Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Ein rücksichtsvoller Mensch

Freundschaft ist bekanntlich Langeweile zu zweien. Gestern abends bin ich so, höchst freundschaftlich, mit meinem alten Schul- und Lebenskameraden Gutmann im Wirtshaus beisammengesessen. Es wurde elf Uhr Nachts und auf der Basis unserer gemeinsamen Trägheit feierte unsere Freundschaft ein ausgedehntes Fest. Die Nachrichten, die wir uns mit halbem Interesse zu berichten hatten, waren erschöpft, die Meinungen, in denen wir noch übereinstimmten, waren besprochen, jetzt saßen wir ziemlich einsilbig da und es bestand sogar die Gefahr, daß wir von den Dingen zu reden anfingen, die einer am anderen nicht mehr begriff und deshalb verachtete. Zum Glück geschah da etwas, das den Krieg – gibt es einen böseren als zwischen Freunden? – verhinderte.

In dem ziemlich schwach besetzten Speisesaal saß ein junger Mann schon seit einer Stunde an einem Tische. Plötzlich rannte ein junges Frauenzimmer durch die klirrende Glastür in den Saal herein. Die Blicke der Wirtshausgäste flogen ihr sogleich zu, wie das schon so ist, wenn ein weibliches Wesen einen Speisesaal betritt. Sie sah nicht übel aus. Ein zartes, schlankes Mädchen, nur ein bißchen zu bunt, zu lärmend gekleidet. Offenbar war sie in Zorn oder sonst in hitziger Erregung, jedenfalls sah man an ihrem festen Gange, daß sie nervös, sehr nervös war. Sie steuerte direkt auf den Tisch zu, an dem der junge Mann allein saß. In diesem Moment geschah etwas, was sogleich alle Gespräche an allen Tischen verdrängte. Der junge Mann, übrigens in ziemlich schofler Kleidung, erblickte das Mädchen, stand blitzschnell auf, war mit einem Sprunge bei ihr und – ein scharfer Klatsch! – eine brillant gezielte Ohrfeige brannte schon auf der Wange des Mädchens. Im nächsten Moment saß niemand von den Gästen mehr an den Tischen, die Herren waren empört aufgesprungen, die Damen, ein wenig gelassener, trippelten herzu. Ein dichter Kreis von Menschen stand um die beiden und mitten zwischen ihnen mein guter, behäbiger Freund Gutmann, hochrot im Gesicht, schwer schnaufend vor Zorn.

»Eine Dame! Wie kann man nur eine Dame . . .« schrie er. Und von rückwärts fielen die Frauen gleich ein: »An einer Dame sich vergreifen! Unglaublich!« Durch die Zustimmung noch couragierter gemacht, schrie Gutmann: »Wie können Sie sich nur unterstehen? Ordinärer Mensch!! Gemeinheit!!! Eine Dame! In einem öffentlichen Lokal!! Unerhört!!!« Wahrscheinlich wäre der junge Mann jetzt sofort geprügelt und gelyncht worden, wenn nicht der Wirt sich kategorisch ins Mittel gelegt hätte, mit der Aufforderung: »Zahlen Sie Ihre Rechnung!« Noch ganz bleich, am ganzen Leibe zitternd, zog der junge Mann folgsam seine Börse und gab wortlos so viele Münzen heraus, als der Kellner von ihm begehrte. Aber all die Menschen um sich schien der Mensch nicht zu sehen, das Entrüstungsgeschrei schien er nicht zu hören, er schaute nur mit vergrößerten Augen auf das Mädchen hin, das sich unter seinen rasenden Blicken zu ducken schien.

Gutmann wurde immer couragierter: »Entschuldigen Sie sich wenigstens!« schrie er drohend. Aber da drängte ihn das Mädchen zur Seite, reichte dem jungen Manne seinen Hut und Rock und flüsterte ihm zu: »Komm' doch!« Im Nu war das Pärchen verschwunden. Auf der Gasse, so erzählte dann der Kellner, half sie ihm noch in den Mantel, und als er mit riesigen Schritten davonzulaufen begann, da rannte sie ihm noch nach, so gut sie konnte. Wie die Sache ausging, das hat der Kellner leider nicht mehr mitansehen können. Die Stammgäste aber hatten, Gott sei Dank, für den Abend ausgesorgt. Sie heimsten die Zinsen der Erregung der anderen behaglich ein. Da saßen sie, und in ihr schweres, dumpfes Sumpern war wenigstens ein Funke von der Elektrizität der zwei Entschwundenen gefahren. Davon zehrten sie jetzt, bis sie allmählich wieder stumpf und träge wurden.

Nur mein lieber Freund Gutmann wollte sich nicht beruhigen. »Ich kann so etwas nicht sehen,« sagte er noch mit beinahe funkelnden Augen.

»Aber dem Mädel scheint die Sache nicht einmal so gräßlich gewesen zu sein,« erwiderte ich. »Wer weiß, was sie angestellt hat.«

»Angestellt oder nicht, es ist eine unerhörte Roheit!« schrie Gutmann.

Vergebens suchte ich auf die kuriose Haltung der Mißhandelten hinzuweisen: »Wer weiß, wie billig die davongekommen ist.«

Gutmann sah mich fast bestürzt an: »Ja, bist Du denn auch ein so verrohter Patron? Siehst Du denn nicht ein, daß es eine Rücksichtslosigkeit sondergleichen ist, jemandem in einem öffentlichen Lokal . . . in . . . einem . . . öffentlichen . . . Lokal . . . eine Ohrfeige zu geben? Noch dazu einer Frau?«

Das sah ich natürlich ein und so etwas würde mir natürlich nicht einfallen. »Aber deshalb sind solche spontane Brutalitäten in manchen Fällen doch nicht das Aergste. Wahrscheinlich ist dieser junge Mann dem Frauenzimmer auf eine ganz besondere Niederträchtigkeit draufgekommen. Seine Fassungslosigkeit, diese unwillkürliche Ohrfeige beweist vielleicht nur, wie gern er sie hat. Deshalb ist auch sie die erste gewesen, die sich damit abgefunden hat.«

»Unsinn!« rief Gutmann, »einer Frau gegenüber und überhaupt jedem gegenüber, ist Rücksicht das erste!«

Es dauert gut eine halbe Stunde, bis Gutmann wieder seine ganze Ruhe fand. Erst gegen eins – die Gäste hatten sich schon verflüchtigt, wir waren die letzten – stellte sich die alte gemütliche Freundschaftsvertraulichkeit wieder ein . .

»Nein, nein, Du hast ganz unrecht,« sagte er jetzt lächelnd, mit seiner ausgepolsterten Hand auf meinen Rücken klopfend, »Rücksicht ist das erste, was wir den Frauen schulden! Ein Mann darf sich nicht hinreißen lassen. Zu diesem Zwecke hat uns der Herrgott ein Gehirn beschert, uns Männern. Dieser aufgeregte junge Mann war ein Laffe.« Ich widersprach nicht, es war übrigens schon nach eins. Mir hatte der erregte junge Kerl sehr gut gefallen, um seines zuckenden Zornes willen konnte ich ihm sogar die Rücksichtslosigkeit vergeben. Gutmann schien etwas von meinen Gedanken zu erraten, denn plötzlich sagte er mit seinem vertraulichsten, zwinkernden Freundeslächeln: »Falsch, ganz falsch! Der Mann ist verpflichtet, immer rücksichtsvoll zu bleiben. Wenn Du einmal verheiratet sein wirst, wirst Du das schon einsehen!«

Wenn Gutmann um diese Zeit auf seine Ehe zu sprechen kam, dann gab es kein Entrinnen mehr. Vergebens nahm ich alle meine Behauptungen zurück und wiederholte, daß ich ein entschiedener Gegner des Ohrfeigens von Frauen sei.

»Nein, nein, nein . . . Das ist nicht so . . . Du verstehst mich noch nicht,« fing er an, »zur Rücksicht auf die Frau muß man sich erziehen; das eine sind wir ihnen schuldig, zumindest. Siehst Du, ich bin jetzt seit vierzehn Jahren glücklich verheiratet. Habe zu Hause zwei Kinder! Seit zwölf Jahren habe ich daneben, Du weißt es ja sowieso, es geht nicht anders, immer noch ein Verhältnis, stabil oder vorübergehend. Was hab ich mit der Gusti durchgemacht! Sie hat drei Kinder von mir, sie hat fünf Wochenbetten durchgemacht. Jetzt bin ich jedes Jahr im Sommer drei Wochen mit der Toni in Tirol. Was hab ich mit der Choristin alles erlebt, mit dem Luder, das dann krank wurde! . . . Na, und siehst Du. Und meine Frau weiß nicht das davon!« Dabei zeigte er mir seine schwarzen Fingernägel.

»Ja, mein Lieber,« sagte er jetzt fast triumphierend, »das ist eine Leistung! »Dieser Dressur zur peinlichsten, genauesten Rücksicht verdanke ich es, daß meine liebe Frau sich wahrhaft glücklich fühlt!!«

»Hm, hm.«

»Jawohl, sie ist wahrhaft glücklich! Und sie wird, so Gott will, bis an ihr Ende glücklich bleiben; ich werde die Rücksicht gegen die Frau bis an ihr Grab zu wahren wissen!«

Gott weiß, wie rücksichtsvoll auch diese Frau gegen ihren Mann ist, dachte ich.


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