Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Ein nächtlicher Ruf

Ein Geheimnis ist die festeste Klammer zwischen zwei Menschen. Natürlich meine ich mit dem Wort Geheimnis nicht etwa ein so schofles Großstadtgeheimnis, das alle Welt »unter uns gesagt« kennen lernt. Auch nicht eine Sache, die man eine Zeitlang aus Gefälligkeit für irgend jemanden nicht weitersagt, und dann vergißt. Geheimnisse, echte Geheimnisse, das sind Dinge, die man einmal durch irgend einen verhängnisvollen Zufall auf dem Grunde der Seele eines anderen ein paar Sekunden lang sah und nie wieder! Daß man solche Momente nicht vergißt, ist selbstverständlich, und daß man niemals von ihnen eine Silbe redet, ist noch viel selbstverständlicher. Ein solches Geheimnis will ich heute lüften. Einen ganz geheimen Punkt aus dem Leben des Schuldirektors Anton Hoferer und seiner Frau Auguste . . . Ach, wird jetzt irgend ein vorschneller Unterbrecher spötteln, deshalb die spannende Einleitung, damit wir jetzt eine Schulanekdote anhören? . . . . Ja, eben deshalb, doch ist es keine Schul-, sondern eine Lehreranekdote. Du gähnst? Du sagst: »Na, das kann ein recht fades Geheimnis werden. Soll man's wirklich lüften?« Nun, abgesehen davon, daß diese Lehrergeschichte in kein Lesebuch paßt, muß ich sie erzählen, denn sie enthält einen so großherzigen, rechtzeitigen, genialen Frauenstreich, daß man sie schon deshalb erzählen muß.

Schon deshalb, damit ihr eine Ahnung kriegt, was für ein wunderbarer Kerl die alte Schuldirektorsgattin Auguste Hoferer gewesen ist. Natürlich, wie sie jung war. Damals hieß sie noch Auguste Fürnkranz und wohnte bei ihrem Papa in der Volksschule am Tabor in Wien. Daß ihr Vater auch Volksschuldirektor war, wißt ihr ja. Hoferer war damals noch provisorischer Unterlehrer. Er kam zuweilen abends in die Schule am Tabor (er selbst unterrichtete in einem weit entfernten Bezirk) und blieb zum Abendessen beim Direktor Fürnkranz. Der hatte ihn gern, denn Hoferer war damals ein milchweißes, zartes, dreiundzwanzigjähriges Bürscherl, mit einem ganz kleinen, hellen Schnurrbärtchen und prachtvollen dunklen Augen in dem germanisch lichten Gesicht. Hoferer kam, weil er sich gleich beim zweiten oder drittenmal in die »Gusti« fürchterlich verliebt hatte. Natürlich hätte er sie am liebsten vom Fleck weg geheiratet, aber, ihr wißt ja, »ein provisorischer Unterlehrer« . . . Sie, die Gusti, war gerade so verbrannt wie er, und was das schönste war, der alte Fürnkranz war ganz selig über dieses Paar. So, nur so konnte er sich den Mann für die Gusti vorstellen! Einen frischen, jungen Kerl, der von Kummer und Nervosität noch nicht voll Falten war, einen schwärmerischen, lieben Kerl, kuragiert, aber doch kein Frechling, einen schlanken, ausgeturnten Burschen, dem Auge ein Wohlgefallen, und dabei eine tapsige, generöse, geduldige Seele . . . Die Besonnene in der ganzen Familie war die alte Fürnkranz, die wie so viele gute alte Weiber, die vernünftigen Spießerbedenken mit Geschicklichkeit verteidigte.

»Bis Sie wenigstens definitiver Unterlehrer sind!« sagte sie mit Entschiedenheit, und dabei sollte es bleiben. O Gott, das dauerte . . . . Fürchterlich viel Zeit ließ sich der hohe Gemeinderat, ehe er einige Beorderungen von provisorischen Unterlehrern vornahm. Und dann war Hoferer erst nicht drunter. Warten ist überhaupt eine martervolle Beschäftigung, aber auf eine Frau lange warten, dabei kommt am Ende meist etwas recht Ekliges heraus. Ich sage euchs offen, einen Mann, der auf seine Frau etwa ein paar Jahre lang »wartet«, für den hab' ich eigentlich nur ein Gefühl, als müßte ich vor ihm ausspucken, übrig. Eine wirkliche Liebe kann man nicht für ein paar Jahre lang in den Eiskeller legen. So ein vorsichtiger Beamter, der sechs, acht Jahre seiner schönsten Jugend, bis er die richtige Rangstufe erreicht, »wartet«, der fängt vielleicht mit einer reinen, großen Leidenschaft an, aber er steckt bald in der ekelhaftesten Verlogenheit oder in den unreinlichsten Erniedrigungen drin. Ein langer Brautstand pumpt gerade das beste aus dem Inneren der jungen Leute heraus, das Frische, das Naturgewaltige, den stürmisch unbeirrten Trieb. Was übrig bleibt, ist ein dürftiges Bißchen geschickte Berechnung, verbrämt mit einem unreinen Spielen und Reizen . . . Jede Zärtlichkeit wird da so fürchterlich bewußt, jede Hingebung so infam vorbereitet und so niederträchtig abgebrochen. Ah, Pfui, als Liebe beginnen diese vernünftigen Brautstände, als Lüstelei enden sie! Haltet ihr den Schuldirektor Hoferer für ein Genie? Ich auch nicht. Damals hatte er die Frische, den hübschen Habitus der Jugend, er hatte auch die gutmütige Anhänglichkeit des Verliebten, aber ohne seine Frau wäre er vielleicht niemals zu den zwanzig Jahren seiner beispiellos glücklichen Ehe gekommen, deren Abglanz noch heute auf seinem guten, rosigen weißhaarigen Schädel liegt. Nämlich, er sah ein, daß Frau Fürnkranz mit ihrer Mahnung recht hatte: »Bis Sie nur erst wenigstens definitiv sind!« Er hätte sich auf ein Haar ins Warten ergeben! Zwar jeden Abend wurde es ihm fürchterlich schwer. Stand er so im Vorzimmer mit seiner Braut – von den andern hatte er sich schon im Speisezimmer verabschiedet – und umarmte sie in der Dunkelheit, so gab es manchmal Momente, wo er vor Sehnsucht fast umsinken wollte. Das Blut stieg ihm zu Kopfe, er preßte sich an ihren Körper, er küßte sie, daß er ihre harten Zähne an den seinen fühlte . . . »Gusti!« rief dann endlich Mama Fürnkranz vom Speisezimmer hinaus. Sie rissen sich von einander los, und er stieg wie ein Betrunkener hinunter. Daß er die Hände geballt hatte – auf dem ganzen langen Weg vom Tabor bis auf die Landstraße –, das wußte er nicht einmal . . . . Solche Wartezeit ist Gift. Eine junge Leidenschaft will hinauf oder hinunter, will verbrennen oder verlöschen; knurrend warten wie ein demütiger Mops, das kann sie nicht! . . . In den meisten Fällen, wer weiß das nicht? verschaffen sich die Männer schließlich klägliche Erleichterungen. Mit derlei Hilfsmitteln läßt sich dann der keusche Brautstand freilich einige Jahre lang tragen. Aber Herrgott, was ist aus ihm geworden?

Das Schulhaus am Tabor lag am Ende der Häuserreihe. Punkt neun Uhr stand Hoferer allabendlich im Speisezimmer auf, fünf Minuten später rief Frau Fürnkranz »Gusti« ins Vorzimmer, und gleich drauf ging er beim Haustor hinaus. Da gingen gewöhnlich Mädeln mit ihrem Schatz spazieren. Seit einer Woche begegnete dem Unterlehrer mitten auf dem menschenleeren Heimweg ein junges Frauenzimmer, das eine lange Strecke durch dieselben Gassen wie er ging, das sich zuweilen nach ihm umdrehte und ihm direkt ins Gesicht schaute. Die ersten Male hatte er sie kaum bemerkt, eines Tages war sie aber im Licht einer Laterne so absichtlich stehengeblieben, daß er ihr ins Gesicht sehen mußte. Er erkannte sie . . . . Es war ein ehemaliges böhmisches Dienstmädchen aus dem Schulhause, das aber jetzt ganz großstädtisch gekleidet daherging. Er ging weiter. – –

Am nächsten Abend, Punkt neun Uhr, sagte er wieder im Speisezimmer Adieu. Im Vorzimmer umarmte er die Gusti. »Ich erstick'«, flüsterte sie atemlos. Plötzlich nahm er ganz behutsam ihre Hände, legte sie sich auf die Wangen und blieb einige Sekunden regungslos stehen. »Was hast Du?« fragte sie fast bestürzt. Da drückte er sie wieder wie ein Rasender an sich . . . .

Frau Fürnkranz rief. Aber Gusti kam nicht. Sie wagte sich nicht aus seinen Armen zu rühren. »Gusti!« rief Frau Fürnkranz heute ein zweitesmal. Jetzt erwachte er, ließ sie los und ging. Die Tür fiel zu . . . . Sie trat zurück ins erleuchtete Zimmer. Vater und Mutter waren gut genug, sie jetzt nicht viel zu fragen. »Ich geh' heut zeitlicher schlafen,« sagte sie leise. »Geh', Kinderl, geh gleich,« erwiderte der Direktor. Sie gab dem Vater einen Kuß, der Mutter einen Handkuß und ging. Durchs Vorzimmer sollte sie in ihr Schlafzimmer gehen. Aber wie sie da plötzlich wieder im Dunkel stand, wo sie vor einigen Sekunden in seinem Arm gelegen, da überkam sie plötzlich eine namenlose Angst, Sehnsucht, Verwirrung. Mit einem Male hatte sie ihren Hut gepackt, die Türe leise aufgeklinkt und war draußen . . . . Auf der ausgestorbenen Landstraße ging er schnell vorwärts. Sie sah ihn und wußte nicht, sollte sie laufen oder stehen bleiben? Ihn rufen oder ganz still bleiben? . . . Plötzlich, was sah sie da? Drei Schritte neben ihm ging eine Frau. Sie lief ein Stück nach vorn, dann aber fürchtete sie sich, gehört zu werden, und schritt ganz sachte vorwärts.

Im Lichte einer Laterne bleibt das Frauenzimmer stehen. Er sieht sie einen Augenblick an, senkt dann den Kopf, und geht weiter. Nun beginnt das Frauenzimmer schneller zu gehen, mit frech gehobenen Röcken, sich jeden Augenblick umwendend, so recht wie eine . . . Jetzt ist das Weibsbild vor ihm. Gusti merkt, wie er nun langsam den Kopf hebt, sie sieht, wie er die Gestalt des Frauenzimmers von oben bis unten betrachtet . . . prüft . . . zuerst das Gesicht, dann die Waden . . . . Todesangst steigt ihr in die Kehle . . . . Jetzt geht das Frauenzimmer langsamer, aber so, daß er, wenn er absichtlich nicht ausweicht, knapp an ihr vorbeikommen muß! Sie sieht, die Dirne hat den Kopf zu ihm gewendet, ein einladendes Wort auf den Lippen . . . Langsam, ohne von der Linie abzuweichen, nähert sich ihr Hoferer. In der nächsten Sekunde . . .

»Anton!« Der Ruf gellt über die Straße. Hoferer fährt, denn er erkennt die Stimme, tief erschreckt zusammen, blickt und läuft zurück . . . In dieser Nacht ist die Direktorstochter nicht nach Hause gekommen . . . . Vierzehn Tage später haben sie geheiratet. Im nächsten Jahre wurde er dann definitiv . . . Von dieser nächtlichen Szene ist zwischen den Gatten niemals die Rede gewesen. Ich glaube er hat nie geahnt, wie scharf sie in dieser Nacht gesehen hat! Und doch hat dieser kurze nächtliche Ruf sein besseres Ich erst ordentlich zum Bewußtsein gebracht. Vielleicht gar, ich habe die großen Vermutungen gern, sind durch diesen beherzten, genial rechtzeitigen Ruf zwei Schicksale erst fest begründet worden.


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