Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.

.

Bisher hatte der alte Detektiv zumeist ein Gefühl großer Befriedigung gehabt, wenn er einem Verbrecher dicht an die Fersen rückte, und wenn es so weit war, hatte es ihn zumeist gar sehr gedrängt, den Schlußakt des Dramas herbeizuführen.

Heute fühlte er nichts von einem solchen Drange in sich. Heute hätte er lieber diesen Schlußakt noch weit hinausgeschoben.

Der Zug aber rollte weiter und immer weiter und brachte ihn seinem Ziel unaufhaltsam näher.

Müller fand wenig Schlaf, so bedrängten ihn die Gedanken.

»Ruhig also war Eck gewesen, gar nicht ungeduldig, trotzdem er zwei volle Tage auf das für ihn so wichtige Kleeblatt warten mußte!« dachte Müller wieder und wieder.

Und er sah Eck vor sich als den liebenswürdigen, zuweilen sogar heiteren Wirt, der er ihm gewesen war, der ihn, den ihm Fremden, ohne weiteres in sein Haus geladen und ihm so viele Aufmerksamkeiten erwiesen. Im Verlaufe seiner Anwesenheit in Pachern hatte Eck nicht einen Augenblick verraten, daß seine Seele übermäßig schwer bedrückt sei. Ein wenig verstimmt, zerstreut und hie und da melancholisch, das war Eck gewesen, aber wer ist das nicht zuweilen? Und wie beliebt, wie hochgeachtet er war, das hatten des Försters Reden genügend erwiesen.

Müller konnte nicht fertig werden mit all diesen Gedanken, die sich ihm aufdrängten, mit all den Fragen, die er sich, ohne eine Antwort zu finden, selber stellte.

Der Zug war nur schwach besetzt. Zwischen Triest und Laibach befand sich Müller überhaupt allein in seinem Abteil. Von da ab fuhr ein Oberst mit ihm bis Marburg. Als dieser ausgestiegen war, redete Müller mit dem Schaffner, und daraufhin blieb er bis Graz wieder allein.

Von dort an befand er sich aber in großer Gesellschaft. Es drängten sich da mindestens vierzehn Personen, die offenbar alle den besten Kreisen angehörten, mit ihren Schlitten in die wenigen Abteile erster Klasse. Es war, als sei ein Bienenschwarm hereingeflogen. Unter den Eingestiegenen befand sich nur eine einzige ältere Dame, alle anderen waren noch in den Jahren, in denen der Übermut so leicht obenauf kommt. Zwei Diener, die zu der Rodlergesellschaft gehörten, wurden in einem Wagen dritter Klasse untergebracht.

Es war kein Zufall, daß Gräfin Vivaldi Müller gegenüber zu sitzen kam. Er hatte dies durch den Schaffner bewerkstelligen lassen.

Noch interessanter wäre ihm Simonettas Nähe gewesen, aber diese junge Dame hatte sich, der Anweisung des Schaffners entgegen, in das Nachbarabteil gesetzt.

Die Fahrt von Graz nach Bruck dauert etwa eine Stunde. Sie verging allen wie im Fluge, den jungen Leuten, weil sie lebhaft plauderten, Müller, weil er diesem Plaudern aufmerksam zuhörte und sein Gegenüber studierte. Einmal war er während der Fahrt in den Korridor hinausgetreten. Er hatte sehen wollen, zu wem Simonetta sich gesellt hatte.

Sie redete sichtlich erregt mit einem in den Dreißigern stehenden stattlichen Herrn. Der Mann gefiel Müller, gefiel ihm weit besser als die übrigen jüngeren Herren.

Auch Simonetta mußte seine Gesellschaft der sämtlicher anderen hier Anwesenden vorziehen, sonst hätte sie sich gewiß nicht nur mit ihm allein befaßt.

Als Müller sich wieder auf seinen Platz begab, kam er an zwei der jungen Damen vorbei, die, im Korridor stehend, die Köpfe zusammensteckten. Gerade als er vorbeiging, sagte die eine: »Was nur Simonetta hat? Sie ist wie umgewandelt. Vorhin war sie dem Weinen nahe, und jetzt ist sie die Vergnügteste von uns allen!«

»Ach, laß sie,« antwortete die andere junge Dame. »Sie und Malten werden halt wieder einmal miteinander streiten. Die müssen ja immer beieinander hocken!«

»Also dieser Herr ist der Doktor Malten,« dachte Müller, als er sich auf seinem Platz niederließ.

Simonetta und Malten waren in der Tat nicht zufällig zusammengekommen. Die Baronesse hatte ihn sofort an ihre Seite gewinkt, als sie eingestiegen war, und Malten war dem Befehl durchaus nicht ungern gefolgt. Er war seiner ja ganz sicher, weshalb hätte er sich also das Vergnügen versagen sollen, mit der heimlich Geliebten zu plaudern?

Sie redeten denn auch ganz in der gewohnten lustigen Weise miteinander und waren bald in einen ihrer Wortkämpfe verwickelt, die seitens des temperamentvollen Mädchens nicht immer stachellos blieben, bei denen aber den Doktor seine Ruhe und sein Humor nie verließen.

»Ich würde an Ihrer Stelle gewisse Patienten gar nicht behandeln,« sagte sie eben sehr bestimmt.

Er lachte zuerst, dann wurde er aber rasch ernst. »Sie denken dabei an meine Armenpraxis,« entgegnete er mit einer gewissen Schärfe. »Aber gerade die Armen brauchen mich am notwendigsten.«

Simonetta schaute ihn einigermaßen erschrocken an. »Ich fürchte, Doktor, Sie halten mich für vollkommen herzlos, weil ich ein paarmal so dummes Zeug redete. Aber Sie irren sich diesmal. Ich dachte an ganz andere Patienten.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel an Frau v. Turzky und an die Elmau. Diese zwei –«

»Nun? Was ist mit ihnen?«

»Die eine schminkt sich, und die andere ist eine Theaterprinzessin,« fuhr es Simonetta heraus.

»Ist das für mich ein Grund, die Damen nicht zu behandeln?«

»Es ist doch keine von ihnen wirklich krank!«

»Wie genau Sie das wissen!«

»Sie wollen sich nur interessant machen.«

»Mit Stockschnupfen die eine und die andere mit Magenkrämpfen! Es ist richtig, Baronesse, das macht unbeschreiblich interessant!«

»Jedenfalls braucht man deswegen keinen Arzt. Unsere selige Theres hat dafür genug Mittel gehabt.«

»Ich weiß zwar, daß alte Frauen uns Ärzten oft Konkurrenz machen und daß –«

»Daß junge Frauen sich oft interessanten Ärzten anvertrauen.«

»Geht das auf mich?«

»Doktor, Sie sind wieder einmal unausstehlich.«

»Das ist bloß Ihre Meinung, Baronesse.«

»Die Turzky und die Elmau meinen es freilich nicht.«

»Lassen Sie doch diese beiden in Ruhe! Frau v. Turzky tut ganz recht daran, sich zu schminken, sie leugnet es ja auch gar nicht, denn –«

»Denn?«

»Sie gesteht selbst ganz ungeniert ein, daß sie einen recht unvorteilhaften Teint besitzt.«

»Sie sagt das selbst?«

»Gewiß. Die Frau ist sehr gescheit.«

»Freilich ist sie sehr gescheit! Sie spekuliert doch auf Sie!«

»Auf mich?«

»Die Baronin Plessen hat es erst gestern der Tante gesagt. Und daß die Elmau dasselbe tut, weiß schon die ganze Stadt.«

»Nur ich weiß nichts davon. Und ich kann Ihnen sagen, Baronesse, daß die beiden Damen nach dieser Richtung hin mit keinem Gedanken an mich denken. Das muß ich doch wohl am besten wissen.«

»Sie sind nur zu vornehm, es zuzugeben.«

»Ein Geck müßte ich sein, wenn ich diesen Gerüchten nicht energisch entgegentreten würde. Übrigens wird man ja bald solchen Unsinn nicht mehr reden können.«

»Warum nicht?«

»Weil ich vom ersten Mai an nicht mehr in Graz sein werde.«

»Was sagen Sie?« rief die Baronesse, und ihr Gesicht wurde bleich, ihre Lippen zitterten.

Malten erhob sich langsam. Ihm ist das Blut zu Kopfe gestiegen, seine Augen leuchten.

Aber nur wenige Sekunden war er so ganz überrascht, so ganz hingerissen von der Erkenntnis des Ungeahnten. Rasch meisterte er sich. An das Fenster tretend, schaute er eine Weile angelegentlich auf das glitzernde Land hinaus, und alsdann begann er, noch immer von Simonetta halb abgewendet, zu reden.

»Ich habe erfahren, daß man zur Leitung eines staatlichen Sanatoriums in Salzburg einen Direktor sucht, und da mir eine derartige Stellung sehr zusagt, habe ich mich um sie beworben.«

Verstohlen richtete er jetzt einen Blick nach Simonetta hin. Jetzt war ihre Blässe plötzlich verschwunden, mächtig war jetzt auch ihr das Blut ins Gesicht gestiegen, Leid und Scham raubten ihr offenbar beinahe die Fassung.

Ein bitteres Empfinden wallte in ihm auf. Hat sie es nicht früher gewußt, daß er ihr so viel ist, daß Todesschrecken über sie kommt, weil er von ihr geht? Ist sie so oberflächlich, daß sie nicht weiß, wie es in den Tiefen ihrer Seele aussieht, oder so abhängig von ihren Spekulationen, daß sie trotzdem Ecks Braut wurde?

Einen Augenblick lang haßte er Simonetta beinahe, dann aber erkannte er, daß er sie nur zu bemitleiden brauchte.

Und so redete er weiter, damit sie Zeit gewinne, sich zu fassen. Er hat sich ja in der Gewalt, dieser Mann von so festem Willen und von so feinem Empfinden.

Es klang schließlich ganz gemütlich, was er über seine Zukunftspläne äußerte.

Die Baronesse hatte sich inzwischen gefaßt. Aber sie wußte es sicher, daß Malten die Ursache ihres Erschreckens durchschaute, daß auch er sie liebte, wie sie ihn. Wie seine Augen leuchteten! Wie ihm das Blut in das Gesicht schoß! Das würde sie nie vergessen.

Sie erhebt trotzig den Kopf und sagt heftig: »Malten, Sie werden diese Stelle nicht annehmen! Sie sind hier doch auch nötig! Und Ihre Mutter befindet sich hier so wohl!«

»Woher wissen Sie das?« fragt der Doktor, ihr lächelnd in die Augen schauend.

Da flammt ihr hübsches Gesicht wieder, und sie senkt den Blick und wischt voll Verlegenheit von ihrer neben ihr liegenden Pelzjacke irgend etwas weg, das gar nicht zu sehen war.

»Das hat mir recht wohl getan,« sagt er scheinbar ohne irgend einen Zusammenhang, aber Simonetta weiß genau, was er meint. »Namentlich die Widmung, die Sie Ihrem überreichen Geschenke mitgaben. Ja, jene Frauen, die viel arbeiten müssen, die sich nichts gönnen, und die sich nicht schonen können, die bedürfen sehr der Unterstützung. Daß Sie solchen Frauen Gutes tun – das, Baronesse, freut mich innig.«

»Sie selbst haben mir doch erst die Augen geöffnet!«

»Das tut nichts zur Sache.«

»O doch. Wenn ich je einmal etwas Richtiges tat, waren Sie der geistige Urheber davon. Sie sehen, ich brauche solch einen Führer.«

»Ihr Gatte wird Ihnen ein solcher sein. Er ist ein selten guter Mensch, so ziemlich der vornehmst denkende Mann den ich kenne. Sie werden nicht nur sehr glücklich, Sie werden auch sehr gut in dieser Ehe werden.«

»Ich bin also noch nicht gut?« fragte Simonetta scheu aufblickend.

»Doch,« antwortete Malten freundlich. »Sie sind schon gut, aber eine Steigerung dieser Eigenschaft ist immerhin noch möglich.«

Simonetta preßte die Lippen aufeinander. »Sie geben also jene Idee nicht auf?« fragte sie nach einer Weile ganz leise.

Malten antwortete ernst: »Jetzt ganz gewiß nicht mehr.«

Eine von Simonettas Freundinnen kam an dem Abteil vorüber. Er rief sie herein und plauderte so heiter mit ihr, als ob nicht eben so Ernstes hier vorgegangen sei.

»Was ist denn mit Simonetta, Doktor? Hat sie sich wieder mit Ihnen gezankt?« fragte die junge Dame, auf die Baronesse weisend, die auffallend wenig an dem Geplauder teilgenommen hatte.

Malten schüttelte den Kopf. »O nein, gnädiges Fräulein,« sagte er, »die Baronesse und ich sind die besten Freunde und stimmen gerade heute in allem Wichtigen durchaus überein. – Es ist doch so, Baronesse?«

»Ja – Herr Doktor – es ist so. Ich bin mit allem einverstanden.«

Simonetta hielt ihm die Hand hin, und er küßte diese Hand, die leise zitterte.

Die Freundin der Baronesse wunderte sich ein wenig über die Feierlichkeit des Doktors. Glücklicherweise entging es ihr, daß Simonettas Augen plötzlich in Tränen standen, und daß der Doktor auffallend blaß war, als er auf den Korridor hinaustrat.

Die junge Dame hatte keine Ahnung davon, daß hier soeben zwei einen wehevollen Abschied gefeiert haben.

Einer der jungen Herren der Gesellschaft, der neben Müller saß, sagte: »Wissen Sie es schon, Gräfin, daß Doktor Malten uns verlassen wird?«

Gräfin Vivaldi sah ihn erschrocken an. »Was sagen Sie da? Ich hoffe, ich habe Sie nicht richtig verstanden.«

»Doch, Gräfin, Sie verstanden ganz richtig. Schon Ihr Erschrecken beweist es. Ich habe die wirklich nicht angenehme Neuigkeit heute bei meiner Base Turzky erfahren. Sie ist über Maltens Entschluß auch völlig außer sich.«

»Wenn ich richtig hörte, so spricht man hier von mir,« sagte Malten nähertretend.

Die Gräfin sah zu ihm auf. »Lieber Doktor,« fing sie an, »da gehen Gerüchte über Sie, die mir gar nicht recht sind. Es ist doch hoffentlich nicht wahr, daß Sie Graz verlassen wollen?«

»Handelt es sich darum? Nun, Gräfin, das ist kein Gerücht, das ist Tatsache.«

»Also wirklich? Was haben wir Ihnen denn getan?«

»Verwöhnt haben wir ihn,« warf eine junge Frau, die lustige Gattin eines hohen Justizbeamten, ein.

»Und da der Doktor Zuckerwerk nicht liebt, dreht er uns einfach den Rücken.«

»Aber mein Herz bleibt hier, Gnädigste,« scherzte Malten. »Im übrigen haben Sie recht. Es ist mir hier zu gut gegangen, und das vertrage ich fernerhin nicht.«

»Scherzen Sie nicht. Malten. Sagen Sie es uns ernsthaft, warum Sie gehen,« bat die Gräfin. »Sie haben sich das ja sicherlich wohl überlegt, und somit haben Sie einen triftigen Grund dafür.«

»Den habe ich.«

Warum brach bei diesen Worten ein Blitz aus seinen Augen? Warum lächelte er so froh? Oder war das Täuschung?

Maltens Gesicht war schon wieder ruhig, und gelassen erklärte er, daß er schon lange nach einer derartigen Anstellung trachtete, sich um eine solche beworben und sie erhalten habe.

»Wo werden Sie also künftig leben?«

»In Salzburg.«

»Na, wenigstens auch in einem schönen Ort,« meinte eine reizende kleine Blondine. Sie war nicht mehr ganz jung und hatte schon drei Verlobungen hinter sich. »Was sagt denn aber Fräulein Elmau dazu?«

»Sie hat heute vormittag die Nachricht mit großer Fassung entgegengenommen,« erwiderte der Doktor. »Sie bedauert nur eines dabei.«

»Nun?«

»Daß ich nicht ihr Trauzeuge sein kann.«

»Ah – sie heiratet?«

»Und zwar wirklich einen anderen, Gnädige! Und da erst im Juni ihre Hochzeit stattfinden wird, ich aber schon am ersten Mai –«

»So bald schon?« fällt die Gräfin ihm in die Rede.

»Da werden Sie also auch nicht bei Simonettas Trauung sein, denn die ist für den 10. Mai angesetzt.«

»Nein, bei dieser Hochzeit kann ich auch nicht sein,« erwidert Malten, und – wenigstens Müller meint so – seine Stimme klingt wirklich belegt. »Aber da sind wir ja schon am Ziele. Meine Damen, beeilen Sie sich! – Gräfin, erlauben Sie?«

Malten war so beschäftigt, sich nützlich zu machen, daß er es gar nicht wahrnahm, daß Simonetta schon ausgestiegen war.

Müller beeilte sich ebenfalls nicht. Er beobachtete, im Korridor stehend, wie Simonetta dem auf dem Bahnsteig stehenden Eck entgegeneilte und ihm beide Hände entgegenstreckte.

Als letzter der Rodlergesellschaft verließ Doktor Malten den Wagen, und erst nach ihm stieg Müller aus. Er hielt sich so lange abseits, bis Eck mit seinen Gästen die Station verlassen hatte. Erst als die Schlitten und der Break weggefahren waren, betrat Müller den Platz, der sich hinter dem Brucker Stationsgebäude befindet.

Er schaute Eck nach, der zu Pferd war und neben dem ersten Schlitten herritt, in dem nebst zwei anderen Damen Gräfin Vivaldi und seine Braut sahen.

Müller hatte seine Reisetasche beim Bahnhofportier zurückgelassen und machte sich nun auf den Weg nach Pachern. Er hatte schon, bevor er seine Fahrt nach Triest antrat, seine Sportkleidung mit dem Anzuge vertauscht, den er sonst zu tragen pflegte. So war er also wieder der feine ältliche Herr, der er in Wirklichkeit war.

Er schritt rüstig dahin.

Als er die hübsche Stadt hinter sich gelassen hatte und in die freie Landschaft hinauskam, hörte er rasche Schritte hinter sich.

»Nun, Sie machen auch lieber eine Promenade?« fragte die freundliche, klangvolle Stimme des Doktors.

Die beiden Herren begrüßten sich kurz.

»Ja, mein Herr Reisegefährte, auch ich gehe gern,« sagte Müller. »Aber es wundert mich, daß Sie nicht bei Ihrer Gesellschaft geblieben sind. Nach Pachern ist es doch ziemlich weit!«

»Sie wissen schon, daß wir dorthin wollen? Und Sie kennen Pachern?«

»Die Herrschaften erwähnten im Gespräche ihr Ziel, das auch das meinige ist.«

»Sie gehen auch nach Pachern? Da muß aber nun ich mich wundern, daß Sie nicht mitgefahren sind.«

»Ich wollte mich der mir fremden Gesellschaft nicht aufdrängen. Deshalb habe ich mich ja auch den Damen nicht vorgestellt, obwohl ich wußte, daß wir in Pachern zusammen sein werden.«

»Doktor Malten,« sagte jetzt der Jüngere, noch einmal den Hut lüftend.

»v. Schleinitz,« stellte Müller sich vor. »Ich habe mich mit den Herrschaften auch deshalb nicht bekannt gemacht, weil ich über manches nachzudenken habe und diesen Weg lieber zu Fuß machen wollte.«

»Das ist auch der Grund, weshalb ich auf das Mitfahren verzichtete.«

»Man hat schon solche Zeiten,« warf Müller ein.

Da blieb Malten stehen, breitete die Arme weit aus und wandte das Gesicht zum Himmel empor. »Ob man solche Zeiten hat!« rief er aus. »Die Brust wird einem zu eng. Die ganze Welt möchte man ans Herz pressen und doch –« er ließ die Arme sinken, schöpfte tief Atem und schaute seinen Weggenossen wehmütig an. »Und warum dies alles? Warum dieser ganze Seligkeitsrummel? Weil man einen Farbenwechsel bemerkt hat, weil ein paar zitternde Worte gefallen sind, weil –«

»Das haben Sie erlebt?« sagte Müller gedankenvoll.

Da schaute der Doktor ihn scharf an, wandte das plötzlich rotgewordene Gesicht ab und warf nach einer Weile hin: »Ja – vor einiger Zeit habe ich so etwas erlebt. Es wirkt eben noch in mir nach.«

»Gewiß, manches wirkt lange in uns nach,« gab Müller zu und lenkte das Gespräch auf andere Dinge.

»Sie wollen also eine Rodelpartie machen?« fragte er.

»Und Sie? – Sie treiben wohl keinen Sport mehr?« nahm Malten das neue Thema gern auf.

»O doch! Kürzlich erst habe ich einen kleinen Unfall mit meinen Schneeschuhen gehabt und habe auf diese Weise die Bekanntschaft des Herrn v. Eck gemacht.«

»Wo denn?«

»Ich war vor wenigen Tagen erst sein Gast, machte inzwischen eine kleine Reise und werde wieder von ihm erwartet. Wir haben merkwürdig schnell Gefallen aneinander gefunden.«

»Daran finde ich nichts Merkwürdiges,« meinte der Doktor. »Eck ist ein sehr lieber Mensch, und da er auch sehr klug ist, findet er bald heraus, wer zu ihm paßt. Wehren Sie nur nicht ab, Herr v. Schleinitz, es ist schon so, wie ich sage. Und ich bin froh, wenn Pachern liebe Gäste hat, denn Eck braucht das. Er neigt, seit er das wilde Leben hinter sich ließ, gar zu sehr zur Melancholie.«

»Das habe ich in der Tat bemerkt. Also er hat einmal ein wildes Leben geführt?«

»Ja, als er noch jünger war. Du lieber Himmel! In stillen Garnisonen geht es oft recht sonderbar her, und im Champagnerdusel tut so mancher etwas, was er nicht leicht verantworten kann. Alfons v. Eck gehört trotz allem schon seit Jahren zu den nicht gar vielen, vor denen man den Hut ziehen muß. Übrigens sind wir jetzt ganz in der Nähe der Schlittenbahn. Die Herrschaften werden sich inzwischen umgekleidet und das Fahren schon begonnen haben. In Pachern fänden wir wohl nur die Gräfin Vivaldi. Wollen wir nicht gleich lieber zur Gesellschaft gehen?«

Schleinitz-Müller war damit einverstanden. Man ließ also das Schloß rechter Hand liegen und ging auf einem Seitenwege weiter, der gegen den Wald hin führte.

Als die beiden Herren den Wald erreicht hatten, kamen bereits etliche Schlitten die Bahn herabgesaust, und die lustigen Fahrer landeten unter Lachen und Scherzen ganz in ihrer Nähe.

Müller wäre am liebsten unten am Ziele geblieben, da aber Malten mit einer gewissen Hast dem Startplatze zustrebte, folgte er dem Doktor, der ihn sehr zu interessieren begann. Der Aufstieg fand außerhalb des Waldes auf kurzem, steilem Wege statt, während die Rodelbahn im Walde verschiedene weite Windungen machte.

Als die beiden Herren den Startplatz erreicht hatten, ließ sich Malten, der Eck schon auf dem Bahnhofe begrüßt hatte, sogleich einen Schlitten geben und entnahm seinem Rucksack, der auch heraufgebracht worden war, eine Mütze und Fäustlinge.

Inzwischen war Eck mit liebenswürdiger Lebhaftigkeit auf seinen wiedereingetroffenen Gast zugetreten und hatte ihn begrüßt. »Also sind Sie doch gekommen!« sagte er erfreut. »Und zwar zu rechter Zeit, da Sie ja meine Bahn im Betriebe sehen wollten. Die Herrschaften wollen schon heute mit dem letzten Zug heimfahren.«

»Das heißt, Simonetta ist eigensinnig und will nicht über Nacht hier bleiben,« verbesserte ihn die verbitterte Blonde, die eben sich zur Abfahrt anschickte, in vollem Ärger. »Sie behauptet, daß sie Kopfweh habe.«

»Sie behauptet es nicht nur. Gnädige,« entschuldigte Eck seine Braut, »Sie brauchen Simonetta ja nur anzusehen, um zu erkennen, daß sie sich wirklich nicht wohl fühlt. Übrigens steht Ihnen allen mein Haus offen, wenn auch –«

»Oh, wir fahren schon mit ihr!« erwiderte die Dame und sauste gleich danach die breite Waldstraße hinunter.

Eck zuckte die Achseln, dann fragte er seinen Gast:

»Nun, Ihr Unwohlsein, Herr v. Schleinitz, wird hoffentlich vorüber sein?«

»Gewiß – der Hexenschuß ist vorüber.«

»Also brauchen Sie unseren Doktor hier nicht in Anspruch zu nehmen. Das freut mich, denn da können wir morgen, da wir ganz gegen alles Erwarten allein sein werden, einen Pirschgang machen. Sie sind doch Jäger?«

»Ja – ich bin Jäger.«

Malten horchte auf. »Das klang merkwürdig unfroh,« dachte er.

Eck aber hatte nicht darauf geachtet, hatte sich zu dem Doktor gewendet und meinte: »Es wird bei Simonetta doch hoffentlich keine Krankheit ausbrechen? Sie macht mir Sorge. Gar nicht wie sonst ist sie – so einsilbig, so verstimmt. Und dazu dieses Kopfweh! Haben Sie das alles nicht schon unterwegs bemerkt?«

»Doch. Die Baronesse war schon während der Bahnfahrt nicht wie sonst,« gab Malten zur Antwort. »Wo ist sie jetzt?«

»Sie muß eben unten am Ziel sein. Mich wundert es nur, daß sie rodeln mag. Aber gerade heute ist sie wie toll. Sie hofft ihren Kopfschmerz dabei loszuwerden. – Ah, da kommt sie ja eben mit dem Baron Sennfeld! Dort bei den Birken sind sie jetzt.«

Die drei Herren schauten den beiden entgegen. Es waren ein paar kräftige Gestalten. Sennfeld groß und ein wenig derb, sie schlank und geschmeidig und im Hosendreß der richtigen Rodlerin.

»Ich bitt' Sie, Doktor, fahren Sie vor ihr. Der Sennfeld ist ein Wagehals.«

»Weshalb wollen Sie nicht selbst mit Ihrer Braut fahren?«

»Ich habe heute keine Lust dazu.«

»Sie sehen auch nicht gut aus,« sagte Malten, Eck prüfend betrachtend. »Mit Ihnen ist etwas los. Haben Sie vielleicht die Absicht, krank zu werden?«

»Die Absicht gewiß nicht,« entgegnete Eck mit einem müden Lächeln. »Und überhaupt werde ich nicht krank werden, weil ich nicht will.«

Das müde Lächeln hatte einem Ausdruck von Trotz Platz gemacht. Aber auch dieser verschwand rasch wieder, denn Simonetta war schon ganz nahe, und Eck ging ihr rasch entgegen.

»Du glühst ja förmlich,« rief er besorgt, »und dein Mantel ist nicht geschlossen! Herz, sei doch nicht so unvorsichtig! – Sennfeld, Sie hätten ihr sagen müssen –«

»Was denn? Daß ich mich wie eine alte Frau einpacken soll?« warf die Baronesse ärgerlich hin.

»Sie sind mehr ein eigenwilliges Kind,« sagte Malten trocken. »Aber hoffentlich werden Sie trotzdem einsehen, daß Sie, erhitzt wie Sie jetzt sind, im Freien nicht stehen bleiben dürfen. Entweder treten Sie in die Hütte, die unser sorgsamer Wirt dort aufgestellt hat, oder –«

»Nun – oder?« fragte Simonetta trotzig.

»Oder Sie fahren gehorsamer, Sie sind Sennfeld gegenüber gewiß widerspenstig gewesen –«

»Wenigstens außerordentlich ungnädig,« warf der Baron ein.

»Nun, dann fahren Sie mit mir,« bestimmte der Doktor.

»Ich gehe lieber in die Hütte,« sagte Simonetta und wandte sich schon dem kleinen Holzbau zu. Aber schnell ihren Entschluß ändernd, meinte sie dann: »Also – fahren wir!«

»Nach mir!«

»O ich will nicht in dem Tempo fahren, das Sie mir aufzwingen werden.«

»Ich bitte Sie, mir zu folgen. Sie sind noch keine sichere Rodlerin.«

»Eine Stümperin bin ich – wie in allem«

»Baronesse müssen wohl sehr arg Kopfweh haben!«

Sie antwortete nicht darauf, warf dem Diener ihren Mantel zu und setzte sich auf ihrem Davoser zurecht. Augenscheinlich hatte sie vor, ohne Begleitung zu fahren.

Malten aber war noch eiliger als sie. Schon schoß er an ihr vorbei. »So,« rief er ihr über die Schulter zu, »jetzt ab!«

»Bei dem Wildstadel lassen Sie mich aber links vorüber!« rief Simonetta.

»Fällt mir gar nicht ein!« antwortete er. »Sie bleiben bis ans Ziel hinter mir.«

»Wir werden ja sehen!«

Sausend flogen die Schlitten durch den Wald hinab. Richtig wollte an einer Biegung Simonetta ihren Willen durchsetzen und an Malten vorbeifahren, geriet aber dabei auf eine Baumwurzel, kam aus der Richtung und war im nächsten Augenblick in einer tiefen Schneewehe verschwunden.

Die vorwitzige Fahrerin war in weiten: Bogen fortgeschleudert worden, aber es gab kein Unglück, denn sie fiel in tiefen Schnee.

Der Doktor, der sofort gebremst hatte, half ihr wieder auf die Füße, führte sie in den Wildstadel und schob rasch Heu zu einem Sitz für sie zusammen.

Simonetta saß jedoch nur kurze Zeit, dann erhob sie sich und trat zu dem am Türpfosten lehnenden Doktor. »Ich bin eine Närrin,« sagte sie errötend.

Er lachte herb auf. »Nein, aber eigensinnig sind Sie! – So – und jetzt fahren wir weiter. Doch da kommt Sennfeld. Also nach ihm.«

Er zog Simonetta eben noch rechtzeitig zurück. Da sauste Sennfeld auch schon an ihnen vorüber.

»Der spielt auch mit seinem Leben!« murrte der Doktor.

»Es ist ja auch nicht so viel wert, daß man so ängstlich darauf achtzugeben brauchte.«

Malten schaute sie ernst an. »Was wissen Sie vom Leben! Sie kennen seinen Wert noch nicht. Sie kennen wohl überhaupt nur Launen.« Er wendete sich von Simonetta ab, um ihren Schlitten zu holen. »So – jetzt können Sie vorausfahren,« sagte er.

Die Baronesse nahm schweigend ihren Sitz ein. Trotz der sehr frischen Luft war ihr Gesicht ganz blaß.

Malten schloß die Lippen fest. »Nur jetzt keine Dummheit!« dachte er. »Keine Dummheit und noch viel weniger eine Schlechtigkeit!«

Simonetta setzte ihren Schlitten in Bewegung.

»Ihre Schnur schleift nach!« rief er und hielt den Schlitten an.

Sie nahm die Schnur, die er freigemacht und ihr gereicht hatte. Dabei sah er die zwei dicken Tränen, die ihr über die Wangen liefen.

Er biß die Zähne zusammen. Dann aber rief er: »Los!« Es kam ganz heiser aus seiner Kehle. Auch in seine eigenen Augen stiegen die Tränen, und während er der Fahrenden nachschaute, wurden seine Züge weich. »Du liebes, wunderliebes Kind!« murmelte er.

Er kam erst gute fünf Minuten nach Simonetta am Ziele an.

Sie war von ihren Freundinnen umringt, denen sie lebhaft von ihrem Sturz erzählte.

Man rodelte bis zum Eintritt der Dunkelheit. Doch fuhren Simonetta und der Doktor nicht mehr zusammen.

Auch später im Schloß in der Zeit bis zum Abendessen, die man mit Plaudern und Musizieren verbrachte, mieden sich die beiden, ohne daß dies jedoch irgend jemandem besonders auffiel.

Nur Schleinitz bemerkte es, den Eck der Gesellschaft vorgestellt hatte, und welcher, trotzdem er sich zumeist der Gräfin Vivaldi widmete, noch viel Aufmerksamkeit für andere Anwesende hatte.

Bald nach dem festlich gestalteten Abendessen machte sich die Gesellschaft zum Aufbruche bereit, denn gegen zehn Uhr ging der letzte Zug ab, den man benutzen mußte, wenn man heute noch nach Graz gelangen wollte.

Simonetta war den ganzen Abend über sehr lieb zu ihrem Verlobten gewesen, immer hatte sie sich mit ihm beschäftigt, trotzdem aber hatte er deutlich gefühlt, daß sie eigentlich nur körperlich bei ihm sei, daß vielleicht auch ihre Seele bei ihm sein wollte, aber zuweilen weit, weit fort war.

Er nickte nur trübe vor sich hin. Dann wurde er wieder heiterer und sorgte für die Fahrt zur Station.

Müller blieb, als Eck im vierspännigen Schlitten mit seiner Braut und deren Freunden abfuhr, in Pachern zurück. Er war aber jetzt lange in geschlossenen Räumen gewesen, seine Aufregung wuchs immer mehr, und er sehnte sich nach Bewegung und nach der frischen, herrlichen Gebirgsluft.

Er holte sich also Überrock und Hut und verließ das Schloß, ging bis zum Dorfe und kehrte erst dort wieder um.

Er seufzte bei diesem Umkehren. Ging er doch jetzt wieder dem Schloß zu, in dem sich heute noch so Fürchterliches abspielen würde!

Der alte Detektiv hatte nämlich vor, sofort nach dem Heimkommen Ecks mit diesem ganz offen zu reden, und wenn er an das dachte, was fast mit Sicherheit darauf folgen würde, drehte sich ihm das Herz im Leibe um vor Kummer und Weh.

Er war also auf diesem Spaziergang sehr ernst und voll von Sorgen, die sich in dem großen Schweigen rings um ihn wie mit Bergeslast auf ihn wälzten.

Fernes Schlittengeklingel wurde hörbar. Deutlicher, immer deutlicher wurde es, und nun wurde auch schon Hufschlag und das Schnauben von Pferden vernehmbar.

Müller stellte sich hinter eine Scheune und ließ den großen vierspännigen Schlitten an sich vorüberfahren. Der Schlitten fuhr gar nicht schnell. Der Kutscher hatte wohl den Befehl erhalten, behaglich zu fahren. Vermutlich wollte auch Eck noch die frische Luft genießen.

Müller schaute mit Spannung auf den jungen Gutsherrn, der ganz in sich zusammengesunken in dem Schlitten saß. Sein Kopf war tief auf die Brust geneigt, der Unglückliche starrte auf seine im Schoß gefalteten Hände.

»Hoffnungslose Verzweiflung!« mußte Müller denken, und wieder pochte stürmisch das Herz in seiner Brust.

Eine Viertelstunde später trafen die beiden Herren in Ecks Arbeitszimmer zusammen. Es hätte ihnen niemand angesehen, daß ihre Seelen sich nicht im vollen Gleichgewicht befanden.

»Wir plaudern doch noch ein bißchen?« sagte Eck und wies, liebenswürdig lächelnd, auf den einen der zwei gemütlichen Lehnstühle.

Sie standen so zueinander, daß ein Tischchen sich zwischen ihnen befand. Auf diesem Tischchen lagen Bücher, Zeitungen und verschiedenes Rauchzeug.

Eck ließ sich nieder und griff nach einer Zigarre.

»Sie rauchen nicht?« fragte er verwundert, als Müller es ihm darin nicht gleichtat.

»Lieber nicht,« meinte der eigentümlich zurückhaltend gewordene Gast.

»Sind Sie verstimmt?« erkundigte sich Eck.

Müller schüttelte den Kopf. »Nicht eigentlich verstimmt,« sagte er. »Ich muß nur immer an etwas denken, das kürzlich passiert ist.«

»Ihnen?«

»Nicht mir. Allein es ist jetzt so nahe an mich herangetreten, daß es nun auch mich angeht.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Ich möchte mit Ihnen davon reden.«

»Nun, wir wollten ja plaudern, da ist ein Thema so gut wie ein anderes.«

»Doch nicht immer,« sagte Müller seltsam ernst.

Da beugte Alfons v. Eck sich vor. »Erzählen Sie!« bat er lebhaft.

Dann war es wohl eine Minute lang so still in dem schönen großen Raum, daß man den Schrei eines draußen vorüberfliegenden Raben deutlich vernehmen konnte.

»Erzählen Sie also,« sagte noch einmal der Schloßherr, einen tiefen Zug aus seiner Zigarre nehmend.

.

 << zurück weiter >>