Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Mittelschule des Lebens

Aus dem Tagebuch
eines aufrichtigen Bourgeois

Schade, daß ich kein berühmter Mann bin. Es gibt nämlich eine Frage, betreffs derer ich mich sehr gern interviewen ließe. Ich glaube der einzige Erwachsene zu sein, der die Frage der Mittelschulreform richtig formuliert hat. Da wird immer herumgestritten, ob die Gymnasiasten Griechisch lernen sollen oder nicht, ob die humanistischen Studien als Sockel wahrer Bildung unerläßlich seien, welchen Wert hingegen das Studium der Naturwissenschaften habe usw. Ich unterschätze diese Probleme nicht. Aber was bleibt uns denn in Wirklichkeit von unserer ganzen Mittelschulbüffelei? Ist denn das bißchen Griechisch oder ein bißchen Physik von Bedeutung? Ist's nicht im Grunde gleichgültig gegenüber der höheren Wissenschaft, der Lebenswissenschaft, die uns in der Mittelschule beigebracht wird: der Kunst, zu schwindeln!

Wer – ich richte diese Frage an alle gewesenen oder seienden Mittelschüler – wer hat im Gymnasium oder in der Realschule nicht geschwindelt? Und wie, wie haben wir alle geschwindelt! Von den gemeinen Künsten des »Einsagens« bis zu den okkulten Wissenschaften der von uns approbierten Lehrbücher, eine ganze Skala gewöhnlicher und raffinierter, grober und frecher, heimlicher und kühner, offener und versteckter Schwindelei! Das, meine Herren, ist – abgesehen von dem bißchen Wissen – die große Errungenschaft der Mittelschule. Die Schüler werden für das Leben vorbereitet; sie lernen schwindeln.

Sie lernen schwindeln und lernen die Moral des bürgerlichen Schwindelns, welche heißt: »Du darfst nicht ertappt werden!« Sie lernen, daß dem nicht erwischten Schwindler der Vorzug blüht, und der Ertappte fällt durch! Sie lernen, daß die große Kunst des Schwindlers in der Keckheit besteht, und daß wichtiger noch als die Fähigkeit des Schwindelns die Kunst, ein ehrlicher Mann zu scheinen, ist! Sie lernen, daß der wirklich vollendete Schwindler vor allem die Fähigkeit des frechen Leugnens haben muß. Sie lernen allmählich, daß es eine unerläßliche, stumme Solidarität der Schwindler gibt, daß ein Schwindler sich immer auf den anderen, als den, »der es gesehen hat, daß ich nicht . . .« beruft und daß heute Du beschuldigt, morgen Du wieder Eideshelfer bist, daß wir also schon deshalb einig sein müssen. Die tiefste Frage der Mittelschulreform muß deshalb so formuliert werden: Unter welchem System wird die Fähigkeit des Schwindelns zu einer höheren Fertigkeit ausgebildet?

Nebenbei gesagt, bin ich deshalb unbedingt für die Beibehaltung der humanistischen Fächer. Was soll mit all den Grammatiken geschehen, in welche durch Generationen statt des gedruckten griechischen Textes die eingeklebten Seiten mit den geschriebenen deutschen Uebersetzungen kunstvoll eingefügt sind? Nein, eine wahre Hochschule der moralischen – wie soll man's sagen – Elastizität ginge mit der Abschaffung des Griechischen verloren! Bleiben wir bei den bewährten, alten Systemen!

Nichts ärgert mich aber mehr als der Feldzug hypermoderner Historiker gegen das Auswendiglernen der Jahreszahlen im Geschichtsunterricht der unteren Klassen! Hier steht direkt die »Kultur der sträflichen Hilfe« in Frage. Ah, wenn ich mich erinnere, wie mir einmal zumute war, als ich nach der Jahreszahl der Krönung Rudolfs von Habsburg gefragt wurde! Unnötig zu sagen, daß ich sie nicht wußte. Heute ist diese Jahreszahl die einzige, die ich nie vergessen werde. Ich stand da auf dem Podium und schwieg . . . Eine entsetzliche Pause.. Der Professor sah mich an, unbeschreiblich! Die Stille wurde immer furchtbarer. Der Professor öffnete den Salonrock, griff in die Brusttasche, wo der »kleine Katalog« ruhte. Um mir die ganze Verworfenheit meiner Unwissenheit klar zu machen, fragte der Professor: »Wer weiß das?«

Es erhob sich eine Unzahl Tertianerhände. »Eine Unzahl,« so sah's der Laie, der Professor. Der geprüfte Schüler sah tiefer. Unser Klassenzimmer war in drei Abteilungen eingeteilt. Zwei Wandelgänge für den herumgehenden Lehrer lagen zwischen den Abteilungen. Nochmals setzte der Professor den Dolch an die Brust: »Nun?« Aber in diesem Moment hatte ich bereits gezählt, zwölf Hände in der ersten Abteilung, sieben in der zweiten, drei in der dritten. »1273,« entgegnete ich schüchtern. Der Professor war entwaffnet. »Das hat lange gedauert,« murmelte er ärgerlich, weil er sich beinahe enttäuscht fühlte, und ließ den Kleinen Katalog wieder in die lichtlosen Tiefen der Brusttasche versinken. Und auf die Jahreszahlen sollen wir verzichten? Auf die Jahreszahlen, denen wir die findigsten fliegenden Organisationen der heranwachsenden Jugend verdanken? Niemals ist unsere Klasse nach einer Jahreszahl gefragt worden, ohne daß einige Schüler in den drei Abteilungen aufzeigten, weil sie plötzlich »hinausmußten«, oder weil vom letzten Kandelaber angeblich Gas ausströmte und was dergleichen wichtige Anzeigen sonst noch sind! Nein! Der Geschichtsunterricht in dieser Form muß beibehalten werden! Er ist unersetzlich!

Ungeheuer geschärft wird das Gehirn des Kindes durch den Mathematikunterricht! Es ist von sensationslüsternen Autoren oft beschrieben worden, wie unsäglich die Sträflinge beim Spaziergang im Hofe der Strafanstalt darunter leiden, daß sie miteinander nicht reden dürfen, und wie doch immer wieder auf eine höchst bewundernswerte Weise Verständigungen zwischen den Sträflingen zustande kommen! Aber was ist diese Klopfsprache in den preußischen Gefängnissen gegen die Künste, die während der »Schularbeit« in der Mathematikstunde entwickelt werden!

Unser Professor hatte Argusaugen. Kein Gefangenaufseher kann wachsamer sein. Er ging durch die zwei Wandelgänge des Zimmers und drehte sich immer gerade in dem Moment plötzlich um, da man ihn in den Anblick des schönen gelben Schwammes vor der »Tafel« vertieft dachte. Er vollführte plötzlich, um unter die Bank zu schauen, eine Kniebeuge, die man dem kleinen behäbigen Herrn gar nicht mehr zugetraut hätte. Dann wieder konnte er viertelstundenlang auf dem Podium stehen und einen Einzelnen, Verdächtigen, ununterbrochen scharf ins Auge fassen. Aber was half's? Wir saßen da, über das Heft gebeugt, und konnten über drei Bänke abschreiben. Dabei in einer Haltung! Tadellos! Kein Staatsanwalt konnte es bemerken! Wir saßen da, über das Heft gebeugt, und gaben mit dem Fuß dem Vordermann, der schon fertig war, einen Stoß. Eine Minute später steckten die »richtigen Resultate« in dem Röhrenstiefel drin. Vierzig Sekunden später waren sie abgeschrieben. Eine Minute später mußten wir uns am Halse rückwärts kratzen, wobei die richtigen Resultate, von unserem Rücken gedeckt, auf das Pult des Hintermannes fielen. Akrobaten und Fernseher – das wurden wir, dank der Mathematikstunde! Es gab – um nicht zu übertreiben – in jeder Klasse zwei, drei gemiedene Musterknaben, die nicht schwindelten. Es ist auch im Leben nichts Rechtes aus ihnen geworden! Einem von ihnen hat die ganze Klasse einmal furchtbar mitgespielt. Es war bei einer mathematischen Schularbeit. Er hatte drei von den fünf Exempeln gelöst. Das vierte und fünfte brachte er nicht fertig. Er saß da, der flachsblonde Junge, zerbiß den Federkiel und bekam ganz stille Tränen in die Augen. Seine ganze Umgebung war dank der lebendigen Korrespondenz längst fertig. Dem Nachbar des Flachsblonden, einem Knaben in brauner Samtbluse, fiel mit großem Lärm das »Federpennal« hinunter, wodurch das offizielle Recht zum Unter-die-Bank-Kriechen erworben war. Sofort kroch er hinunter, holte das Pennal, zerrte den Flachsblonden am Rock, wollte ihm die richtigen Resultate in die Hand drücken.

Der Flachsblonde zog die Hand aufs Pult hinauf. Der Moment, der zum Pennalaufheben nötig ist, war um. Der Nachbar mußte wieder emportauchen . . . Der Vordermann schlug sein zugeklapptes Heft wieder auf, damit der Flachsblonde einen Blick hinwerfen könne. Der bemerkte es und sah auf die andere Seite.

Es läutete. Die Hefte wurden abgesammelt. Der Flachsblonde hatte nur drei von fünf Aufgaben gelöst. Der Professor geht, die Theken unterm Arm ins Konferenzzimmer. Die ganze Nachbarschaft steht um den Flachsblonden versammelt.

»Warum hast Du's nicht abgeschrieben?« fragten sie. – »Ich hab' Dir das Heft hingehalten!« ruft einer. – »Ich wollte Dir unter der Bank die Resultate geben,« der in der braunen Samtjacke.

»Ich schwindle nicht!« erklärte der Blonde.

»So? Was tust Du denn?«

»Wenn ich's nicht kann, bete ich.«

»Beten! Um was denn?«

»Um Gottes Hilfe!«

Aber da kann sich die kleine braune Samtjacke, die früher unter die Bank gekrochen war, nicht mehr halten: »Das ist doch zu . . . Wenn ich Dir die Resultate unten geben will, siehst Du denn das nicht ein: das ist doch Gottes Hilfe!«

Alle stimmten ihm zu: »Natürlich! Der liebe Gott wollte Dir helfen. Zweimal sogar! Was hätte denn der liebe Gott noch alles tun sollen? Du hast seine Hilfe keck von Dir gewiesen.«

Da es ihm alle zuschreien, kommen dem Frommen, der Gottes Beistand hochmütig von sich wies, wirklich die Tränen. In der Geographiestunde, die jetzt beginnt, sitzt der Flachsblonde ganz unaufmerksam da. Seine Gedanken fliegen aufwärts, den lieben Gott um Verzeihung zu bitten.


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