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Drittes Kapitel.

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»Was war denn das?« ruft die Schustersfrau, die auch eine Hofwohnung hat und eben dabei ist, die Betten zu machen. Sie wirft das Kopfkissen hin und hastet in den Hof hinaus. Dort trifft sie mit der Grübl zusammen, die mit dem Kohleneimer und ihrer Laterne aus dem Keller herauskommt.

»Haben Sie's auch gehört?«

»Freilich hab' ich's gehört.«

»Da ist was gescheh'n.«

»Bei der Schubert war's.«

Die beiden Frauen laufen auf die offenstehende Tür der Schubertschen Wohnung zu.

In den oberen Stockwerken werden die Fenster aufgerissen, überall kommen Köpfe zum Vorschein, ängstliche Fragen werden heruntergerufen.

Dann rennen Leute die Treppe herunter, und eine Minute später ist der Hof voll von Menschen.

Der pensionierte Feldwebel Dengler vom zweiten Stock hat seine Pfeife noch in der Hand, die hübsche kokette Frau Wichl, die die große Eckwohnung hat, ist mit ihrem Dienstmädchen heruntergerannt; sie sieht jetzt gar nicht hübsch aus, denn sie hat schon ihre falschen Zähne abgelegt, und ihre Frisur ist nicht wiederzuerkennen.

Alles redet und flüstert und drängt zur Tür hin, hinter der sich offenbar etwas Schreckliches zugetragen hat.

Der Feldwebel und der Schuster betreten zuerst die Wohnung der alten Frau Schubert. Ersterer nimmt der ganz erstarrten Anna das Licht aus der Hand und leuchtet damit ins Zimmer hinein.

»Tun S' die zwei Weiber hinaus,« sagt er dann zum Schuster, »und es soll sofort jemand zum Kommissariat laufen. Da ist ein Mord geschehen.«

Dengler betritt das Zimmer, auf dessen Boden die alte Frau Schubert liegt. Er faßt ihre Hand. Sie ist schon kalt und steif. Der großen Blutlache, die sich auf dein Fußboden ausgebreitet hat, hält sich Dengler vorsichtig fern.

Anna ist auf die Küchenbank gesunken und hat das Gesicht mit den Händen bedeckt.

Der Feldwebel wendet sich zu dem fassungslosen Mädchen, tiefes Mitleid drückt sich in seinem faltigen Gesichte aus. Er stellt aber keine Frage an sie, schweigend bewacht er die Tote im Zimmer und die vor Schreck wie Gelähmte in der Küche.

Es vergehen nur wenige Minuten, bis der Kommissar mit drei Begleitern eintrifft. Nun wird das Tor geschlossen, und die Parteien des Hauses werden ersucht, sich in ihre Behausungen zurückzuziehen.

Vier Paar Augen sind es, die mit scharfen Blicken das zitternde Mädchen streifen, das sich langsam erhebt.

»Wer sind Sie?« fragt der Kommissar.

Sie kann nicht sogleich antworten, ihre Junge ist wie gelähmt.

Statt ihrer antwortet der alte Feldwebel, der, die Pfeife in der Linken, die Rechte salutierend erhebend, ganz vergißt, daß er längst keine Uniform mehr trägt.

Der Schein eines Lächelns verzieht die Gesichter der Beamten über das Komische, das durch das Aussehen des wackeren Mannes, der im Schlafrock und in gestickten Hausschuhen seine Meldung abstattet, in das Tragische der Situation gebracht wird.

»Und wer sind Sie selbst?«

Dengler stellt sich vor und erklärt hastig, daß er nur hier geblieben sei, um zu verhindern, daß irgend etwas an dem Tatort verändert werde.

»Sehr gut!« sagt der Beamte und wendet sich zum Arzt, der neben der Leiche kniet.

Eine genaue Untersuchung des Zimmers wird vorgenommen, und bald darauf herrscht wieder Ruhe in dem Hause, das heute der Schauplatz einer so unheimlichen Tat geworden ist.

*

Der Staatsanwaltsvertreter Doktor Lauterer, ein noch junger Beamter, der erst vor kurzer Zeit sein Amt angetreten hatte, galt jetzt schon dafür, daß er ohne Ansehen der Person seines Amtes walte, und seine Vorgesetzten hielten ihn für einen sehr tüchtigen Juristen.

Als man Anna Lindner zu ihm ins Zimmer führte, war er soeben dabei, das Protokoll, das noch in der vergangenen Nacht aufgenommen worden war, zu prüfen.

»Anna Lindner ist hier,« sagte der Amtsdiener, als er die Zitternde über die Schwelle schob und dann die Tür wieder schloß.

Lauterer schaute auf, und als er das Mädchen ängstlich neben der Tür stehen sah, ging er ihr entgegen und führte sie zu dem Stuhl, der neben seinem Tische stand.

»Vor allem, liebes Fräulein,« begann er, »müssen Sie sich beruhigen. Es gilt, einen Anhaltspunkt zu finden für unsere Nachforschungen. Damit Sie uns dabei behilflich sein können, müssen Sie zu ruhigem Denken kommen, müssen Sie sich bewußt werden, daß vielleicht Sie allein imstande sind, Angaben zu machen, die uns auf die Spur des Mörders bringen. So – und nun wollen wir miteinander über die traurige Sache reden.«

Ein Blick in die todestraurigen Augen des Mädchens hatte ihn bereits über ihren Anteil an dem Fall aufgeklärt. Er hatte zuerst vorgehabt, das Protokoll, das mit ihr auszunehmen war, durch einen seiner Untergebenen schreiben zu lassen, aber er fand es jetzt doch für besser, ihr alles zu ersparen, was sie noch verstörter machen konnte, als sie ohnehin schon war.

So notierte er selber ihre Personalien und fuhr dann fort: »Also, Fräulein, in welchem Verwandtschaftsgrad standen Sie zu der Toten?«

»Sie war die Schwester meiner Mutter.«

»Ihre Mutter ist schon lange tot?«

»Seit fast acht Jahren. Mein Vater starb vor zehn Jahren.«

»Seit wann wohnen Sie bei Ihrer Tante?«

»Im nächsten Frühjahr werden es sieben Jahre.«

»Da sind Sie also nicht sogleich, nachdem Sie verwaist waren, von Ihrer Tante aufgenommen worden?«

»Nein, denn sie lebte damals in Graz. Sie war im Hause des pensionierten Generals Labriola Wirtschafterin. Ein halbes Fahr nach den: Tode meiner Mutter bat sie den General um Entlassung, denn sie war kränklich geworden und wollte hier mit mir zusammenleben.«

»Sie war eine Wienerin?«

»Ja. Auch ihr verstorbener Mann war ein Wiener. Als junge Frau hat sie mit ihm in derselben Wohnung gewohnt, in der jetzt das Schreckliche geschehen ist.«

»Sie war wohl nicht lang verheiratet?«

»Kaum drei Jahre. Als sie Witwe wurde, hat ihre erste Herrschaft sie an den General empfohlen. Sie war nämlich sehr zuverlässig, und eine solche Frau brauchte der General, der Witwer war, für seinen Haushalt und für seine Tochter.«

»Ihre Tante war also eine sehr verläßliche Frau. Sie hat dem General lange die Wirtschaft geführt?«

»Siebzehn Jahre lang, und dabei hat sie fast zwölf Jahre lang die Baronesse Simonetta wie eine Mutter behütet. Dann ist die Baronesse in ein Schweizer Institut gekommen, und meine Tante hat noch fünf Jahre dem General die Wirtschaft geführt.«

»Um dann Ihretwegen nach Wien zu kommen?«

»Ja. Sie hat mich sehr gern gehabt,« antwortete Anna schluchzend.

»Und Sie haben sie auch lieb gehabt?«

Anna nickte nur und preßte die Hände zusammen, dann brach sie in Tränen aus und sagte: »Sie hat es einem freilich manches Mal schwer gemacht. Sie war ja gewiß ganz gut gegen mich, aber sie konnte auch sehr heftig sein und sehr mißtrauisch.«

»Wie hat sich denn das geäußert?«

»Sie hat mit fast niemand im Hause gesprochen und niemand in unsere Wohnung gelassen. Ehe sie aufgesperrt hat, ist sie immer erst zum Fenster gegangen und hat geschaut, wer es ist, der herein will. Und wenn sie selber fortgegangen ist – ich bin nämlich fast den ganzen Tag außer Haus – da hat sie sogar ein Vorhängeschloß vor die Tür gelegt.«

»Sie wird halt gewußt haben, daß bei ihr was zu stehlen war.«

Anna zuckte die Schultern. »Was kann sie viel gehabt haben!«

Lauterer lächelte, als er einwarf: »Ja, wenn Sie das nicht wissen, wer soll's dann wissen! Tatsache ist jedenfalls, daß man sie bestohlen hat.«

Wieder zuckte Anna die Schultern. »Ich weiß nur, daß ich, wenn ich heirate, viertausend Kronen von ihr bekommen sollte. Auch hat sie in einer schwarzen Holzkassette Schmuck aufgehoben, Geschenke von den Herrschaften, bei denen sie gedient hat. Ein Paar sehr schöne Ohrgehänge hat sie mir schon geschenkt zu meinem letzten Namenstag und weil ich die Tante vorher in einer schweren Krankheit gepflegt habe. Die Ohrringe sollen sechshundert Kronen wert sein.«

»Solche Geschenke hat sie Ihnen gemacht! Und dabei hat sie Sie als Nähterin gehen lassen?«

»Nun, daß ich in die Arbeit gehen mußte, das war schon recht. Wann soll man sich denn plagen und etwas lernen, wenn man's nicht tut, solange man jung ist?«

Lauterer nickte ihr freundlich zu. »Mußten Sie Ihrer Tante etwas für das Wohnen bezahlen?«

»Dreißig Kronen habe ich ihr monatlich geben müssen.«

»Und wie viel verdienen Sie?«

»Im Monat neunzig Kronen. Ich habe also noch ganz gut mein Mittagessen und Wäsche und Kleider kaufen können. O, Herr Doktor, jetzt erst werde ich es wissen, wie gut es mir trotz allem gegangen ist.«

»Hat Ihre Tante von ihren Ersparnissen gelebt?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nach dem Tod ihres Mannes hat sie eine kleine Pension gehabt. Sechshundert Kronen. Der Onkel war Magistratsbeamter. Und auch der General hat ihr monatlich dreißig Kronen geschickt. Es war ihr von ihm schriftlich zugesagt worden, daß sie dieses Geld bis an ihr Lebensende erhalten soll Es war also auch sozusagen eine Pension.«

»Da hat die Frau ja ganz nette Einnahmen gehabt.«

»Das schon, und sie hat auch gut gelebt und hat mich auch ein bißchen verwöhnt, was ich jetzt bitter spüren werde.«

»Womit verwöhnt?«

»Sie hat mir immer ein sehr gutes Abendessen gegeben. Und für die Instandhaltung meiner Wäsche und Kleider hat sie auch gesorgt. Mir selbst wäre das schwer geworden, denn ich muß um sieben Uhr morgens fort und komme abends erst gegen acht Uhr heim. – Ach,« setzte sie aufschluchzend hinzu, »nun habe ich kein Heim mehr, bis –«

»Bis?«

»Bis ich heiraten werde.«

»Sind Sie verlobt?«

»Seit dem Frühling. Und jetzt tut es nur doppelt weh, daß die Tante mit meiner Brautschaft nicht recht einverstanden war.«

»Nicht recht einverstanden? Was hat sie denn dagegen gehabt?«

»Otto ist nämlich auch arm, und seine Stellung ist nicht sicher. Und es ist ja wahr, daß er oft recht heftig ist. Aber ich hab' ihn halt gern, und darum war ich auch lang bös auf die Tante, weil sie unsere Heirat immer hinausgeschoben hat, und das bereue ich jetzt.«

»Sie sind doch mündig und hätten also ihre Einwilligung gar nicht gebraucht.«

»Ich mußte aber doch wegen des Gelder auf sie hören. Womit hätten wir uns denn ohne die viertausend Kronen einrichten sollen??«

»Richtig – die viertausend Kronen!«

»Wir hätten sehr sparsam gewirtschaftet und hätten uns vielleicht die Hälfte für alle Fälle in die Sparkasse legen können. Es wäre sicher keine Leichtsinnige Heirat gewesen. Sie aber hat nicht wollen, und darüber waren wir beide natürlich nicht sehr erfreut. Otto am wenigsten. Gestern noch hat er sich darüber geärgert.«

»Wann waren Sie denn zum letzten Male mit Ihrem Verlobten zusammen?«

Es war bei dieser Frage ein Ausdruck großer Aufmerksamkeit in seinen Augen.

»Gestern abend.«

»Da waren Sie also noch vergnügt beisammen, während Ihre arme Tante schon ermordet war.«

Kopfschüttelnd sagte sie: »O nein, gestern waren wir gar nicht vergnügt. Otto hatte seinen schlechten Tag. Er holte mich nicht wie gewöhnlich ab, und als wir uns dann unterwegs trafen., war er ganz anders als sonst. Ganz elend hat er ausgesehen, und so in sich versunken war er, daß er gegen die Leute anrannte. Ich bin nicht darauf gekommen, was ihn so aufgeregt hat. Aber vergnügt waren wir alle beide nicht. Und mit zur Tante hat er auch nicht kommen wollen.«

»Nicht?«

»Nein. Ach bin in großer Sorge um ihn, er muß krank sein, war es gewiß gestern schon.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil er heute noch nicht bei mir war, und er müßte doch schon wissen, was geschehen ist.«

»Wo wohnt denn Ihr Verlobter?«

»Im sechsten Bezirk, in der Magdalenenstraße. Gleich neben dem Theater an der Wien.«

»Wie heißt er?«

»Otto Falk. Er ist Gehilfe in einer Buchhandlung auf der Ringstraße. Wollen Sie etwas von ihm?«

»Er hat Sie wohl bei Ihrer Tante öfters besucht?«

»Oft gerade nicht.«

»Immerhin gehörte er also zu den wenigen, die allenfalls eine auf die Tante bezügliche Aussage machen können.«

Lauterer erhob sich. Anna tat desgleichen. Sie schaute ihn fragend an.

Er nickte ihr zu. »Nun, Fräulein,« sagte er, »Sie können jetzt gehen. Ich darf wohl annehmen, daß Sie mir nichts mehr zu sagen haben?«

»Ich weiß nichts mehr, Herr Doktor.«

»Also guten Tag, Fräulein!«

Anna grüßte stumm und ging. Mit schwerem Herzen ging sie, und während sie dem Hause zuschlich, in dem sie seit Jahren so friedlich gewohnt hatte, und das jetzt zu einem Ort des Schreckens geworden war, schickte Lauterer Polizisten in Falks Wohnung und nach der Buchhandlung, in welcher der junge Mann angestellt war, und während Anna weinend in einem Winkel der Wohnung saß, las der Untersuchungsrichter aufmerksam das Protokoll, das der Kommissar gestern abend an dem Tatorte aufgenommen hatte.

Der Schlag der Wanduhr ließ ihn endlich aufsehen. Es war zehn Uhr. Zu gleicher Zeit kam einer der Geheimpolizisten zurück, welche er ausgesandt hatte.

Der Mann berichtete, daß er nur mit Falks Quartiergeberin hatte reden können. Die Frau hatte ihm erzählt, daß Falk gestern knapp vor Torschluß nach Hause gekommen und heute viel früher als sonst wieder weggegangen sei. Auf die Frage, ob er vielleicht über Unwohlsein geklagt, habe die Frau gemeint, gesagt habe er darüber nichts, aber schlecht genug habe er ausgesehen. Dann hatte sie noch das Kaffeehaus genannt, in welchem Otto Falk sein Frühstück zu nehmen pflegte. Der Detektiv war auch dort gewesen, hatte nach Falk gefragt, aber erfahren, daß dieser heute nicht gekommen sei.

Noch hatte der Mann nicht ausgeredet, da traf auch der zweite Abgesandte ein. Er konnte berichten, daß Falk ein wenig verspätet ins Geschäft gekommen sei, eine Weile gearbeitet und dann eine Zeitung zur Hand genommen habe. Gleich darauf habe er, furchtbar aufgeregt, den Chef um die Erlaubnis gebeten, fortgehen zu dürfen. Er habe durch die Zeitung erfahren, daß die Tante seiner Braut ermordet worden sei.

Lauterer zündete sich, nachdem er die beiden Beamten entlassen, eine Zigarre an. Während er die ersten Züge tat, schrieb er zwei Worte auf einen Zettel, den er zu dem Protokoll legte.

Es war ein Name – Otto Falk.

Dann trat er ans Fenster und sah eine Weile dem blauen Rauchgekräusel seiner Zigarre nach.

Da öffnete sich die Tür. Der eintretende Gerichtsdiener meldete: »Herr Otto Falk.«

Lauterer legte die Zigarre hin. Interessiert schaute er zur Tür.

Auf deren Schwelle stand ein schlanker junger Mann.

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