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Fünfzehntes Kapitel.

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Am Morgen des achten Tages nach dem Morde stand Müller vor einem Hotel des vierten Bezirkes. Es war ein solches dritten oder vierten Ranges, das erst unlängst eröffnet worden war, und das dem Südbahnhof ziemlich nahe lag.

Ein Zimmerkellner war es, der unter den in der Anzeige angegebenen Buchstaben »J.M.« geschrieben hatte, der irgend etwas Interessantes gewittert und vermutlich gemeint hatte, daß J.M. eine Dame sei, denn er hatte in einer recht galanten Art geschrieben und kam sichtlich aus der Fassung, als er, vom Portier herbeigeklingelt, sich einem ältlichen Herrn gegenübersah, der ihm seinen eigenen Brief unter die Nase hielt, womit die Vorstellung auch schon beendet war. Denn gleich darauf zeigte ihm Herr Müller seine Legitimation, und erst als er diese wieder in seine Rocktasche schob, fing er zu reden an.

»Führen Sie mich jetzt in einen Raum, in dem wir ungestört reden können,« sagte er zu dem jungen Menschen.

»Da wird's am besten sein, Sie kommen zu mir herein,« meinte der Portier. »Jetzt kommt sicher kein Mensch, der uns stören könnte.«

Der Mann trat in seine Loge zurück und machte eine einladende Gebärde.

»Ich weiß nämlich,« fuhr er fort, »warum Sie da sind, denn ich hab' sogleich den Brief vom Emerich erkannt. Ich war ja dabei, wie er geschrieben worden ist.«

Emerich war der Zimmerkellner, der Verfasser der ziemlich unorthographischen, aber um so schwungvolleren Epistel, die Müller hierher gerufen hatte.

»Also von der Polizei wird der Herr gesucht?« sagte der Kellner betreten, während Müller sich setzte.

Der alte Detektiv nickte. Er mußte über den Kellner lächeln, der sicher eine ganz andere Wendung der Angelegenheit erwartet hatte.

»Und ich soll also sagen, was ich über ihn weiß?«

»Selbstverständlich sollen Sie das sagen. Deswegen bin ich ja hier. Also fangen Sie an. Wann ist der Herr, den Sie meinen, hier ins Haus gekommen?«

»Am 30. November – so gegen halb sechs Uhr.«

»Sie haben ihm den Meldezettel sogleich vorgelegt?«

»Sofort. Er hat noch nicht einmal seine Tasche und seinen Schirm abgelegt gehabt. Wir haben nämlich erst unlängst Schwierigkeiten gehabt mit –«

»Schon gut. Das interessiert mich nicht. Hat er sich eingeschrieben?«

»Freilich, aber da hat's schon gefehlt.«

»Wieso?«

»Er hat erst nachdenken müssen, dann erst hat er geschrieben.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten den Eindruck erhalten, daß er nicht seinen wirklichen Namen hingeschrieben hat?«

»Ja, das will ich damit sagen.«

»Was ist weiter geschehen?«

»Der Herr ist gleich wieder ausgegangen. Wie er weg war, habe ich mir seine Tasche angeschaut. Natürlich war sie verschlossen.«

»Wie hat sie ausgesehen?«

»Eine feine, ziemlich kleine Reisetasche war es aus braunem Leder, ohne Überzug. Ein Silberschildchen hat sie gehabt, und darauf ist ein Monogramm gewesen.«

»Welche Buchstaben?«

»Ja, das hab' ich in der Schnelligkeit nicht herausgebracht. Es waren so verzwickte neumodische Buchstaben, ganz ineinander verschlungen waren sie auch noch.«

»Waren Sie so eilig? Sie scheinen doch nicht so arg viel zu tun zu haben.«

»Ich bin halt abgerufen worden. Und gar so sehr interessiert hat mich die Sache ja schließlich auch nicht. Immerhin meine ich, daß kein ›W‹ in dem Monogramm vorgekommen ist.«

»Warum hätte gerade ein ›W‹ darin sein sollen?«

»Weil der Herr sich als Wenzel Bogdan aus Prag eingeschrieben hat.«

»Aha! Nun – und was weiter?«

»Gegen ein Viertel auf neun Uhr ist der Herr wieder zurückgekommen,« nahm jetzt der Portier das Wort, »hat, ohne zu fragen, was das Zimmer kostet, ein Fünfkronenstück auf diesen Tisch gelegt und hat mich ersucht, ich soll ihm seinen Rock abbürsten, er wäre an einem Mann angestreift, der einen Sack Kohlen in ein Haus getragen habe. So habe ich ihm also den Rock abgebürstet.«

»Es war ein heller Überrock?«

»Ein ziemlich heller, drapefarbener war's. Einen Samtkragen hat er auch gehabt.«

»Wo waren denn die Flecken?«

»Auf der ganzen linken Seite.«

»Auch unten?«

»Ja, auch unten.«

»Haben Sie sich dabei nichts gedacht?«

»Was hätte ich mir denn denken sollen?«

»Daß die Kohlenträger die Säcke doch auf der Schulter tragen.«

»Das ist wahr. Der Herr hat mich also angelogen. Auf welche Art hat er sich denn so schwarz gemacht?«

»Das gehört nicht hierher. Wie hat denn der Herr ausgesehen? Können Sie ihn beschreiben?«

»Ein recht hübscher Mann war's.«

»Ein feiner Mann?«

»Mein lieber Herr, das könnt' ich wirklich nicht sagen.«

»Und Sie können es auch nicht sagen?« wandte Müller sich an den Zimmerkellner.

Auch dieser zuckte die Schultern. »Bei uns wohnen meistens Geschäftsreisende,« sagte er, »die schauen auch manchmal recht fein aus und sind schließlich doch keine feinen Herren. Übrigens habe ich ja diesen Fremden kaum drei Minuten vor mir gehabt. Wie er wiedergekommen ist, hab' ich ihn überhaupt nicht gesehen.«

»Da hat der Hausdiener seine Tasche herunterholen müssen, während ich mit dieser Bürste da seinen Rock gesäubert habe,« vollendete der Portier den Bericht.

»Ist Ihnen dabei nichts an ihm aufgefallen? War er nicht ausgeregt?«

»Sehr aufgeregt kann er nicht gewesen sein,« meinte der Portier, »sonst wäre es mir wohl aufgefallen. Ich hab' nur bemerkt, daß er recht ungeduldig war. Aber das sind viele Reisende. Bei mir hat er sich übrigens auch nicht länger als höchstens fünf Minuten aufgehalten, dann ist er zur Straßenbahn gegangen.«

»Das haben Sie noch gesehen?«

»Ja. Ach hab' ihm nachgeschaut.«

»Haben Sie ihn einsteigen sehen?«

»Ja. Er ist der Stadt zu gefahren.«

»Der Stadt zu also. Schön. Und nun noch einige Fragen! Denken Sie beide jetzt scharf nach! Die Farbe seiner Augen und seiner Haare würde mich interessieren.«

»Mir scheint, braune Haare hat er gehabt,« sagte Emerich.

»Waren sie nicht schwarz?« meinte der Portier.

»Also jedenfalls nicht blond?« fragte Müller.

»Nein, blond auf keinen Fall,« sagten die zwei wie aus einem Munde.

»Seine Figur?«

»Groß.«

»Höchstens mittelgroß.«

Müller mußte lachen. »Noch jung?« examinierte er weiter.

»Vielleicht Ende zwanzig.«

»Mitte Dreißig, mein' ich.«

Wieder lachte der Detektiv. »Trug er einen Bart?«

»Einen Schnurrbart.«

»Ich glaub' auch.«

»Und was für eine Uhrkette?«

Die zwei schauten einander an.

»Wissen Sie es?« fragte Emerich den Portier.

Der schüttelte den Kopf. »Ich glaub', er hat den Rock zugeknöpft gehabt,« sagte er nach einer Weile.

»Ist das alles, was Sie mir über den Mann sagen können?«

»Alles,« sagte der Zimmerkellner.

»Ich weiß auch nichts mehr,« erklärte der Portier.

Müller erhob sich, dankte für die Auskunft und ging, zwei ziemlich enttäuschte Gesichter zurücklassend.

Er wendete sich zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn und fuhr dann der Stadt zu. Er wußte jetzt, daß jener Fremde am 30. November gegen halb sechs Uhr in das Hotel kam, das er sofort wieder verließ, ferner daß der Mann gegen viertel neun Uhr wiederkam und nur etwa fünf Minuten blieb, daß er also zweieinhalb bis zweidreiviertel Stunden abwesend gewesen war. Ferner wußte Müller, daß von jenem Hotel das Haus der Schubert zu Fuß in etwa einer halben Stunde zu erreichen war, daß also dem Betreffenden, falls er ihr Mörder war, anderthalb bis eindreiviertel Stunden zur Ausführung der Tat blieben.

Otto Falk hatte angegeben, daß er zehn Minuten nach sechs Uhr von der Schubert weggegangen sei, und erst gegen halb neun Uhr hatte Anna beim Heimkommen das Verbrechen entdeckt. Und der Holzhändler hatte angegeben, daß damals das Tor zu seinem Lagerplatz bis acht Uhr offen gestanden hatte.

Das alles stimmte bis aufs Tüpfelchen zusammen.

Es war kaum mehr an dem Zusammenhang zu zweifeln, jedenfalls war nicht mehr daran zu zweifeln, daß es einen jüngeren, eleganten Herrn gab, der zur betreffenden Zeit sich in der Nähe des Tatortes aufhielt, einen Herrn mit einem hellen Überrock, in welchem sich Flecken von Kohlen befanden.

Müller bat im stillen der Schustersfrau und der Hausmeisterin seinen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aussagen ab und kam sehr angeregt heim. Dort fand er die Drahtantwort seines Kollegen Mittermayer in Graz.

Als er sie gelesen hatte, brummte er: »Also das ist nicht möglich. Na, auch gut. So wird man die Sache halt anders anpacken müssen.«

Der Inhalt der Depesche aber war folgender: »In das Haus L. zu kommen, ist – in solcher Hast wenigstens – unmöglich. Gründe leicht begreiflich nach Lesung nachfolgenden Briefes.«

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