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Viertes Kapitel.

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Otto Falk und sein Bruder Fritz hatten sich ohne Gruß getrennt. Otto begab sich zu seinem Tauspaten, um von diesem das noch fehlende Geld zu erbitten. Es war ihm ein sehr schwerer Gang, aber die gute Stimmung, in welcher er den sonst ein wenig mürrischen alten Herrn traf, kam seinem Anliegen zustatten. Er brauchte nicht einmal viel zu reden, und die dreihundert Kronen lagen schon vor ihm.

»Ein leichtsinniger Bursch bist du nicht, das weiß ich. Mach also keine solche Jammermiene. Das Leben ist teuer, und da hast du halt einmal mehr gebraucht, als du einnimmst. Bedank dich nicht lange und zahl zurück, wann du kannst. So – und jetzt geh! Für heute kann ich dich nämlich nicht zum Bleiben einladen. Wir fahren ins Theater. Der Wagen muß schon unten stehen.«

Das war alles, was der alte Herr auf Ottos Bitte gesagt hatte.

Ganz verwirrt ging der junge Mann die Treppe hinab. Heißes Dankgefühl und einige Reue regten sich in seinem Herzen. Reue darüber, daß er zu diesem einzigen Menschen, der außer Anna in dem großen Wien zu ihm gehörte, so wenig Zugehörigkeitsgefühl gehabt, daß er ihm bei den seltenen Besuchen, die er ihm gemacht, nicht einmal seine Verlobung mitgeteilt hatte.

Der größten Sorge ledig, schlug er ganz unwillkürlich einen Weg ein, der ihn Anna entgegenführen mußte, obwohl er annahm, daß er ihr, da es schon spät geworden war, nicht mehr begegnen könne.

Nachdem er eine Weile gegangen, wurde er wieder recht düster gestimmt, denn es war ihm abermals so recht zum Bewußtsein gekommen, welch großes Opfer er mit dem heutigen Schuldenmachen – nicht seinem leichtsinnigen Stiefbruder, sondern seiner herzkranken Mutter gebracht hatte, die ganz sicher an der Schande ihres Lieblings zugrunde gegangen wäre. Sie liebte ja ihn selbst, ihren einzigen Sohn aus erster Ehe, auch, ebenso ihre jüngste Tochter Hanna, aber der Fritz war ihr Sorgenkind, der war ihr ans Herz gewachsen.

An manch Vergangenes und an das heute Geschehene denkend, vergaß Otto Falk der Leute zu achten, und so konnte es geschehen, daß er ganz unversehens sich seiner Braut gegenüberbefand. Sie erblickend, fiel ihm blitzschnell ein, daß sie von dem Dasein seines Stiefbruders nur eine flüchtige Kenntnis hatte, daß er, sich schämend, weniger zu sein als dieser, ihr nie gesagt hatte, daß Fritz auch in Wien lebe; und schnell überlegte er, daß er erst ruhig geworden sein müsse, um ihr von den heutigen, auch für sie selbst so folgenschwer gewordenen Vorkommnissen zu berichten.

Das war der Grund, weshalb er über das Vorgefallene geschwiegen hatte.

Nachdem er sich von Anna verabschiedet, traf er bald nach neun Uhr mit seinem Stiefbruder zusammen, übergab ihm in nicht gerade liebenswürdiger Weise das so mühsam herbeigeschaffte Geld und verließ ihn gleich danach wieder.

Es wäre über seine Kräfte gegangen, mit dem ihm heute geradezu verhaßt gewordenen Fritz länger beisammen zu bleiben.

Er kam todmüde heim und legte sich sofort nieder. Aber der Schlaf stellte sich erst gegen Morgen bei ihm ein, und doch wurde er trotz aller Müdigkeit wieder von seiner Unruhe aus dem Bett getrieben.

Fast eine Stunde vor der gewöhnlichen Zeit verließ er seine Wohnung. Er hatte vorgehabt, heute eher zu frühstücken und dann vor Fritzens Geschäft auf diesen zu warten, denn er nahm als sicher an, daß Fritz sich dort heute auch früher als sonst einstellen werde, um die Kasse in Ordnung zu bringen, noch ehe ihn jemand dabei stören konnte. Allein Fritz hatte es gar nicht eilig.

Aber der alte Buchhalter Prantner war schon da und zeigte sich nicht weniger ungeduldig als Otto. Und nun warteten sie beide auf Fritz, und Otto sagte dem alten Mann, was er gestern durchgemacht, um Fritz das Geld zu verschaffen.

Eine Viertelstunde nach der anderen verging – immer noch kam Fritz nicht.

»Der ist imstande und liest jetzt noch die ›Fliegenden‹,« knurrte Prantner.

Otto zog die Uhr, biß zornig die Zähne zusammen und sagte: »Ich muß jetzt gehen, nicht eine Minute mehr kann ich warten. Also, Herr Prantner, Ihr Wort habe ich. Da der Schaden gutgemacht ist, wird keine Menschenseele etwas von Fritzens Lumperei erfahren. Und nicht wahr – Sie schicken mir jemanden ins Geschäft? Ich möchte doch so schnell als möglich durch Sie selbst erfahren, daß alles in Ordnung ist.«

Er drückte des alten Mannes Hand und eilte in sein Geschäft. Trotzdem kam er fast eine halbe Stunde später, als er sollte. Die Unruhe, die in ihm war, mit Gewalt niederkämpfend, machte er sich sofort an die Arbeit. Dabei hörte er seine Kollegen von einem Mord reden, er achtete aber nicht weiter darauf.

Doch da sank ihm plötzlich die Feder aus den Fingern.

»Ein Raubmord ist's. Da steht es ja. Die ganze Wohnung der Ermordeten ist durchwühlt, und wenn Frau Schubert –«

Weiter hörte Otto nichts. Es ward ihm plötzlich schrecklich heiß im Kopf, vor seinen Augen flimmerte es, und in seinen Ohren rauschte es.

Er mußte sich setzen. Ein fürchterlicher Gedanke hatte ihm plötzlich alle Kraft genommen.

Endlich hatte er sich so weit gefaßt, daß er sich die Zeitung ausbitten konnte. Er las nur wenige Zeilen, dann sank er auf den nächsten Stuhl.

»Was haben Sie denn?« – »So reden Sie doch!« drangen die Kollegen auf ihn ein.

»Die Ermordete ist die Tante meiner Braut,« murmelte er und wischte sich über das blasse Gesicht.

»Da werden Sie fort wollen. Ich sag's schon dem Prinzipal, wenn er kommt,« meinte einer, brachte ihm eilig seinen Rock und Hut, sagte ihm noch ein paar teilnehmende Worte und drängte ihn zur Tür hinaus.

Da begegnete ihm noch im Hausflur ein Bursche mit einem Brief in der Hand.

»Wo treffe ich hier Herrn Falk?« fragte der Bote. Er trug eine Mütze mit der Firma des Geschäftshauses, dessen einer Kassier Fritz war.

Diesen Namen sah Otto, und erleichterten Herzens nahm er den Brief entgegen, denn er wußte ja, daß Prantner ihm darin mitteilen würde, nun sei alles in Ordnung.

Auf der Straße sprang er auf den nächsten daherkommenden Straßenbahnwagen, löste sich einen Fahrschein und lehnte sich an eine der Wände der Plattform.

Jetzt erst öffnete er den Umschlag und las den Brief, den Prantner ihm gesandt.

Da wich das Blut wieder aus seinen Wangen, seine Augen wurden starr. Prantner meldete ihm, daß nicht Fritz, sondern nur ein Brief von ihm gekommen sei, in welchem der Elende schrieb, daß er in der letzten Nacht wieder gespielt habe, um das Fehlende noch zu gewinnen, daß er aber Unglück gehabt habe, und da er nun das in seiner Kasse fehlende Geld doch nicht ganz ersetzen könne, ziehe er es vor, zu verschwinden, und zwar für immer.

Dies berichtete Prantner und schloß sein Schreiben mit den Worten: »Nun, zu ängstigen brauchen Sie sich nicht weiter um ihn. Einer, der keine Spur von Ehre mehr hat, tut sich so leicht nichts an.«

Kaum hatte Otto den Brief gelesen, als er vom Wagen sprang und nach Fritzens Wohnung eilte.

Dort erfuhr er, daß Fritz erst nach Mitternacht nach Hause gekommen und gegen fünf Uhr schon wieder gegangen sei. Er habe hinterlassen, daß er verreisen müsse, und habe seinen Reisekoffer mitgenommen.

Die Wirtin wollte wissen, wer er sei, doch gab ihr Otto aus guten Gründen darauf keine Antwort, sondern fragte seinerseits, ob Herr Fritz Stegmann denn Verwandte in Wien habe. Zu seiner Erleichterung erfuhr er, daß Herr Stegmann darüber nicht gesprochen habe.

Sich mit Gewalt zu ruhiger Überlegung zwingend, nahm er seinen Weg wieder auf. Er sehnte sich, bei Anna zu sein, denn er fühlte, daß in dieser schrecklichen Zeit sein Platz neben ihr war.

Aber er fürchtete sich auch vor einem Wiedersehen, denn er hatte ja nun ein Geheimnis vor ihr. Sein Geheimnis war ein Verdacht, der sich wie eine Bergeslast auf seine Seele wälzte.

Als er in das Haus kam, hörte er, daß Anna zum Untersuchungsrichter Doktor Lauterer vorgeladen worden war, und daß er sie vermutlich dort noch treffen könne.

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