Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Der Staatsanwalt Duncker

Am Stammtisch im Hotel Continental fehlte heute ein alter Stammgast, der Staatsanwalt Duncker. Er fehlte, aber sein Geist ging um, schlüpfte in alle Gespräche, beschattete jede nachdenkliche Pause in der vielstimmigen zwanglosen Diskussion, lebte in den kleinen, banalen Stoßseufzern, wie: »Ja, ja, das Leben ist nicht so einfach . . .« oder: »Na ja, einmal packt's jeden . . .« Er fehlte heute, der Staatsanwalt Duncker, aber niemals hatte er seinen Freundeskreis so beherrscht, wie gerade heute . . .

»Eigentlich wissen wir alle miteinander«, sagte schon gegen Mitternacht der Apotheker Zwölfinger, »nicht, was für ein Mensch er war. Hier bei uns war er das Gemütlichste, das man sich denken kann! Nicht? Nichts hat's gegeben, was er nicht menschlich verstanden hätte! Und dabei hat er doch in der ganzen Stadt als ein eisigkalter Mensch, sozusagen als Bluthund gegolten.«

Stürmisch unterbrachen einige den Apotheker.

»Ich möchte bitten,« erklärte der Hotelier dezidiert, »daß vom Duncker überhaupt nicht in so einem Tone geredet wird! Ich weiß es, ich hab' ihn gekannt, ich bin jahrelang Abend für Abend an seiner Seite gesessen, ich hab' ihn täglich um ein Uhr nach Hause gebracht. Da war er ganz aufrichtig; wenn wir so nachts durch die stillen Gassen zu seinem Hause geschlendert sind, da hat er nicht Komödie gespielt. Und was war er da für ein einsamer armer Teufel, der für einen herzlichen Gutenachtgruß dankbar war! Wie oft ist er da plötzlich nachts mitten auf dem Ringplatz stehen geblieben, hat sich emporgereckt, so daß seine lange, magere Gestalt fast einen riesenhaften Zug bekommen, und hat gesagt: »Na, ich dank' schön, wie muß dem Kerl heut in der ersten Nacht nach seiner Verurteilung zu Mute sein!« Wißt Ihr, daß es vorgekommen ist, daß er einmal nachts den Rappel bekommen hat, sich das Gerichtstor aufsperren zu lassen, daß er mit einer kleinen Handlaterne über die finsteren Gerichtskorridore ging, durch die Höfe des Gerichtsgebäudes, vorbei an den fürchterlichen vierstockhohen schwarzen Mauern, bis er in einen Hof kam, wo »seine« Fälle waren! Und da ist dieser – wie sagtest Du? –, dieser eisigkalte Mensch, dieser – es ist zu dumm –, dieser Bluthund ein paar Minuten lang lauschend still gestanden und hat gehorcht, ob er nicht aus einer Zelle, an die er gerade dachte, einen Laut vernimmt, vielleicht ein Stöhnen, vielleicht einen Seufzer, vielleicht die Geräusche eines armen Teufels, der nicht schlafen kann und unruhig auf und ab durch seine Zelle trabt!«

Einen Moment schwiegen alle . . .

»Weißt Du, Pühringer,« begann der Arzt des Stammtisches vorsichtig, »das beweist vielleicht nur, wie leidenschaftlich er sein Amt ausgefüllt hat. Er trank förmlich mit Gier seine Fälle! Sie ließen ihn nicht los! Glaubst Du nicht, daß, wenn er so in der Nacht zufällig ein Geständnis erlauscht hätte, ihn das am glücklichsten gemacht hätte? Wie hätte er das mit der unheimlichen Gebärde des Allwissenden dem Angeklagten tagsdrauf vorgehalten!«

»Nein! Nein!« schrie der Hotelier ganz aufgeregt, »da sieht man, wie wenig Ihr alle ihn gekannt habt. Nicht eine Silbe hätte er davon verraten! Vor allem hätte er nie eingestanden, daß er in seiner freien Zeit an »seine Fälle« denkt, und faktisch hat er da gar nicht als Staatsanwalt an sie gedacht! Nicht ein Wort hätte er je verlauten lassen! Das war ja sein größter Ehrgeiz, daß niemand im privaten Leben ihm je den Staatsanwalt anmerkt. Deshalb hat er immer den Feschen gespielt, deshalb hat er sich gekleidet wie ein Fiaker, deshalb ist er gegen Mädeln immer gar so galant gewesen, deshalb ist er jeden Abend bei uns hier gesessen, deshalb war er ja so riesig gemütlich. Nein, mein lieber Doktor, Du hast ihn eben nicht gekannt . . .«

»Sag' einmal, Pühringer,« erwiderte der Arzt ganz ruhig, »hast Du ihn einmal bei Gericht gesehen?«

»Nein! Ich glaub', er hat es nicht gern gehabt, wenn jemand als Zuschauer wie ins Theater zu Gericht gegangen ist.« »Schön! Dann kannst Du über ihn auch nicht mitsprechen. Denn ich hab' ihn dort gesehen, ich hab' ihn dort gehört und ich sag' Dir, er war bei Gericht ganz ein anderer als hier! Es war, als entstünde dadurch, daß er die Amtskappe aufsetzt, plötzlich ein völlig anderer Mensch aus ihm! Man hat seinen Augen nicht getraut! Das ist so weit gegangen, daß er seine besten Freunde, wenn er ihnen im Gerichtskorridor zufällig begegnet ist, ansah, als kenne er sie nicht. Wie er da nur gegrüßt hat, wie steif, wie amtlich, zwei Finger flüchtig an der Kappe! Ueber einen hinweggesehen hat er da. Seine besten Freunde, in den Räumen des k. k. Kreisgerichtes waren sie Luft für ihn, Luft! Selbstverständlich hat er zu mir, wenn ich bei Verhandlungen als Sachverständiger war, »Sie« gesagt, aber wie ausgesucht und formell, höflich hat er mit mir verkehrt! Wirst Du's glauben, daß er in den Pausen so einer Verhandlung, während der Gerichtshof beraten, während sonst Verteidiger, Journalisten, Sachverständige plaudernd bei einander stehen, daß er da niemals mit irgendwem auch nur ein Wort geredet hat? Da hat er sich vor ein Fenster gestellt, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und gedankenlos in den Hof geschaut. Erst, wenn nach einer Stunde die Tür, aus der die Richter kamen, knarrte, hat er sich wieder umgedreht. Und wie hat er in den Verhandlungen gefragt, geredet, dazwischen gerufen! Kein Elend, das ihn gerührt, keine Jugend, die ihn ergriffen hätte, keine Ergriffenheit, die er nicht durch ein eiskaltes Witzwort zur Komödie gestempelt hätte! Nein, wenn man ihn dort gesehen hat, bei der Arbeit, da begreift man die Worte schon, die Zwölfinger früher erwähnt hat! Da war er fürchterlich.«


Lange wurde hin und hergestritten. So laut und leidenschaftlich wurde der Streit geführt, daß mancher von der Tischrunde trotz aller Anstrengungen nicht zu Wort kommen konnte. Es war schon über halb zwei Uhr nachts, als plötzlich der alte weißhaarige Realschuldirektor Kupka mit seiner leisen, langsamen, vielleicht deshalb so achtunggebietenden Stimme das Wort nahm:

»Ich habe ihn einmal in einer Stunde gesehen, wo die zwei Menschen in ihm rauften, der Mensch mit der Amtskappe und der Mensch ohne Amtskappe. Es ist lange her, von Euch weiß es keiner, und dieser Tag hätte ihn leicht ganz aus seiner Bahn werfen können . . . Ich war damals Geschworner in dem berühmten Mordprozeß Casani. Dieser Casani war ein junger, bildschöner Mensch, ein Tunichtgut, der einmal Geld besessen und seine weißen Hände für zu wohlgepflegt hielt, um sie durch Arbeit zu beschmutzen. Wegen seiner Schönheit, mehr noch wegen seines sanften, weibischen Wesens hatte er große Erfolge bei den Weibern, so daß ihm immer fünf oder sechs gleichzeitig nachrannten. Er nahm sie alle – die hübschen nämlich –, er machte sie schwanger, nahm von ihnen Geld, und wenn kein Geld mehr herauszulocken und die Stunde der Niederkunft oder unangenehme Eifersuchtsszenen herannahten, schüttete er ihnen ein wenig Zyankali in den Morgenkaffee, und die Sache war erledigt. Ich habe trotzdem für Freisprechung gestimmt, weil mir der junge Kerl trotz aller Greuel, die er begangen, wie ein unerwachsener, blind handelnder Knabe vorkam. Es kam mir vor, als wüßte er gar nicht, was das bedeutet: Mord! Eine so kuriose Gleichgültigkeit für die Frage: Tod oder Leben? beseelte ihn. Deshalb leugnete er auch nichts, deshalb schien es ihn gar nicht zu interessieren, ob er gehenkt wird oder nicht. Er verstand nicht, was er begangen hatte. Für ihn lag die Sache so: Die Weiber waren »unangenehm«, das Unangenehme war er gewohnt, aus seinem Leben selbstverständlich zu beseitigen. Tod? Was ist das? Mord? Was ist das? »Es hat den Mädeln nicht so weh getan als mir die drei Stunden Leibring in der Dunkelzelle«, sagte er in der Verhandlung gleichmütig. Duncker ist in der Verhandlung nur so losgegangen. O, er wollte die Regungen des Gewissens in diesem naiven Burschen schon hervorkitzeln! Je harmloser Casani sich gebärdete, um so dräuender, donnernder ging Duncker los. Mit einer leidenschaftlichen Ergriffenheit sondergleichen nagelte er den schamlosen Zynismus dieses – Knaben an! Er hatte Erfolg, mit zehn gegen zwei Stimmen wurde Casani zum Tode verurteilt. Als man's ihm mitteilte, nahm er es höflich zur Kenntnis, verbeugte sich einmal tief vor den Richtern, einmal noch tiefer vor den Geschwornen und ließ sich lautlos in die Zelle geleiten. Im Saale begann damals manche ehemalige Geliebte des schönen Jünglings laut zu schluchzen . . .

Zur Hinrichtung bin ich gegangen. Ich habe auch alle meine Kollegen gezwungen, hinzukommen, denn ich finde nichts erbärmlicher, als seinen Namen unter ein Todesurteil zu schreiben und dann nicht die Courage zu haben, die Exekution mitanzusehen. Vielleicht sollten die Richter auch selbst die Henker sein, denn aus dieser bloß schriftlichen Courage zum Verurteilen, aus dieser elenden »Arbeitsteilung«, wonach schließlich der Richter den Henker und der Henker den Richter verachten darf, erwächst alles Unheil. Also ich zwang mich, hinzugehen. In einem kleinen Hof sollte die Hinrichtung stattfinden. Fürchterlich hohe schwarze Mauern ragen in die Luft, so daß kaum ein Stück Himmel hier sichtbar ist. Der Hof ist dreieckig. In einer Ecke stand der Galgen, der übrigens ganz anders aussieht, als man gemeinhin glaubt. Er ist kaum mannshoch gewesen, nicht aus Holz, sondern aus gebogenem Eisen . . . Die Armesünderglocke begann zu läuten. Namenlos bange Sekunden vergingen. Da trat Casani, vom Geistlichen und von den Henkersknechten gefolgt, aus seiner Zelle. Vier Schritte hatte er bis zum Galgen zu gehen. Und hier, in diesem Moment schien es, als sei der Knabe plötzlich erst zum Bewußtsein seiner Lage und seiner Taten erwacht. Er sah den Galgen und wurde kreideweiß. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, er klapperte, Beben kann man das nicht mehr nennen. In dieser Minute – ich könnte es heute noch beschwören! – erwachte Casani erst aus seinem Traumdasein. Und da sah er eine Sekunde lang um sich, mit einem Blick, in dem eine unermeßlich tiefe, dringende Bitte lag, mit einem Blick, der eine namenlos heiße Bitte: »Laßt mich leben!« vortrug. Diesen Blick fing der Nächststehende – Duncker – auf. Eine Sekunde darauf stürzte Casani blitzschnell an Dunckers Brust und alle Schuld, die ganze Vergangenheit, seine ganze gräßliche Todesangst und seine ganze Lebenssehnsucht lösten sich in einem unbeschreiblichen Schluchzen an Dunckers Brust auf.

Duncker hatte ihn aufgefangen. Die Henker wollten Casani wegziehen, aber da geschah das Merkwürdige: Mit einer wütenden Gebärde, mit einem durchbohrenden Blick, wie er ihn sonst nur in den leidenschaftlichsten Staatsanwaltsmomenten hatte, wies Duncker sie von sich. Und er legte seine Arme über den schönen, dem Tode verfallenen Körper des Jünglings, und er flüsterte dem tief Schluchzenden Worte der reinsten Liebe ins Ohr, und er hielt ihn fest und treu in den Armen wie ein Vater seinen teuersten Sohn.

Alle waren starr vor Staunen. Die Henker wagten sich nicht mehr in die Nähe. Die Gerichtsräte warteten eine, warteten zwei Minuten. Endlich ging der Gerichtspräsident, ein Kerl, dem jede Ehrfurcht abging, auf Duncker zu und flüsterte ihm halblaut ins Ohr: »Wissen Sie, daß Sie momentan einen Dreihundertvierzehner, eine Einmengung in eine Amtshandlung, begehen?«

Duncker verstand die Worte nicht, aber er ließ die Hände von dem Jüngling. Ein Wink des Präsidenten genügte, und die Henker traten vor . . . Schaudernd wendeten wir uns ab . . . Duncker ist am selben Tage noch auf Urlaub gegangen. »Erholung von der anstrengenden Tätigkeit der letzten Monate«, hieß es in den Zeitungen. Er hat ein halbes Jahr gebraucht, um diese eine Minute in sich selbst in den Hintergrund zu drängen. Aber ich sage euch: Ein friedloser Mann ist er sein Lebtag geblieben . . .«


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