Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Verteidiger

Vorige Woche sah ich den Verteidiger Doktor Berger im Gerichtssaal. Diesen Mann im Verteidigerstuhl sehen, das ist für mich ein größerer Genuß als die spannendste Theatervorstellung. Schon wie er der Verhandlung zuhört, bald über seinen Tisch gelagert, den Kopf weit vorgestreckt, bald wieder aufspringend, nervös hinter den Schranken auf- und abtrabend, zuweilen scheinbar ein gelassener Zuhörer, der in die Luft schaut, im entscheidenden Augenblick aber mit seiner Zwischenfrage wie ein Tiger auf den ahnungslosen Zeugen hinstürzend, schon dieses Schauspiel regt mich immer an. Ich lächle nachher freilich, wenn ich daran denke, wie leidenschaftlich er sich für jeden seiner Spitzbuben ins Zeug legt, ich belächle mich selbst, weil ich von der bannenden Energie dieses Mannes immer wieder, wenigstens für Stunden, gefangen genommen werde. Aber ich gestehe, daß mir dieser Verteidiger eben wegen der Wut, wegen der bohrenden Leidenschaft, mit der er sein Gewerbe treibt, gefällt. Ach, armselige Tröpfe, die ihre spärliche Kraft hinter skeptischen Witzen verbergen, gibt es genug, Leute, die so närrisch mit Leib und Seele ihrem Amte hingegeben sind, leider nur ganz wenige . . .

Vorigen Dienstag verteidigte der Doktor Berger einen Mann, der sein eigenes Geschäft in Brand gesteckt hatte, um die Versicherungssumme einzuheimsen. Ich fand ihn wieder hinreißend. So kurios ich nachträglich die Gedanken seiner Verteidigungsmethode finde, im Moment mußte ich mitgehen. Vor allem bewies er den Richtern mit aller Gemütlichkeit, daß es ein gutes Recht jedes Versicherten ist, sein Hab und Gut in Brand zu stecken. Jahrzehntelang zahlt da ein Kaufmann, so folgerte der Verteidiger, regelmäßig soundsoviel jährliche Feuerversicherungsprämie, nie geschieht etwas, der Kaufmann lernt die Assekuranzgesellschaft gar nicht kennen, mit der er seit Jahr und Tag in Geschäftsverbindung steht. Ist er als gewissenhafter Geschäftsmann nicht geradezu verpflichtet, einmal zu revidieren, wie die Anstalt arbeitet, kulant oder schnöde, gewissenhaft oder leichtfertig? . . Der Verteidiger wurde immer hitziger: Es ist beinahe ein gutes Recht jedes langjährig Versicherten, einmal seinen Brand zu haben. Dabei bleibt es ja das Recht der Assekuranzgesellschaft, nach der Ursache des Brandes zu forschen und eventuell nicht einen Heller auszuzahlen. Der Brandstifter handelt, wenn die Assekuranzgesellschaft richtig vorgeht, eigentlich bloß auf sein eigenes Risiko. Seine Waren verbrennen. Ob er was kriegt, ist zweifelhaft . . . Nach einer Pause fuhr der Verteidiger mit leiser Stimme fort: Und schließlich, die Versicherungsgesellschaft muß wissen, daß viele Versicherte den Kitzel fühlen, ihr Eigentum in Brand zu stecken. Das müssen die Versicherungsanstalten wissen, und weil sie es wissen, berücksichtigen sie das auch in ihrem Prämientarif! Es ist statistisch nachgewiesen, daß der Prozentsatz der Brände bei versicherten Betrieben ein höherer als bei unversicherten ist. Sind aber auch die selbstgelegten Brände bei der Berechnung der Versicherungsprämie schon von vornherein in Kalkül gezogen, dann müssen die Anstalten selbstverständlich dieses Risiko auch auf sich nehmen. Sie sollten also auch in solchem Falle zahlen . . . Das erklärte Doktor Berger den Geschworenen mit aller Eindringlichkeit. Als er meinte, daß die Gedankenkette in ihren Gehirnen genügend festgehakt war, setzte er wieder nach einer Pause mit ganz veränderter Stimme hinzu: ». . . Die Assekuranzgesellschaften zahlen dem Brandstifter nichts. Noch mehr, diesen alten, verzweifelten, gebrochenen Kaufmann, der seine Versicherungsgelder und sein ganzes, Tausende Gulden wertes Warenlager verloren hat, setzt man noch auf die Anklagebank!« Empört brach er ab und setzte sich in seinen großen Verteidigerstuhl. Er meinte, seine Argumente seien so überzeugend, daß er jetzt schweigen müsse . . .

Ein Zeuge wurde in der Verhandlung vernommen, der Buchhalter des Angeklagten, der diesem zwanzig Jahre lang gedient hatte. Nachts hatte die Feuersbrunst gewütet, am anderen Morgen hatte dieser alte Buchhalter zu zwei Nachbarn gesagt: »Den Brand hat der Chef selbst gelegt, weil er vor dem Konkurse steht.« Infolge dieser Aeußerung, von der die Versicherungsgesellschaft erfuhr, wurden Nachforschungen angestellt. Es kam zu Tage, daß der Chef einzelne Warenballen sogar in Petroleum getränkt und Nachts heimlich im Vorübergehen durch das Guckloch der Rollbalken brennende Zündhölzer hineingeworfen hatte.

Der Buchhalter war mit seiner Aussage fertig.

Der Verteidiger, der die ganze Zeit stumm dagesessen war, fuhr jählings von seinem Sitz auf, als der Zeuge abtreten wollte.

»Wie lange waren Sie beim Angeklagten beschäftigt?«

»Sechzehn Jahre.«

»Wie groß war Ihr Gehalt?«

»Hundertfünfzig Gulden.«

»Ein sehr anständiges Gehalt für einen Buchhalter!« sagte Doktor Berger mit sichtlicher Befriedigung. Der Zeuge zuckte die Achseln: »Ich habe es schwer verdient.«

»Davon ist nicht die Rede,« unterbrach der Verteidiger den Buchhalter; »aber halten Sie es für die Pflicht eines Angestellten, der sechzehn Jahre in einem Hause tätig war, Nachbarn, fremden Leuten, ja Konkurrenten mitzuteilen, daß der Chef vor dem Konkurs steht?«

Der Zeuge blickte ganz verdutzt drein. Sofort benutzte der Verteidiger den kurzen Moment der Stille, um in noch schärferem, höhnischen Ton die Frage zu wiederholen.

Der Zeuge war noch immer ganz eingeschüchtert.

Der Verteidiger benutzte diese Augenblicke und warf ihm im Ton überlegener, verhaltener Entrüstung den vorwurfsvollen Satz zu: »Sie waren ihrem Chef wohl nicht gerade freundlich gesinnt. Sagen Sie ruhig, Sie wollten ihn ins Kriminal bringen!«

Jetzt wurde der Buchhalter zornig: »Ein reeller Kaufmann ist er nie gewesen!«

»Schon gut,« unterbrach ihn rasch der Verteidiger, der eine eingehendere Begründung verhindern wollte, »danke. Ich wollte nur Ihre Gesinnungen für den Mann, der sechzehn Jahre lang Ihr Chef war, feststellen!«


Die Gedankenkette des Verteidigers hatte sich in den Hirnen der Geschworenen nicht eingehakt. Der Brandleger wurde mit zehn gegen zwei Stimmen schuldig gesprochen und bekam fünf Jahre schweren Kerkers.


Gestern nachts sah ich den Doktor Berger in der menschenleeren Donaustraße. Er ging ganz allein den Donaukanal entlang und schon in der Entfernung bemerkte ich an heftigen Bewegungen seiner Arme, an dem ruckweisen Heben des Kopfes, daß er in Erregung mit sich selbst sprach. Näherkommend, hörte ich, wie er gegen sich selbst Schimpfworte ausstieß: »Ich . . . Esel! Ich . . . Schuft! Ich will mir einbilden, daß ich den Leuten helfe! . . Ich?! . . . Ich Rindvieh!«

Er war so erregt, die nächtliche Umgebung, der Donaukanal, die Selbstvorwürfe, die ich anhörte, stimmten mich einen Moment lang für den Verteidiger fast besorgt, so daß ich auf ihn zutrat und ihn begrüßte.

Er reichte mir die Hand und im nächsten Augenblick sprudelte er schon hervor:

»Ah richtig, Sie waren ja auch dabei, Sie haben den Brandlegungsprozeß mitangehört! Sehen Sie, diesen Angeklagten habe ich auf dem Gewissen! Jawohl, ich! Ich! Meinethalben muß der Mann fünf schreckliche Jahre lang in Stein neben Einbrechern und Trunkenbolden sitzen! Ich, ich, ich bin schuld daran.«

Verwundert fragte ich: »Sie? Sie haben sich doch die größte Mühe gegeben, ihn freizukriegen.«

»O, ich Esel!« schrie der Verteidiger. »Wie konnte ich diesen Buchhalter auslassen? . . . Auf diesen Mann hätte ich mich stürzen sollen!«

Plötzlich begann er leise zureden: »Dieser Buchhalter hat ihn gehaßt! Dieser Kerl hat seinen Chef angezeigt! Haben Sie bemerkt, wie haßerfüllt er vor Gericht ausgesagt hat! . . . Ich hätte ihn fragen sollen, wo er selbst in der Nacht war, in der der Brand ausgebrochen ist! Ich wette darauf, es wäre ihm so schnell keine Antwort eingefallen!«

Ich trat einen Schritt zurück: »Halten Sie es denn für möglich, daß der Buchhalter den Brand gelegt hat?«

»Nebensache,« erwiderte er wegwerfend. »Aber in den Geschworenen hätte ich die Frage anregen sollen. Dazu war ich verpflichtet.«

Ich schüttelte den Kopf: »Der Kaufmann hat zweifellos selbst das Feuer gelegt.«

Da schrie der Verteidiger: »Wir sprechen davon, wie ich dem Manne hätte das Zuchthaus ersparen können. Davon allein! Ich hätte die Stimmung gegen den verräterischen Buchhalter irgendwie ausnutzen sollen!«

Unwillkürlich mußte ich lächeln. Als er es bemerkte, rief er mir zu: »Adieu! Ich habe die Ehre, ich muß zurück!« und rannte davon.

Im Nu war er weit fort von mir und als ich mich nach ihm umsah, bemerkte ich, wie der einsame Mann noch immer heftig mit sich redete, und ich glaubte zu hören, wie er sich zerknirscht zurief: »O, ich Esel!«

Ich muß gestehen, dieser Verteidiger, der sich in Selbstquälereien marterte, weil er einen Zeugen nicht genug verdächtigt hatte, hat Eindruck auf mich gemacht. Fürsorglicher kann man an seine Verbrecher nicht denken!


 << zurück weiter >>