Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Herzliche Grüße

In den Junitagen fing es an (und dauerte so fort bis Anfangs August), daß immer wieder ein regelmäßiger Besucher des Café Europa sich zur großen Kredenz begab, in der die Kassiererin saß, und ihr mit selbstgefällig gemütlichem Lächeln sagte:

»Also, Fräulein Louisi, heute sehen Sie mich für sechs Wochen zum letztenmal. Richten Sie sich ein paar Tränen her, morgen fahr ich fort . . . .«

Das Fräulein Louisi hatte alle »ihre« Gäste gern. So wie ein Herr das drittemal hintereinander ins Café Europa kam, bekam er beim Weggehen nicht nur einen Guten Tag- oder Gute Nacht-Gruß mit auf den Weg, sondern auch ein sanftes Lächeln auf den Lippen des Fräulein Louisi, ein herziges Neigen ihres Kopfes und einen aufmerksamen Blick aus ihren großen braunen Augen, der dauerte, bis die Glastür des Cafés geschlossen war. Das waren im Tag gewiß mehr als dreihundert sanfte Kopfnicken und aufmerksame Blicke, und dafür verdiente sie es schon, daß die Gäste sie durchwegs nur »Fräulein Louisi« nannten.

Die dreihundert sanften Grüße wurden belohnt. Jeden Tag beugten sich wohl an zwanzig sehr fein gekleidete Herren – das Café Europa war ein sehr nobles Café, in dem nur Professoren, Privatiers, Ministerialbeamte, Geldverleiher und dergleichen vornehme Welt verkehrten – über die Budel, hinderten Fräulein Louisi am Aufschreiben, Einschänken der Liköre und Austeilen der Zuckerportionen, um dafür die bedeutungsvolle Frage zu stellen: »Na, wie geht's Ihnen denn heute?« Fräulein Louisi antwortete immer sehr lieb, mit einem sozusagen in Worte übersetzten sanften Neigen des Kopfes. Das hieß: »O danke, sehr gut.«

Kamen im Winter, etwa nach dem Konzert, Damen in rauschenden und blendenden Theatertoiletten mit ihren Begleitern Nachts ins Café, so zogen sie bald ihre Lorgnons hervor, um die blasse Kassiererin mit dem schönen kastanienbraunen Haar zu begucken, vor der alle Augenblick sich ein Herr über die Budel der Kredenz hinlümmelte, um eine sehr wichtige Frage an sie zu richten und sie im Anschreiben und im Verteilen der Zuckerportionen zu stören. Es lag viel Bösartigkeit in diesem Begucken seitens der Damen, sie schienen dem sanften Fräulein Louisi nicht einmal die Frage: »Na, wie geht's Ihnen denn heute?« zu gönnen.

Seit sechs Monaten kam nun Fräulein Louisi jeden Mittag um 12 Uhr ins Café herunter (die Wohnung war im vierten Stock desselben Hauses), immer in einer lichten, frischen Bluse mit breitem Matrosenkragen, der über ihren zarten Schultern andeutend lag, das reiche kastanienbraune Haar zur Krone aufgesteckt. Wenn man sie da Mittags genauer ansah, wie es etwa der Mediziner Korde, oder der Ministerialsekretär Drucker oder der Leutnant Hollitscher taten, so merkte man, wie ihr Gesichtchen in Folge dieser ewigen grünlichgelben Gaslichtatmosphäre den rosigen Teint immer mehr verlor. Aber Nachmittags war es, wenn die vielen Gäste kamen, schon wieder so heiß und dumpf im Café, daß Fräulein Louisis Wangen wieder ein Bissel rot wurden, wenn es auch kein ganz gesundes Rot war.

Ende Juni hörten die Belagerungen der Budel vor der großen eichenen Kredenz, in der die kleine Kassiererin saß, allmählich auf. Die Herren sagten mit selbstgefälligem Lächeln: »Also richten Sie sich ein paar Tränen her, ich gehe auf Ferien!«, und Fräulein Louisi ersuchte ihre Freunde nur, indem sie mit ihren großen Augen noch viel inniger bat, wie mit ihrer sanften Stimme: »Bitte schicken Sie mir Ansichtskarten!«

So lag das Café an den Sommertagen recht leer und still da. Die Zeitungen, sonst unauffindbar, an hundert Tischen verstreut, lagen alle vernachlässigt auf einem riesigen Haufen; die Kellner standen stundenlang vor den Spiegeln und studierten, ob sie gut rasiert waren, oder wie sie aussehen, wenn sie gähnen oder ein Auge schließen. Die Kassiererin aber saß bei Tag ganz in die Ecke der großen eisernen Kredenz gedrückt und las Romane. Abends, wenn die Hitze allzu unerträglich war, nahm sie einen Sessel, stellte ihn auf die Gasse hinaus und blieb hier bis zwei Uhr nachts sitzen, um wenigstens die frische Luft der Gasse einzuatmen.

Der Mediziner Korde, der Ministerialsekretär Drucker, der Leutnant Hollitscher und alle anderen Lieblingsgäste waren schon weg. Aber sie meldeten sich. Jedesmal Mittags, wenn Fräulein Louisi ins Lokal kam, lag schon eine oder die andere Ansichtskarte da.

Der Mediziner Korde sendete die »herzlichsten Grüße« aus Gastein. Das war eine wunderbare Ansichtskarte: Zwischen Felsgestein und Gerolle stürzt wild schäumend, in toller Aufregung, der Wildbach Gastein zischend und quirlend herunter. Der Wasserfall beruhigt sich, der wilde Bach wird sanfter, ein schmaler Holzsteg – »Wie leicht man da ausrutschen kann,« sagte Fräulein Louisi zum Markör Franz – führt über das besänftigte Wasser. Von drüben aber winkt in reiner Weiße, von greller Sonne beleuchtet, ein großes dreistöckiges Hotel herüber, dem man es von außen ansieht, daß seine Treppen mit Teppichen belegt sind . . . . Mit ihren großen, noch viel größer werdenden Augen sah sich Fräulein Louisi diese Ansichtskarte an. Erst als der Zahlmarkör Franz sagte: »Fräul'n, gestern Nachts hab'n S' Ihna g'irrt bei der Abrechnung,« da erwachte sie.

Ministerialsekretär Drucker sendete »dem herzigen Fräulein Louiserl die herzlichsten Grüße aus Traunkirchen«. Auf dieser Karte war der Gmundener See abgebildet. In Ruhe lag der See da, von schwachen Brisen leicht gerippt, silbern glänzend. Vor dem See standen die schattigen, breiten, über und über belaubten alten Bäume der Gmundener Promenade. Von drüben her, vom rechten Ufer des Sees, glitzerten die lichten Häuser und die roten Dächer von Traunkirchen herüber. Auf dem ruhigen See ruderten zwei Boote . . . . Diese Karte kam am Abend. Wie Fräulein Louisi Nachts sich den Sessel auf die Gasse vor die große Glastür stellte, sah sie sich die Gmundener Karte nochmals an. Unwillkürlich mußte sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn sie heute Nacht bei diesem schön gestirnten Himmel in den Gmundener See hinausrudern könnte . . . .

»Fräulein Louisi,« sagte in diesem Moment der Markör Franz, »eine Ansichtskarte ist noch da, sie ist hinuntergefallen, drum haben Sie s' übersehen.« Er reichte sie hin.

Fräulein Louisi nahm die dritte Karte, wollte »Danke« sagen, merkte aber sofort, daß ihr etwas förmlich in der Kehle stecke, daß, wenn sie ein Wort sagte, ihr ein Schluchzen in die Kehle komme. So nahm sie schweigend die Karte. Aus »Etterek in Slavonien« war sie datiert, und was man auf der Ansichtskarte sah, das war nur ein endloser, dichter Eichenwald, der über einer Hügelkette hinzog. So dicht schien hier das Laub der Eichenkronen, daß man spürte, wie kühl und schattig und lautlos es unter diesem Blätterdache war. Schwarz und finster starrte einem der Waldesanfang entgegen, undurchdringlich und lichtlos . . . Drinnen im Café rief jetzt jemand heraus: »Fräulein Louisi, wissen Sie vielleicht, wo der zweite Teil des Adreßbuches ist?« Aber das sonst so pünktlich antwortende kleine Fräulein gab diesmal keine Antwort! Von drinnen wurde nicht mehr angefragt, das Adreßbuch war offenbar gefunden worden. Eine halbe Stunde lang saß sie unbeweglich, mit geschlossenen Augen da. Eine Träne rutschte ihr langsam über die Augenwimpern und fiel gerade auf das schön geschwungene »H« der »Herzlichen Grüße« des Leutnants Hollitscher.


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