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Achtes Kapitel.

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Schweigend schritten die beiden Männer durch den Winterwald. Still war es um sie her, nur der Schnee krachte unter ihren Tritten.

Unangefochten erreichten sie eine halbe Stunde vor Ankunft ihres Zuges die Station.

Auf dieser herrschte schon Leben, denn es war soeben der Gegenzug eingefahren.

Er hatte nur wenig Passagiere gebracht, unter diesen einen hochgewachsenen jüngeren Mann, der sich sogleich in das Restaurant begab, um nach der kalten Fahrt etwas Erwärmendes zu sich zu nehmen.

Mit ihm zugleich betraten Tilgner und sein Schwager den kleinen Restaurationsraum, denn auch sie waren tüchtig durchfroren.

»Hier wollen wir uns setzen, Fritz,« sagte Tilgner, auf einen in der Nähe des warmen Ofens befindlichen Tisch zugehend.

Der Fremde hatte sich bereits am Nachbartische niedergelassen. Als das Wort »Fritz« fiel, erhob er die Augen. Es waren klug und scharf schauende Augen. Sie hefteten sich auf den Angeredeten, der sich jetzt, obwohl er einen warmen, hellen Überzieher trug, fröstelnd an den Ofen stellte.

»Wäre ich nur schon in Wien!« sagte Fritz zu Tilgner. »An der Geldgeschichte liegt mir ja wenig mehr. Das ist ja schon so gut wie beseitigt, aber das andere, das man mir vielleicht aufhalsen wird! – Bitte, hol doch gleich die Karten. Es ist mir sonst, als ob jetzt noch etwas dazwischen kommen könnte.«

»Gut. Bestell inzwischen Kaffee.«

Tilgner nahm seine Geldtasche heraus und verließ den Restaurationsraum.

Trotzdem die beiden nur leise miteinander sprachen, hatte der Fremde am Nebentisch doch offenbar verstanden, wovon die Rede war. Er hatte ein Notizbuch aus der Brusttasche seines Rockes genommen und es geöffnet. Eine Photographie lag darin, die er aufmerksam betrachtete.

Es war die Photographie dessen, der hier am Ofen stand, während sein Begleiter gegangen war, um Fahrkarten nach Wien zu lösen.

Tilgner kam eben zurück. Auch der Kellner fragte jetzt nach den Wünschen der Gäste, und die drei Reisenden bestellten Kaffee bei ihm. Sie bezahlten auch sogleich.

»Wenn wir nur ein Abteil für uns allein fänden!« sagte Fritz.

Der Fremde stand auf, ging hinaus auf den Bahnsteig und suchte dort das Zimmer des Stationsvorstandes auf. Mit diesem hatte er eine kurze Unterredung.

Als er das Zimmer wieder verließ, traten Tilgner und Fritz eben auf den Bahnsteig hinaus.

Da stellte er sich ihnen vor. Johann Prischinger hieß er und gab an, er sei Beamter der Bahn. Er habe vorhin gehört, daß der eine der Herren sich nicht ganz wohl fühle und gerne ohne viel Gesellschaft nach Wien reisen möchte. Diesen Wunsch könne er erfüllen, freilich nur dann, falls die Herren ebenfalls dritter Klasse reisten wie er. Da könne er es ihnen schon ermöglichen, mit ihm, der auch nach Wien fahre, allein zu bleiben. »Ich werde die Herren nicht stören,« fügte er freundlich hinzu, »denn ich habe die ganze Nacht gewacht und werde wohl bis Wien schlafen.«

Tilgner nahm das freundliche Anerbieten gerne an. Sie stiegen mit dem Fremden zusammen in ein leeres Abteil ein, und tatsächlich blieben sie mit ihrem fast immer schlafenden Reisegefährten bis Wien allein. Sie konnten also ziemlich ungeniert miteinander reden, denn der Mann war der reine Dauerschläfer, dessen Gegenwart nur dadurch unangenehm war, daß er schnarchte.

In Wien stiegen sie sofort in eine Droschke und ließen sich zu Fritzens Chef fahren. Sicher war es ja nicht, daß dieser schon die Anzeige gegen seinen flüchtigen Kassierer erstattet hatte. Vielleicht war also die fatale Angelegenheit noch in aller Stille abzumachen. Daß ein zweiter Wagen dem ihren folgte, darauf achteten sie nicht.

Sie fanden den Bankier daheim. Er pflegte die Sonntage stets im Kreise seiner Familie zuzubringen.

Wollte man aber daraus schließen, daß er ein gemütlicher Mann sei, so wäre dies ein Irrtum gewesen, denn Thomas Leibner war ganz das Gegenteil davon.

Als ihm die Besucher gemeldet wurden, warf er erregt seine Zeitung auf den Tisch und sprang auf. »Sie wagen es wirklich, mir noch einmal unter die Augen zu treten?« sagte er hart und scharf zu Fritz, der sich nur mühsam an der Lehne eines Sessels aufrecht hielt und keines Wortes mächtig war.

Da trat Tilgner vor, verbeugte sich kurz und entgegnete mit vieler Ruhe: »Wir begreifen Ihre Entrüstung, allein sie hätte keinen Zweck mehr, falls Sie noch keine Anzeige gegen meinen Schwager gemacht haben sollten.«

»Die ist selbstverständlich bereits gemacht.«

»Da Sie also schon die Anzeige erstattet haben, so ist unsere Anwesenheit hier nicht weiter notwendig. Wir empfehlen uns deshalb und –«

»Aber mein Geld? Was ist mit meinem Geld?«

»Haben wir bei uns. Allein wir werden es nun wohl dem Gericht übergeben müssen.«

»Bitte, lassen Sie es nur da! Ich habe hier die genaue Abrechnung. Wollen Sie sie prüfen, Herr Stegmann? – Nein? – Nun also, dann geben Sie nur her. Ich teile dem Gericht sofort mit, daß die Angelegenheit erledigt ist. Das wird Ihnen nur nützlich sein.«

Tilgner packte seine Wertpapiere aus.

Leibner machte jetzt ein recht zufriedenes Gesicht. Er kam ja nun ohne Schaden davon, das übrige war ihm ziemlich gleichgültig. Dennoch fühlte er sich bewogen, nun ein wenig freundlicher zu sein.

»Herr Prantner hat mir natürlich nicht verbergen können, daß Sie die Kasse angegriffen haben,« begann er, sich zu Fritz wendend, »und in seiner Entrüstung erzählte er mir auch, daß Ihr Bruder das Geld in aller Eile herbeigeschafft hat, daß Sie es aber zum Teil wieder verspielten und dann flüchteten. Da war ich so erzürnt –«

»Daß Sie mich anzeigten.«

»Ja. Ich zeigte aber auch noch etwas anderes an,« fuhr Leibner verlegen fort, »und das tut mir jetzt fast leid, wiewohl es meine Pflicht war – einfach meine Pflicht.«

»Was war Ihre Pflicht?« fragte Tilgner gespannt.

»Zu sagen, daß Herr Falk und Herr Stegmann Stiefbrüder sind.«

»Wer interessierte sich denn dafür?«

»Ich las in der Zeitung, daß ein gewisser Otto Falk, der Bräutigam der Anna Lindner, von der Behörde vernommen wurde über den Verkehr der ermordeten Frau Schubert und daß –«

»Ich bitte fortzufahren, Herr Leibner.«

»Also – der Name Otto Falk fiel mir auf. Sie, Herr Stegmann, haben ja öfters von Ihrem Stiefbruder gesprochen, und erst gestern früh sang Prantner sein Lob –«

»Und da gingen Sie zur Polizei und erzählten dort, daß dieser brave Mensch vorgestern Geld für seinen Bruder zusammengeborgt hat?« sagte Tilgner empört.

»Auch das erzählte ich,« erwiderte der Bankier trotzig. »Aber ich ging hauptsächlich deshalb hin, um der Polizei mitzuteilen, daß dieser Otto Falk einen Stiefbruder habe, der mir mit achthundert Kronen durchging, einen hellen Winterüberzieher trägt und –«

Fritz sank stöhnend auf einen Sessel.

»Es war meine Pflicht,« fuhr Leibner fort. »Gewiß, meine Bürgerpflicht war es.«

»Allerdings – es war Ihre Bürgerpflicht,« sagte Tilgner ruhig. »Wenn Sie auch alle anderen Bürgerpflichten so pünktlich erfüllen, dann sind Sie in der Tat ein Musterbürger.« Dann wies er auf die noch daliegenden Wertpapiere und fuhr fort: »Was davon Ihnen zukommt, behalten Sie am liebsten natürlich gleich hier.«

Leibner legte einige der Papiere beiseite und schrieb eine Empfangsbestätigung darüber.

Mühsam erhob sich Fritz. Einen Blick noch warf er auf Leibner, vor welchem dieser die Augen senkte, dann wankte er hinaus.

Auch Tilgner empfahl sich nur stumm und ging Fritz nach.

Leibner schaute ihnen nach. Er hatte einen ganz roten Kopf. Dann aber machte er eine wegwerfende Bewegung und sagte noch einmal laut und nachdrücklich: »Es war meine Bürgerpflicht!« –

Schweigend gingen die beiden Verwandten die Treppe hinab.

»Und jetzt?« fragte Fritz, als sie auf die Straße traten. Er war totenbleich, und seine Stimme klang heiser.

Tilgner legte ihm die Hand auf die Schulter. »Verlier den Mut nicht, nimm ergeben die Strafe hin, die du verdient hast. Und was das andere anbelangt – auch da sollst du den Mut nicht verlieren. Der Schuldige wird gefunden werden.«

»Führst du mich jetzt aufs Gericht?« fragte, halb sinnlos vor Angst, der Unglückliche.

Tilgner schaute ihn verwundert an. »Ich glaubte, du seiest hierher gekommen, um dich freiwillig zu stellen?«

Fritz starrte einige Augenblicke lang vor sich hin. Dann schossen Tränen in seine Augen und rollten langsam über seine bleichen Wangen. Und während er auf den wartenden Wagen zuschritt, rief er selbst dem Kutscher zu: »Zum Landesgericht!«

Der Kutscher nickte gleichmütig, und der Wagen fuhr davon.

Jenseits der Straße hatte ein zweiter Wagen gehalten. Er setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Es war heute das gleiche schlechte Wetter, das am letzten November, also vorgestern, in Wien geherrscht hatte. Es war sogar noch häßlicher, denn der dichte Nebel hatte eine eisige Kälte mitgebracht.

Es war kein Wunder, daß Fritzens Zähne hörbar aufeinanderschlugen.

Wieder redeten die beiden kaum ein paar Worte. Aber ihre Hände hatten sich gefunden. Die Rechte Tilgners hielt mit festem Druck Fritzens eiskalte Finger umspannt.

Endlich hielt der Wagen an.

Tilgner erhob soeben die Hand, um den Schlag zu öffnen. Aber das besorgte schon ein anderer.

Beide blieben höchlich betroffen neben dem Wagen stehen und starrten den an, der die Wagentür aufgetan hatte, und der jetzt zu Fritz sagte: »Kommen Sie nur, man erwartet Sie schon. Es ist sehr gut für Sie, daß Sie freiwillig gekommen sind.«

Der das sagte, war der junge, stattliche Mann, mit dem sie nach Wien gefahren waren.

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