre Erlebnisse in dem adeligen Stifte; denn er nickte zuweilen beistimmend mit dem Kopfe, sagte auch wohl: »Ja, ja« und: »Ich hörte davon« auch wuchs mit allem, was sie sprach, sein Interesse an ihrer Erzählung und an der Erzählerin, und zuletzt konnte er sich des Ausrufes nicht enthalten: »Ach, wenn ich das alles vorher erlebt, vorher erfahren hätte! Doch ist darin noch viel wieder gut zu machen wollen Sie mir vertrauen, Blanda?«

Sie sah ihn zweifelnd an.

»Wagen Sie es immerhin.« fuhr er in einem Anfluge von Treuherzigkeit fort, den man höchst selten an ihm gewahrte »vergessen Sie alles, was geschehen ist, und lassen Sie aus dem Waffenstillstande einen lang dauernden Frieden werden.«

Da zuckte es schmerzlich über Blandas Gesicht; sie hob die gefalteten Hände empor und preßte sie fest gegen ihren Mund, um das Beben ihrer Lippen zu verbergen, konnte aber deshalb doch nicht ihre Thränen unsichtbar machen, die nun rasch und heftig aus ihren Augen tropften: »Und er, der für mich so unglücklich geworden ist!«

»Erinnern Sie mich in diesem Augenblick nicht daran,« sprach Graf Seefeld unmutig, »das kann vielleicht in zweiter und dritter Linie kommen; was jener erduldet, muß er auf seine eigene Rechnung nehmen und ist schon im voraus überreich bezahlt durch Ihre Teilnahme. Lassen Sie uns ohne Bedingungen Frieden schließen; Sie müssen mir doch das Zeugnis geben, daß ich mich heute gegen Sie benommen, wie wie ein Bruder gegen seine Schwester; leider darf ich keinen anderen Vergleich wählen. Deshalb reichen Sie mir Ihre Hand zur Versöhnung.«

»Und mit meinem heißesten Danke,« rief sie, in lautes Weinen ausbrechend, »wenn Sie mir dabei eine Bedingung gestatten!«

»Lassen wir das für heute gut sein,« bat er dringender, »ich bin ja kein Unmensch und werde gewiß thun, was in meinen Kräften steht alles, was ich kann, für einen freundlichen Blick {bild} aus Ihren schönen Augen, für das Glück, Ihre Hand in der meinen halten zu können also Frieden, Blanda!«

»Ja Frieden unter Bedingungen.«

Dann mußte sie es wohl geschehen lassen, daß er ihre Hand ergriff und sich niederbeugte, um einen Kuß auf ihre zarten, feinen Finger zu drücken.

»Und nun lassen Sie uns überlegen. Ich weiß, daß meine Tante, die Gräfin Seefeld, sehr gegen Sie eingenommen worden ist, und es soll an mir nicht fehlen, diesen bösen Eindruck zu verwischen; doch muß ich dabei sehr klug und behutsam zu Werke gehen, um,« setzte er mit einem bedeutsamen Lächeln hinzu, »nicht alles zu verderben, denn die Frau Gräfin Seefeld und ich sind nicht immer die besten Freunde gewesen, wahrhaftig ohne meine Schuld! Mein Oheim, der Herr Christian Kurt, wird ohne direkte Nachkommen sterben, weshalb auf mich das Majorat des großen Vermögens übergeht und weshalb böswillige Zwischenträger sich bemühten, mich meiner Tante als ihren gefährlichsten Feind darzustellen. Ich kenne diese Zwischenträger wohl, bin aber leider noch obendrein gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, bis ...« hier überflog ein häßlicher Schatten seine Züge »ja, ich bin sogar gezwungen, mich dieser Zwischenträger zu Ihren Gunsten zu bedienen.«

»O nein, Herr Graf, nicht wegen meiner meine Sache ist so einfach und klar! In meiner Absicht liegt es ja nur, die Frau Gräfin von Seefeld zu überzeugen, daß sie ihre Wohlthaten an keine Unwürdige verschwendet; dann um eine kleine Auskunft zu bitten über meine arme Mutter. Weiter will ich nichts erreichen, nicht das Allergeringste Gott ist mein Zeuge um alsdann wieder spurlos zu verschwinden.«

»Um wieder spurlos zu verschwinden?« sagte er mit einem Lächeln und nachdem er, von Blanda unbemerkt, einen heißen Blick auf sie geworfen. »Ueberlassen wir das der Zukunft und mir, zu überlegen, wie Ihre Sache am besten anzugreifen ist. Ihr Reiseziel war Königsbronn, welches Städtchen, eine kleine Stunde von der Waldburg entfernt, vor uns liegen wird, sobald wir jene Höhe erreicht haben; gut, dort bleiben Sie, bis ich droben mein Terrain untersucht habe und Ihnen Nachricht gebe.«

Blanda hatte dagegen nichts einzuwenden, da es ja geradeso in dem Plane lag, den sie mit Erich besprochen, und da sie hoffen durfte, dessen bewährten Freund und Beschützer, den Doktor Burbus, in Königsbronn zu sehen und seinen Rat zu hören.

»Halten Sie mir indessen ein freundliches Andenken, Blanda,« sagte Dagobert Seefeld, »und vergessen Sie nicht, daß alle unangenehmen Erinnerungen ausgelöscht sein müssen. Da wir uns aber Ihrem Ziele sehr rasch nähern und Sie dort leider gezwungen sind, meinen Wagen zu verlassen,« fuhr er heiter fort, »so werde ich mit größter Diskretion mich bemühen, einen Blick in die Landschaft zu werfen, um Ihre Toilettengeheimnisse nicht zu stören, kann aber nicht umhin, Ihnen die Versicherung zu geben, daß ich glücklich in dem Gedanken sein werde, Sie an meiner Seite so beschäftigt zu wissen.«

Eine tiefe Röte flog bei diesen Worten über das Gesicht des armen, jungen Mädchens; doch als sie sah, wie sich ihr Nachbar gänzlich aus dem Wagenschlage lehnte, Umschau in der Gegend haltend, da nahm sie rasch ihr kleines Reisetäschchen hervor, um unter dem verhüllenden Reisepelze ihren Anzug wieder zu vervollständigen.

Der Graf hatte unterdessen seinen Kammerdiener gefragt, ob er glaube, daß man von der Waldburg Relais für ihn nach Königsbronn geschickt habe, was jener mit der Bemerkung verneinte, daß Seine Erlaucht ja ausdrücklich befohlen hätten, die Zeit ihrer Ankunft nicht anzugeben.

»Es ist mir auch lieber so; sage dem Postillon, er soll mir in Königsbronn keinen unnötigen Lärm mit seinem Horn machen und mit dem Wagen in den Thorweg zur Post einfahren das Fräulein will dort aussteigen.«

»Gut, Erlaucht.«

»Darf ich jetzt wieder hereinkommen?« fragte er hierauf lachend und halb gegen Blanda gewendet.

»Gewiß, Herr Graf, und ich danke Ihnen herzlich.«

»Vielleicht auch Ihrem Schutzengel, daß unsere gemeinschaftliche Fahrt zu Ende ist?« fuhr er fort, wobei sich sein Lächeln in einen ernsten, fast trüben Ausdruck verwandelte.

»Warum sollte ich das? Sie waren so gütig und freundlich gegen mich!«

»Also keine Rancune mehr ehrlicher Friede!«

»Gewiß, und mit der herzlichsten, dankbarsten Erinnerung, wenn Sie nicht vergessen wollen, Herr Graf, daß Sie mir eine Bedingung zugestanden.«

»Mit Ihren Bedingungen, Blanda! Verbittern Sie mir doch dadurch nicht den letzten glücklichen Augenblick! Nun ja, ich will thun, was in meiner Macht steht reichen Sie mir aber noch einmal Ihre kleine Hand zum Abschiede der Postillon da draußen rast doch, als ob er des Teufels wäre!« rief er hierauf unmutig, als beim Ueberfahren einer Brücke dicht vor dem Städtchen der Wagen einen Stoß erhielt, der ihn nötigte, die Hand des jungen Mädchens früher loszulassen, als er wahrscheinlich beabsichtigt. Dann rasselte und dröhnte es durch die engen Straßen des Städtchens, und nach einigen Minuten fuhr der Postillon in vollem Laufe der Pferde unter den Thorbogen des Posthofes, dort vor der Eingangsthür ins Gasthaus so scharf parierend, daß er jedenfalls ein dreifaches Trinkgeld verdient hätte. Da stand auch schon der Wirt, die Mütze ehrerbietig in der Hand, und verbeugte sich aufs tiefste vor Sr. Erlaucht.

»Sind ein paar der besten Zimmer Ihres Hauses unbesetzt?«

»Unbesetzt wohl, Erlaucht, aber für heute abend bestellt.«

»So bitte ich Sie, die Zimmer dieser jungen Dame anzuweisen und den Besteller meinetwegen eine Treppe höher hinauf zu logieren.«

»Ich will thun, was ich kann, Erlaucht, wenn ...«

»Bitte, kein Wenn und Aber; ich werde heute mittag noch herüber reiten, um nachzusehen, wie das Fräulein untergebracht ist und hoffe,« sagte er leise zu Blanda, »daß Sie mich alsdann freundlich empfangen werden!«

Mit herzlichen Worten das bejahend, dankte sie ihm nochmals für seine Güte und ließ sich dann von dem Wirte auf ihr Zimmer führen, wo sie ans Fenster trat, um ein paar Minuten später mit seltsamen Gefühlen dem davonrollenden Wagen nachzublicken, tief und schmerzlich erregt, wenn sie daran dachte, wie furchtbar der Augenblick gewesen war, der ihrer Fahrt vorangegangen. War das alles nur ein beängstigender Traum oder war es die entsetzliche Wirklichkeit? Doch war an letzterem nicht zu zweifeln, denn da stand sie allein, in einem ihr unbekannten Hause einer fremden Stadt dort lagen ihr Plaid und ihre kleine Reisetasche, und jetzt, so deutlich in der Erinnerung, tauchte wieder die entsetzliche Scene vor dem Posthofe in ihrer Seele auf, zugleich mit dem furchtbaren Gedanken, daß sie Erich verloren, vielleicht für immer verloren habe.

Blanda warf sich in die Ecke des Sophas und verharrte dort lange, lange Zeit schweigend, träumend, sich selbst beschwichtigend, um sich gleich darauf wieder aufs heftigste selbst anzuklagen, daß sie sich von ihm hatte wegreißen lassen, daß sie es nicht versucht, ihn mit ihren Armen, mit ihrer Brust vor einer schmachvollen Gefangenschaft zu decken eine Anklage, von der sie sich indessen gleich darauf mit trübem Lächeln wieder lossprechen mußte, da das ja doch alles unmöglich gewesen wäre, und von der nach langem Sinnen und Denken als einziges Resultat nur die traurige Gewißheit übrig blieb, daß sie ihn durch ihre Aufforderung, sie zu begleiten, wahrscheinlich ins tiefste Unglück gestürzt habe.

Und was nun weiter – was konnte sie für ihn thun? An sich selbst dachte sie in diesem Augenblicke nicht. Was vermochte sie zu seinen Gunsten zu wirken? Durch den Grafen Seefeld schwerlich, durch die Gräfin noch weniger! Ah, vielleicht durch jenen Freund Erichs, durch den Doktor Burbus! Und bei diesem Gedanken sah sie einen Lichtschein in dem traurigen Dunkel ihrer wirren Träume. Ihn mußte sie aufsuchen, um ihm alles zu erzählen, was mit Erich vorgefallen war.

Dieser Vorsatz entriß sie ihrem dumpfen Hinbrüten und führte sie hoffend und mutig in die Gegenwart zurück. Sie nahm aus ihrem Reisetäschchen, was sie brauchte, um ihre durch den langen und beschwerlichen Weg von gestern nacht gänzlich schadhaft gewordenen Stiefelchen notdürftig zu ersetzen, fühlte aber dabei jetzt erst zu ihrem Schrecken, wie sehr sie die Länge ihrer Reise unterschätzt und in welch unangenehme Lage sie nun kommen mußte, da es ja dem armen Erich unmöglich geworden war, ihr das, was sie an notwendigen Dingen besaß und vorläufig auf dem Jagdschlößchen gelassen hatte, wie verabredet, heute noch nach Königsbronn nachzuschicken. Allerdings hatte sie das Allernotwendigste bei sich, und als sie, vor dem Spiegel stehend, ihr graues Kleidchen zurechtzog und glättete, auch mit größerer Sorgfalt als vorhin im Wagen ihr Haar aufsteckte, da beschlich sie ein Gedanke von beinahe hochmütiger Gleichgültigkeit. Ihre feinen Lippen wölbten sich trotzig, ihre Blicke erschienen düster und herausfordernd {bild} und ihr Bewußtsein wurde neu erhoben und gestärkt von dem Gedanken, daß sie ja nicht notwendig habe, als demütig Bittende zu erscheinen, sondern daß sie nur gekommen sei, um Gerechtigkeit zu verlangen für sich und auch für Erich, den man ja gewaltsam in das Unrecht, wenn er wirklich eines begangen, hineingetrieben hatte.

Dieser Gedanke für ihn, den Blanda solchergestalt hartnäckig festhielt, gab ihr die völlige Sicherheit wieder, und sie öffnete die Thüre ihres Zimmers, um jemand herbeizurufen, bei dem sie sich nach dem Doktor Burbus erkundigen könne.

Da vernahm sie, wie zwei Männer sprechend die Treppe herauf stiegen, und um nicht für eine Lauschende angesehen zu werden, drückte sie langsam die Thür bis auf einen kleinen Spalt wieder zu und hörte nun, wie der eine mit einer sehr tiefen, aber wohlklingenden Stimme sagte:

»Theuerster Wirt und Posthalter, das ist alles recht schön und gut, aber es gibt etwas im Leben, welches bürgerlicher Mut heißt, und dieses Etwas hätte Sie veranlassen sollen, daß, wenn für jemand Zimmer bestellt sind, durch mich, den wohlbekannten Doktor Burbus ...«

»Doktor Burbus!« hauchte Blanda.

»... ich nicht der Mann bin, der es so ruhig hinnimmt, wenn diese Zimmer, selbst nur vorübergehend, durch junge Damen besetzt werden, welche der Herr Graf zu ihrem erlauchtigen Vergnügen auf dero Reisen mit sich herumführt!«

Der Wirt murmelte etwas, welches das durch die letzten Worte auf das schmerzlichste berührte junge Mädchen nicht verstand, worauf der andere erwiderte:

»Eh, vortrefflicher Posthalter und Bärenwirt, so lassen Sie das grimmige Tier auf Ihrem Wirtshausschilde, das Sinnbild von Mut und Kraft, herabnehmen und dafür ein zartes Lämmlein aufsetzen ei was, Graf Seefeld, hier bei Ihnen heißt es auch, wie bei uns in der Mühle: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Und nun zeigen Sie jener jungen Dame dann die anderen, ebenfalls vortrefflichen Zimmer; ich bestehe auf meinem Rechte, da ich heute abend mit dem Eilwagen auch eine junge Dame erwarte, die aber für mich den Wert einer Prinzessin von Geblüt hat!«

Der Bärenwirt zuckte mit den Achseln und machte ein recht verlegenes Gesicht, als er nun vor der betreffenden Thür stand, den Finger gekrümmt, um anzuklopfen.

Doch überhob ihn Blanda dieser Mühe, denn es deuchte ihr gut und richtig, die Thür weit zu öffnen und die Herren zu ersuchen, bei ihr einzutreten. Doch war der Bärenwirt klug und feige genug, dies nicht zu thun; er ließ vielmehr den Doktor voranschreiten und zog dann die Thür sachte zu, worauf er sich rasch davon machte, und Blanda sah sich hierauf einem alten Herrn gegenüber mit wohlwollenden Gesichtszügen, weißem, buschigem Haare, dessen kluge scharfe Augen sie forschend betrachteten, während ein vielbedeutendes Lächeln um seinen Mund spielte. »Herr Doktor Burbus? fragte das junge Mädchen, und dann {bild} ersuchte sie ihn durch eine Handbewegung, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Und das wollte er denn auch schon thun, wobei er den Mund eigentümlich spitzte, als sei er im Begriffe, eine Melodie zu pfeifen; doch besann er sich eines anderen und nahm rasch einen Stuhl, auf welchen er sich, dem Sofa gegenüber, setzte, während das junge Mädchen ohne weiteres sich auf dieses niederließ.

»Wie ich soeben, eigentlich unfreiwillig, vernommen,« sagte Blanda, »so sind Sie gekommen, Herr Doktor, um den Wirt zu veranlassen, mir ein anderes Zimmer anzuweisen.« »Da Sie das gehört haben, so ersparen Sie mir die unangenehme Mühe der Wiederholung.«

»Und werde Ihrem Wunsche sogleich Folge leisten.«

»Das heißt, ganz nach Ihrer Bequemlichkeit; denn was ich zu diesem Wirte sagte, galt eigentlich mehr dessen Rücksichtslosigkeit, Zimmer, die ich ausdrücklich bestellt hatte, so ohne weiteres wegzugeben ja, Mamsell, ich habe diese Zimmer bestellt für eine Dame, die ich in ein paar Stunden erwarte.«

Blanda konnte sich eines leichten Lächelns nicht enthalten, welches aber auf den Doktor keinen angenehmen Eindruck hervorzubringen schien; er fuhr hastig mit der Hand durch sein dichtes, weißes Haar und meinte dann in gleichgültigem Tone:

»Sie werden durch diesen Wechsel nicht viel verlieren, und auch mir würden die anderen Zimmer den gleichen Dienst leisten, wenn ich es diesem Wirte und anderen gegenüber nicht für notwendig hielte, auf meinem Rechte zu bestehen, ja, ehrlich gesagt, wenn der andere noch ein anderer wäre, würde ich vielleicht diesen Schein der Unhöflichkeit nicht auf mich geladen haben.«

»Das bedarf durchaus keiner Entschuldigung,« erwiderte Blanda, indem sie aufstand und Miene machte, ihr Reisetäschchen zu ergreifen. »Sie erlauben mir aber wohl noch die Frage, ob es vielleicht außer Ihnen in hiesiger Gegend noch einen anderen Herrn Doktor Burbus gibt.«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Das ändert allerdings die Sache,« sagte Blanda, wobei sie sich zum großen Erstaunen des Doktors wieder in ihre Sofaecke niederließ und dann mit einigermaßen bewegter Stimme fortfuhr: »Wenn Sie der einzige Herr Doktor Burbus in hiesiger Gegend sind und vielleicht jener Herr Doktor Burbus, der die Freundlichkeit hatte, sich vor Jahren eines armen jungen Menschen Namens Erich Freiberg anzunehmen, so habe ich vielleicht Ursache, dieses Zimmer so rasch nicht wieder zu verlassen.«

Das Erstaunen, die Überraschung des alten Herrn wuchs bei diesen Worten zusehends, zeigte sich aber nicht von angenehmer Art; vielmehr zog er seine buschigen Augenbrauen finster zusammen und brach dann in die wenig erfreulichen Worte aus: »Ei, das wäre ja eine verfluchte Geschichte ah, Mamsell oder mein Fräulein, das hätte mir dieser Erich nicht anthun sollen!«

»Und ist also auch für mich genügend, um dieses Zimmer sogleich zu verlassen.«

Der Doktor war hastig aufgesprungen, hatte seine Hände auf, dem Rücken zusammengelegt und durchmaß kopfschüttelnd das Zimmer mit großen Schritten, wobei er abgebrochene Sätze hören ließ, wie: »Das ist denn doch zu stark das hätte ich nimmer erwartet so ist er getäuscht worden so wurde ich getäuscht!«

»Und am meisten ich selber!« sagte Blanda in traurigem Tone.

Der Doktor blieb mit einem plötzlichen Rucke stehen. »Oder Sie? Sie sind doch keine andere, als die vor einer Stunde nach nächtlicher Fahrt mit Sr. Erlaucht, von dem wohlbekannten Herrn Grafen Dagobert Seefeld hier abgeliefert wurde, ehe er nach der Waldburg weiter fuhr?«

»Ich verstehe nicht ganz den Sinn Ihrer Worte, aber was ich davon verstehe, ist genug, um mich mein unaussprechliches Unglück übersehen zu lassen!« Sie preßte ihre Lippen aufeinander, und in ihren Augen zuckte es schmerzlich.

Der Doktor betrachtete sie rasch mit einem durchdringenden Blicke, und da er ebenso gutmütiger Natur als ein großer Menschenkenner war, so mochte er in der rührenden Gestalt des jungen Mädchens, in ihrer jetzt so hülflosen Haltung, in dem Ausdrucke ihrer schwimmenden Augen etwas lesen, das er einer näheren Untersuchung für wert hielt. Genug, er trat dicht vor sie hin und sagte mit einer Stimme, die nicht mehr so rauh klang, als soeben: »Ich bin Arzt, Fräulein, verstehe mich auch ziemlich auf Seelenzustände, und wenn ich einem Kranken, der mich rufen läßt, helfen soll, so verlange ich, daß er mir seine Leiden von ihrer ersten Entstehung an genau, offen und ehrlich schildert; dann verschreibe ich ihm ein Rezept oder sage ihm ebenso ehrlich: Freund, dir ist nicht zu helfen.«

»Und so wollen Sie auch mich anhören?«

»Gewiß, und Ihnen auch ebenso antworten durch Rezept oder Achselzucken.«

»Aber ich kann meine Erzählung nicht in die Zeit von zehn Minuten zusammendrängen.«

»Zum Henker, das habe ich auch nicht verlangt! Und wenn Ihre Erzählung, wie ich hoffe, mich interessiert, besonders in gewissen Beziehungen interessiert,« sagte der Doktor Burbus mit Nachdruck, »so soll es mir gehen, wie dem Glücklichen, für welchen auch keine Stunde schlägt.« Darauf hin dankte ihm Blanda herzlich und erzählte ihm alsdann einfach und bescheiden, was sie von ihrer Jugend wußte; doch schien dies den Doktor nur von dem Augenblicke an zu interessieren, wo sie von jenem Manövertage als Vorspiel des Abends auf der Waldburg sprach, wo sie Erichs zum erstenmale erwähnte, dessen Gefangenschaft und Rettung sowie auch von den nun folgenden Ereignissen ihres Lebens. Von der Krankheit ihrer Mutter auf der Waldburg und von dem Tode derselben schien er allerdings schon einiges erfahren zu haben, aber auch das, was er wußte, sorgfältig mit der Erzählung Blandas zu vergleichen und dabei zu einem befriedigenden Resultate zu kommen. Er nickte ein paarmal mit dem Kopfe, er ließ einigemale »Hm, hm« hören, ja, er verließ gleich darauf den Stuhl, auf dem er nicht allzu bequem gesessen, und ließ sich neben dem jungen Mädchen auf dem Sofa nieder, sie zuweilen so aufmerksam betrachtend, als halte er es für nötig, ihre kindlich reinen und dabei so edel schönen Züge wie eine Illustration ihrer Erzählung anzusehen.

Für uns und den geneigten Leser alles schon bekannte Dinge, die ihn aber mehr und mehr zu interessieren schienen, besonders die Vorfälle in dem adeligen Damenstifte, bei deren Schilderung er ein paarmal herzlich lachte, dann aber sehr ernst wurde, als sie von den Ereignissen auf dem Jagdschlößchen berichtete und nun Erichs Person sehr in den Vordergrund trat. Bei ihrem Entschlusse, das Jagdschlößchen zu verlassen, nickte Doktor Burbus beistimmend mit dem Kopfe, und als sie nun an die Schilderung ihrer gestrigen Reiseerlebnisse kam, rückte er in ihre Nähe und schien jedes Wort, ehe sie es aussprach, von ihren Lippen ablesen zu wollen. Seine Blicke verfinsterten sich, er schüttelte heftig mit dem Kopfe, und als sie nun des entsetzlichen Vorfalles auf der Poststation erwähnte, wobei unbemerkt aus ihren weitgeöffneten, schönen, klaren Augen die Thränen wie Perlen herabrollten, da sprang der Doktor von dem Sofa auf, fuhr sich mit beiden Händen durch sein buschiges Haar und rief aus: »Wenn es dieser Herr Graf Dagobert Seefeld schier darauf angelegt hatte, daß so etwas erfolgen mußte, so ist es doch eine ganz erschütternde Wendung, die ich wahrhaftig nicht vorausgesehen armer Erich!«

»Und das ist alles,« schloß Blanda, nachdem sie noch erzählt, wie man sie fast mit Gewalt in den Wagen gehoben und {bild} wie sie deshalb mit dem Grafen Seefeld statt mit dem Eilwagen hier angekommen sei.

»Zum Henker, das ist vollständig genug!« rief der Doktor, im Zimmer auf und ab eilend; »Stoff für einen ganzen Roman, von dem aber vielleicht der Leser sagen würde: wie kann man so unglaubliches und verrücktes Zeug erfinden! In unserer Zeit, bedenken Sie doch, Fräulein Blanda, in unserer aufgeklärten und civilisierten Zeit! Aber daß Sie mich so außer mir sehen, muß Ihnen den besten Beweis liefern, wie sehr mich Ihre Erzählung aufgeregt, und da sie mich aufgeregt, muß ich auch für die Wahrheit derselben einen feierlichen Eid ablegen können, wozu ich denn auch hol mich der jeden Augenblick erbötig bin armes Kind!«

Er reichte ihr seine beiden Hände hin und zog sie dann ohne weiteres von dem Sofa empor in seine Arme, um sie herzlichst auf die Stirn zu küssen.

»Das ist die Bekräftigung meines Schwurs, und jetzt kommt der Kriegsrat was haben wir zuerst zu thun und was zuletzt?

»O, lieber Herr Doktor,« sagte Blanda, indem sie ihre gefalteten Hände bittend emporhob was kann für Erich geschehen, wie ist ihm zu helfen?«

»Zweite Linie, mein Kind, zweite Linie oder gar dritte,« antwortete der Doktor, nachdem er, seine Hände auf dem Rücken zusammengelegt, seinen Spaziergang wieder aufgenommen hatte und dann nicht nur den Mund zum Pfeifen spitzte, sondern wirklich ein paar Töne pfiff, dies aber ebenso rasch abbrach wie seinen Spaziergang und dann vor Blanda stehen bleibend sagte: »In erster Linie der Beratung kommen Sie selbst, ohne daß wir Erich aus den Augen verlieren; für Sie muß gesprochen und gehandelt und manches aufgedeckt werden, was noch keinen rechten Zusammenhang hat da fällt mir eben ein, Sie erzählten auch von einem Briefpaket, das Ihnen Erich übergeben und von dem er vermutete, sein Inhalt könne mit Ihrer Vergangenheit irgend einen Zusammenhang haben; diese Papiere sind doch nicht verloren gegangen oder mit Ihren übrigen Sachen auf dem Jagdschlößchen zurückgeblieben?«

»Da Erich sie mir zum Aufbewahren gegeben, so glaubte ich, sie mit mir nehmen zu müssen hier sind sie.«

Sie nahm das Paket aus ihrem Reisetäschchen und reichte es dem Doktor, der es ein paar Sekunden lang mit einem nachdenkenden Blicke in der Hand wog.

»Vielleicht ist das sehr unnützes Geschreibsel für uns, vielleicht aber wertvoll jedenfalls aber wertvoll für einen dritten,« setzte er nach einer Pause, wie in tiefes Nachsinnen versunken, hinzu »für einen respektabel« dritten, der mir einmal von dem rätselhaften Verschwinden eines Briefpakets, wie dieses da, gesprochen; jedenfalls betrachte ich es aber als kein Verbrechen, ja, nicht einmal für eine Indiskretion, den Inhalt dieser Papiere näher zu betrachten.«

»Sie wollten, Herr Doktor ....«

»Das Paket öffnen? Allerdings, da ich fest überzeugt bin, daß es in der Absicht des armen Erich lag, mir, dem Doktor Burbus, an den er Sie, mein Fräulein, gewiesen, aus dem Inhalte dieser Papiere kein Geheimnis zu machen. Wer weiß,« setzte er mit ungemeiner Wichtigkeit hinzu, »ob nicht Sachen darin sind, die für Erichs Angelegenheit von großem Nutzen sein können.«

»Ja, wenn Sie das glauben, Herr Doktor!«

»Ich glaube daran,« sagte er mit komischem Ernste, »fest und unverbrüchlich, wie an manches andere, was minder glaubwürdig ist. Damit Sie aber, mein teures Fräulein, an dem, was ich thun will, durchaus keinen Anteil haben, so bitte ich, sich ruhig in ihre Sofaecke niederzulassen und nicht einmal zu mir herüber zu schauen.«

Nach diesen Worten nahm er einen Stuhl, setzte sich ans Fenster und öffnete ohne weiteres den Umschlag des Papierpakets.

Blanda that, wie er befohlen, und warf keinen Blick hinüber, wozu wir aber keine Verpflichtung haben und deshalb sagen, daß der Inhalt des Pakets aus einer Menge vergilbter Papiere bestand, welche hie und da mit sorgfältig zusammengelegten Bogen von frischerem und weißerem Papier untermischt waren. Der Doktor legte das ganze Paket behutsam vor sich auf die Fensterbank und begann von oben herab in den Briefen zu lesen.

Ach, die ersten waren von so altem Datum, daß er beim Durchsehen derselben bedenklich mit dem Kopfe schüttelte; auch schien der Inhalt aller im allgemeinen ziemlich der gleiche zu sein. Dann kam der Leser an einen frischeren, größeren Papierbogen, und hier zogen sich seine Augenbrauen schon aufmerksamer in die Höhe; es mochten das vielleicht Bekenntnisse irgend einer schönen Seele sein, eine Art Tagebuch, das den Zusammenhang bildete zwischen den Briefen, in denen sich oft große Zeitlücken vorfanden. Eine neue Folge dieser Briefe blätterte der Doktor mit größerem Interesse durch, welches dann beim Durchlesen

eines zweiten Papierbogens so zu wachsen schien, daß er sich unwillkürlich ein paar Zoll von seinem Stuhle erhob, aber gleich darauf, ohne sein Lesen zu unterbrechen, wieder niederließ. Beim Durchlesen des dritten Tagebuchblattes warf er zum erstenmale einen langen und ausdrucksvollen Blick nach Blanda hinüber, die das aber nicht bemerkte, weil sie mit gefalteten Händen und niedergeschlagenen Augen in der Sofaecke lehnte, offenbar mit den Erlebnissen der vergangenen Nacht beschäftigt.

Weitere Briefe glitten durch die Hand des Lesenden, der den Inhalt meistens nur flüchtig, immer aber mit großem Interesse betrachtete und jetzt beim nächsten Tagebuchblatte sich rasch gegen Blanda umwandte und mit einem grinsenden Lächeln, welches er offenbar als Maske gebrauchte, um seine tiefe Bewegung zu verbergen, fragte: »Sagten Sie mir nicht, daß man Sie in dem adeligen Damenstifte Miß Price genannt?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Ooooh, so war das wahrscheinlich der Name Ihres Vaters!«

»Leider weiß ich das nicht genau, aber es ist möglich.«

»Sehr möglich außerordentlich möglich,« versetzte der Doktor gedankenlos, da er schon wieder im Lesen des nächsten Tagebuchblattes vertieft war »sehr möglich wahrscheinlich gewiß o, Price ist ein sehr schöner Name!«

Obgleich Blanda diese Versicherung mit keiner Silbe beantwortete, sondern nur eine leichte Bewegung auf dem Sofa machte, so schüttelte doch der Doktor eifrig seine rechte Hand gegen sie, als wolle er sie dringend ersuchen, ihn mit gar nichts zu unterbrechen, worauf er das letzte Tagebuchblatt zu Ende las, dann die Hand mit demselben auf das Knie sinken ließ, und dabei mit einem überaus heiteren Blicke an den Himmel hinauf schaute. Doch dauerte es nicht lange; dann griff er mit unruhigen Fingern nach einem in Papier gewickelten Gegenstande, welcher den Rest des Pakets bildete, nahm ihn aus seiner Umhüllung, brachte ihn vor die Augen und fuhr dann mit einem lauten, freudigen Ausrufe von seinem Stuhle empor.

Hatte ihn Blanda schon nach der Frage, die er vorhin gethan, erstaunt betrachtet, so wußte sie jetzt in der That nicht, was sie von dem Benehmen des alten Herrn zu halten habe; er hielt den Gegenstand, den er soeben besehen, vor sich hin, wobei ihn seine Augen betrachteten, bald mit der größten Aufmerksamkeit nach Blanda hinüber schweiften. Dann legte er ihn wieder sorgfältig auf das Briefpaket, drückte ein paar Sekunden lang seine Rechte auf die Stirn, wobei er laut zu sich selber sprach: »Soll ich, oder soll ich nicht? Nein, ich soll nicht nicht eher, als bis alles im klaren ist! O himmlische Güte, wer mir das vor einer Stunde gesagt hätte, als ich diesem feigen Posthalter und lammherzigen Bärenwirte den verdienten Rüffel erteilte Gott ist groß!« Dann packte er mit zitternden Händen die Papiere wieder rasch zusammen, steckte sie in die weite Tasche seines Ueberrockes; und vor Blanda hintretend, klopfte er mit den Fingern leicht auf die Stelle, wo sich sein Herz befand sowie die für ihn so wichtigen Papiere, und lächelte mit dem glücklichen Gesichtsausdrucke eines Vaters, der es in der Freude seines Herzens nicht unterlassen kann, auf ein kostbares Geschenk, welches er bei sich trägt, solchergestalt aufmerksam zu machen. »Alles gut alles gut und vortrefflich, Fräulein Blanda, und in den besten Händen! Aber sehen Sie mich um Gotteswillen mit Ihren schönen Augen nicht so fragend an, denn ich darf es Ihnen doch jetzt nicht sagen, sondern muß alles auf natürliche Weise sich abwickeln lassen aber es ist schön zum Schreien!«

»Auch für Erich, Herr Doktor?«

Diese paar Worte, welche das junge Mädchen mit so innigem Gefühle aussprach, machten vielleicht gerade dadurch den Eindruck auf den Doktor Burbus, als werde er plötzlich mit kaltem Wasser übergossen. »Weiß Gott, an den habe ich gar nicht mehr gedacht!«

»So würde er keinen Anteil an dem Glücke haben können, das Sie mir eben prophezeit?«

»Schwerlich, schwerlich, um ehrlich zu antworten, wie ich immer zu thun pflege!« rief der Doktor mit einem Gesichtsausdrucke, der dem jungen Mädchen deutlich sagte, wie überzeugt er von seinen Worten war. »Doch kann auch ihm vielleicht dadurch gewissermaßen noch geholfen werden. Stellen Sie um des Himmels willen jetzt keine weitere Frage an mich, ich sagte Ihnen vorhin schon, daß Erichs Schicksal erst in zweiter oder dritter Linie kommen kann; aber vertrauen Sie mir, Fräulein Blanda, glauben Sie mir, daß ich seine Angelegenheit so in die Hand nehmen werde, als sei er mein eigener Sohn! Aber nun raffen Sie Ihre Habseligkeiten zusammen und folgen mir getrost!« Wohin denn, Herr Doktor?«

»Ei, nach der Waldburg fürchten Sie nichts dort kommt Graf Dagobert Seefeld auch erst in zweiter oder dritter Linie! Ich führe Sie zur Gräfin, vielleicht auch zu dem alten Herrn Christian Kurt, bei dem ich schon früher etwas galt. Kommen Sie, Fräulein Blanda, kommen Sie, mein Wagen hält drunten vor dem Hause!«


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