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Siebentes Kapitel.

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Am Südabhang des Isergebirges, in der Nähe der preußischen Grenze, liegt nicht weit vom Flüßchen Aupa ein kleines Dorf. Einerseits vom Wald begrenzt, dehnen sich anderseits weite Wiesen- und Ackergründe davor aus, und durch diese zieht sich in mannigfachen Windungen die Landstraße.

Das Dorf ist recht einsam, denn die nächste Eisenbahnstation der Nordwestbahn liegt fast zwei Wegstunden fern davon. Neben der uralten Kirche duckt sich das bescheidene Pfarrhaus unter zwei Linden, die wohl viel früher schon als das Christentum hier Wurzel gefaßt haben. Ebenso bescheiden wie das Heim des Pfarrers ist das des Lehrers. Es liegt näher am Walde, dicht an der Straße.

Joseph Tilgner ist nicht der einzige, der in dem kleinen Schulhause auf seinem richtigen Platze steht. Seine Frau ist in ihrer Art nicht minder tüchtig als er. Sie läßt nirgends Unordnung aufkommen und ist eine sehr sparsame Hausfrau, die das große Kunststück versteht, trotz schmaler Einnahmen zuweilen sogar ein wenig Luxus, immer aber Behaglichkeit in ihrem Hauswesen zu haben.

Den einzigen Kummer, den sie hat, bereitet ihr die alte Mutter, eine dicke, zänkische Frau, die es sich ihr ganzes Leben hindurch hatte so wohl sein lassen, als es nur irgend möglich war, denn immer hatte die einstige Frau Falk und jetzige Witwe Stegmann gefunden, daß es besser sei, andere für sich sorgen zu lassen, ihre wirklichen und vermeintlichen Rechte aber waren ihr immer das Heiligste, das Unantastbarste auf Erden gewesen.

Merkwürdigerweise hatte diese Frau zwei Männer besessen, die sie außerordentlich mild behandelten und ihr, nachdem sie ihre wahre Natur erkannt hatten, lieber so viel als möglich aus dem Wege gingen. Der selige Falk hatte dies nicht lange zu tun nötig gehabt, denn er starb schon nach kaum dreijähriger Ehe; der nun auch schon längst verstorbene Stegmann aber mußte vierzehn Jahre neben seinem Weibe aushalten. Er erleichterte sich dieses Leben dadurch, daß er, wenn er sich nicht auf Dienstreisen befand, denn er war Kontrollbeamter bei der Steuer, in seinen freien Stunden der Kunst lebte. Er war nämlich ein recht talentvoller Maler, der sich in seinem unfrohen Heim einen stillen Winkel eingerichtet hatte, in dem ihn Frau Albine freilich nur aus dem einzigen Grunde in Ruhe ließ, weil der Erlös aus seinen Bildern in die Haushaltungskasse floß. Mit ihrem zweiten Mann hatte sie auch eine Zeitlang in Wien gelebt. Nach seinem Tode aber hatte sie sich mit ihren drei Kindern nach Trautenau zurückgezogen, das sie aus der Zeit ihrer ersten Ehe her kannte, denn Falk war in der Nähe von Trautenau Förster gewesen. Jetzt waren ihre beiden Söhne, Otto Falk aus erster Ehe und Fritz Stegmann aus der zweiten, in Wien in Stellung, ihre Tochter aber heiratete einen bescheidenen Dorfschullehrer, worüber ihr Hochmut lange nicht hinauskam. Als aber die Beschwerden des Alters sich einstellten, fand sie den Weg zu ihrer Tochter und lebte nun schon vier Jahre bei dieser. Noch immer machte sie große Ansprüche. Der brutale Egoismus, die schier komische Selbstüberschätzung und die lächerliche Geheimniskrämerei, die ihr seit jeher zu eigen gewesen, waren ihr bis ins Alter gefolgt, und das war der Kummer, der der braven Lehrersfrau oft das Leben schwer machte. Nun, dafür genoß sie nicht nur die herzliche Liebe des Gatten, sondern auch die ihrer beiden Kinder; der frische zehnjährige Hans und die siebenjährige Lotti hingen leidenschaftlich an ihr.

Strahlendhell stand an dem klaren Wintermorgen die Sonne am Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Hoch lag der Schnee auf Wiesen und Feldern. Vor dem Schulhause aber war der Weg sauber gekehrt. Vor Schulanfang ließ das der Herr Lehrer durch seine größeren Schüler besorgen.

Jetzt stand Tilgner vor dem Hause und schaute den heimwandernden Kindern nach. Unwillkürlich atmete er tief auf, denn bis morgen abend war er ein freier Mann. Nur die Orgel mußte er morgen zum Sonntagsgottesdienst spielen.

Er schaute um sich, als die Kinder verschwunden waren. Jetzt lag ein rosiger Schimmer auf der großen, weißen Schneedecke, denn die Sonne versteckte sich eben hinter den Bäumen des nahen Waldes. Von irgendwoher kam das Klingeln eines Schlittens, und jetzt trat ein Reh aus dem Wald und äugte neugierig auf die Straße heraus.

Joseph Tilgner nickte ihm vergnügt zu, dann ging er ins Haus zurück.

In der großen Wohnstube stand schon das Essen auf dem Tische, als Tilgner eintrat.

»Aber Kinder, könnt ihr nicht auf den Vater warten? Ihr werdet doch nicht verhungern!« rief Frau Hanna, nahm Lotti das Weißbrot, das die Kleine eben angebissen hatte, aus der Hand und warf Hans, der stürmisch in seiner Suppe löffelte, einen ermahnenden Blick zu.

»Soll das vielleicht auch mir gelten?« warf die Großmutter ihrer Tochter bissig zu.

»An dich habe ich natürlich dabei nicht gedacht,« erwiderte Hanna.

»Natürlich, an mich wird ja nie gedacht!«

»Aber Mutter!« fuhr die junge Frau auf.

Da begegnete ihr Blick den Augen ihres Mannes, und sie redete nicht weiter, aber man sah es ihr an, daß sie sich ärgerte.

»Heute ist es kalt,« bemerkte Tilgner, um die entstandene Stille zu unterbrechen.

Da hatte Frau Stegmann auch schon wieder eine Bissigkeit bereit. »Ja, das stimmt!« sagte sie. »Wie kalt es ist, das spüre ich am besten in meiner Kammer.«

»Nun, in unserer ist es auch kalt,« erwiderte Tilgner ruhig. »Aber hier sitzen wir doch ganz behaglich.«

»So etwas sagt man einer alten Frau nicht! Hans und Lotti können da wirklich was Schönes lernen.« Sie erhob sich und ging wie eine erzürnte Königin aus dem Zimmer.

Hans kicherte. Auch in Lottis Augen zeigte sich eine große Heiterkeit.

»Kinder,« mahnte Tilgner, »ich hätte die Großmutter nicht ärgern sollen. Ich werde mich deswegen bei ihr entschuldigen.«

Damit war die Sache beigelegt, und weil die Großmutter nicht mehr da war, stellte sich bald die Gemütlichkeit wieder ein, und der Nachmittag verlief in Ruhe und Behaglichkeit.

Als es dunkel geworden war, ging Tilgner aus. Am Samstag hatte er im Pfarrhause seine Tarockpartie, an der auch der Förster teilnahm, und beide waren vom Herrn Pfarrer dann stets zum Abendessen eingeladen. Gegen sieben Uhr schickte Frau Hanna Lotti zur Großmutter. Das Kind sollte der alten Frau sagen, daß man zum Essen gehen werde.

Lotti aber kam allein zurück. »Großmutter kann noch nicht kommen. Sie hat einen Herzkrampf gehabt,« meldete die Kleine in der Küche, wo ihre Mutter gerade Würste in siedendes Wasser legen wollte, dies aber bei des Kindes Botschaft unterließ. Als dann Lotti weiter plauderte: »Die Großmutter ist aber gewiß schon gesund, denn sie hat schon wieder Wein getrunken und Salami dazu gegessen,« preßte Frau Hanna die Lippen aufeinander und legte dann die Würste ein. Sie kannte ja ihre Mutter durch und durch. Diese Herzkrämpfe hatten sich seit jeher zu passender Zeit eingestellt, nämlich immer genau dann, wenn Frau Stegmann damit etwas durchsetzen wollte.

Während die Würste kochten, ging sie hinauf und sagte zur Türspalte hinein: »Wir können nicht länger warten. Willst du vielleicht heute nichts mehr?«

Keine Antwort erfolgte, und Frau Hanna ging wieder in ihre Küche. Aber als sie das Essen auftrug, saß Frau Stegmann schon am Tisch und bewies durch ihren Appetit, daß der Herzkrampf bereits gänzlich überwunden war.

Beim Spülen des Geschirrs vergoß dann Hanna ein paar Tränen, und als sie den letzten Teller in den Schrank stellte, murmelte sie voll Bitterkeit: »Warum bleibt sie nur bei uns, wenn es ihr so wenig gefällt! Sie könnte mit ihrer Pension ganz gewiß in Trautenau besser leben – und wir hier auch. Aber sie will ja sparen für ihren Fritz – auf unsere Kosten.«

Gegen neun Uhr gingen die Kinder schlafen. Die junge Frau holte sich ihren Flickkorb und setzte sich zur Lampe. Als die Schwarzwälderuhr zehn schlug, räumte Hanna das Nähzeug weg, tat die ausgebesserte Wäsche in den Kasten, nahm ein Tuch um und trat vor das Haus.

Es war eine prachtvolle Nacht. Das Licht des Vollmondes und die Helligkeit des Schnees machten sie fast zum Tage. Das Dorf, ein wenig tiefer gelegen als das Schulhaus, das sich an seinem südlichen Ende befand, sah jetzt, in Schnee gebettet und von dem sanften Lichte überstrahlt, märchenhaft schön aus. Der Blick der jungen Frau wurde ganz weich, als er auf dem lieben Neste ruhte, das ihr eine traute Heimat geworden war.

Jetzt blitzte etwas da unten auf, das sich bewegte. Ein Helm war es und ein Bajonett. Der Gendarm Krüger kam gemächlich die Straße herauf.

Als er in die Nähe der Schule kam, grüßte er. »Frau Tilgner, Sie sind noch auf? Und in dieser Kälte stehen Sie im Freien?« sagte er, am Gartenzaun stehen bleibend.

»Ich warte auf meinen Mann. Er ist im Pfarrhaus,« entgegnete Hanna. »Wohin müssen Sie denn heute noch?«

»Zur Station will ich.«

»So weit noch?«

»Und dann muß ich die Grenze begehen. Es ist uns einer gemeldet worden. Vielleicht erwischt ich ihn.«

»Nun, bei dem Schnee ist das kein Vergnügen. Überhaupt –«

»Überhaupt ist's kein Vergnügen, auf die Menschenjagd zu gehen. Aber es muß halt sein.«

»Da haben Sie freilich recht. Aber –«

»Na, sehen Sie, Frau Lehrer, jetzt geben Sie's selber zu. Aber jetzt muß ich machen, daß ich weiter komm'. Gute Nacht und eine Empfehlung an den Herrn Gemahl!«

Frau Hanna schaute Krüger eine Weile nach, dann zogen die Eiszapfen, die sich an das Dach gehängt hatten, und die jetzt im Mondstrahl wie silbern glänzten, ihre Augen auf sich. »Wenn das alles wirklich Silber wäre!« murmelte sie und mußte dann über diesen Gedanken lächeln.

So still wurde es jetzt, daß sie die Schneeklumpen fallen hörte, die sich plötzlich drüben am Saume des Waldes von den Zweigen gelöst hatten. Ein wenig vorgeneigt schaute sie zu der im Dunkeln liegenden Stelle hinüber, dann aber machte sie plötzlich einen raschen Schritt nach dem Hause zu.

Unter den Bäumen war eine Gestalt aufgetaucht, die Gestalt eines Mannes.

Jetzt löst sich die Gestalt aus dem Dunkel und ist mit wenigen Sprüngen auf der Straße.

Vom Waldesrand bis zum Schulhause sind kaum zweihundert Schritte. Der Mann legt sie fast laufend zurück.

Frau Hanna bleibt wie angewurzelt stehen. Ein schrecklicher Gedanke ist in ihr aufgezuckt. Die eine Hand auf das Herz, die andere um eine Zaunstange pressend, erwartet sie den eilig Herankommenden. Plötzlich stößt sie einen leisen Schrei aus. »Fritz, du bist's wirklich? Und so – so kommst du zu uns?« stöhnt sie.

»So mach doch auf! Merkst du denn nicht, daß ich nicht gesehen werden darf?« fährt er sie an, reißt das Pförtchen auf und ist im nächsten Augenblick im Hause verschwunden.

Totenbleich und an allen Gliedern bebend folgt ihm seine Schwester.

Im Wohnzimmer sitzt er auf einem Stuhl. Seine Reisetasche und sein Hut liegen vor ihm auf dem Boden. Die Augen sind tief eingesunken, und ihr Ausdruck ist scheu und unruhig.

Hanna hat sich auch setzen müssen. Gleich neben der Tür hat sie einen Sessel gefunden, und das war gut. Sie wäre sonst vielleicht zusammengebrochen, so sehr zittern ihre Kniee, so kraftlos hat der Schrecken sie gemacht.

Endlich findet sie Worte. »Was hast du getan?« fragt sie mit einer Stimme, die gar nicht der ihrigen gleicht.

Fritz fährt auf. »Du nimmst also sofort an, daß ich –«

»Was nehme ich an?«

»Jedenfalls etwas Schlechtes. Leugne es, wenn du kannst – du, die du immer so lieblos gegen mich warst!«

»Laß das jetzt!«

Frau Hanna erhebt sich und geht steif bis an den in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch, auf den sie sich stützen muß. Weit vorgebeugt steht sie da, die Augen starr auf Fritz gerichtet. »Bringst du Schande in dieses Haus?« fährt sie fort. »Bist du nicht getrieben von Angst hierher gekommen? Und dein Aussehen! Fritz, wenn du dich ansehen könntest! Wie ein flüchtiger Mörder siehst du aus.«

Ein unterdrückter Schrei. Fritz hatte auffahren wollen, aber kraftlos sank er wieder zurück und schlug die Hände vors Gesicht.

»Fritz – Fritz!« stöhnte seine Schwester, ihn wie eine Irrsinnige anstarrend.

Keines von beiden hatte bemerkt, daß Tilgner unter der Tür stand. Jetzt sagte er in die fürchterliche Stille hinein, die den letzten Worten gefolgt war: »Hanna, laß mich mit Fritz allein. Später werde ich dich rufen. Da wirst du ruhiger geworden sein.«

Er führte die Zitternde in die Küche hinaus.

Als er zurückkehrte, lief Fritz im Zimmer umher.

»Setz dich!« sagte Tilgner.

»Ich kann nicht.«

»Du setzest dich!«

In des Lehrers Wesen war etwas, dem Fritz nachgeben mußte. Zähneknirschend stieß er sich einen Stuhl zurecht und ließ sich darauffallen.

»So – jetzt rede!« befahl Tilgner.

Fritz stöhnte nur: »Für einen Mörder hält sie mich! Für einen Mörder!«

Tilgner lachte bitter auf. »Du bist wie deine Mutter,« sagte er. »Die dreht einem auch das Wort im Munde herum. Und so warst du seit jeher. Hanna hält dich nicht für einen Mörder, sie hat mit ihren Worten nur dein Aussehen charakterisieren wollen und hat das sehr richtig getroffen.«

»So glaubst auch du –«

»Daß du zurzeit sehr gendarmenscheu bist! Ja, das glaube ich. Also – heraus mit der Sprache! Wenn du, was ich wünsche und hoffe, kein Mörder bist, was bist du dann?«

»Ich habe meine Kasse angegriffen,« gab Fritz, die Augen senkend, zu.

»Also ein Dieb!« ergänzte sein Schwager das schmähliche Bekenntnis.

Fritz ballte die Hände und warf Tilgner einen wütenden Blick zu.

»Nun, du wirst dich doch nicht mehr für einen ehrlichen Menschen halten?«

»Es hat schon mancher –«

»Es hat noch keiner einen Orden dafür bekommen, selbst wenn er nur gestohlen hat, um seine hungernde Familie satt zu machen. Du aber hast keine Familie und einen Gehalt, der den meinigen weit übersteigt. Du hast also keine Entschuldigung dafür, daß du zum Dieb geworden bist.«

»Joseph!«

»Geniert dich das Wort? Es hat dich doch die Tat nicht geniert!«

»Du kennst das Leben in der Großstadt nicht.«

»Ich habe genug Phantasie, um es mir vorstellen zu können. Ganz genau aber kenne ich dich, mein Junge. Schon immer hast du alles nur für dich haben wollen. Du bist auch darin deiner Mutter Sohn. Das Wenigste leisten und das Meiste begehren – das ist euer in Taten umgesetzter Wahlspruch. – Was willst du übrigens hier? Meinst du hier Geld zu bekommen, im armen Dorfschulhaus, wo man aus der Hand in den Mund lebt?«

»Ich hoffte –«

»Nun, vielleicht kann dir deine Mutter helfen. Wie viel mußt du denn haben, um nicht –«

»Lumpige vierhundert Kronen.«

»Die kann dir deine Mutter sicher geben.«

»Meinst du?«

»Gewiß. Aber die hättest du doch auch von Otto erhalten können – herzensgut und opferfähig, wie er ist.«

»Er ist es ja auch! Bei Gott, das ist er!« brach Fritz aufschluchzend los. »Er hat mir ja auch geholfen. Achthundert Kronen hat er für mich zusammengeborgt.«

»Du hast vorhin von vierhundert Kronen gesprochen –«

»Die ich noch brauche.«

»Also hast du zwölfhundert gestohlen?«

»Nur achthundert.«

»Entweder bist du oder bin ich verwirrt.«

»Gestern abend hat Otto mir die achthundert Kronen ins Kaffeehaus gebracht, wo ich auf ihn warten mußte. Aber er war so bös auf mich, daß er mich gleich wieder verließ – und da –«

»Und da?«

»Da kam ich auf die Idee, zu spielen. Wenn ich Glück gehabt hätte, hätte ich meine Kasse und Otto befriedigen können.«

»Du hast aber kein Glück gehabt?«

»Leider nicht.«

»Und hast also die Hälfte von Ottos mühsam zusammengebrachtem Gelde verspielt?«

»Ach hab's ja nur gut gemeint.«

Tilgner war langsam um den großen runden Tisch herumgegangen. Er stand jetzt dicht vor seinem Schwager, schaute ihm tiefernst in die Augen, dann erhob er die Faust und schlug ihm ins Gesicht.

»Schuft!« sagte er dazu und legte die beiden Hände auf den Rücken.

So blieb er vor Fritz stehen.

Der war emporgetaumelt, vor Tilgners durchbohrendem Blick aber wieder auf den Stuhl niedergesunken.

»Dein erstes Verbrechen ist eine Kleinigkeit gegen diese zweite Niederträchtigkeit,« sagte Tilgner. »Du und deinesgleichen, die ihr nicht den leisesten Begriff von Recht und Unrecht habt – euch sollte man vernichten, denn ihr seid das gefährlichste Raubzeug auf Erden.«

Fritz schluckte an einer Antwort und sah tückisch nach seinem Schwager hinüber.

Dieser aber betrachtete den jungen Menschen mit der verächtlichen Neugier, welche man für unbegreiflich Gemeines hat.

Nach einer Weile sagte er: »Die Kassenrevision ist vermutlich schon recht nahe bevorstehend, und deshalb bist du durchgebrannt. Bis dahin begreife ich dich. Warum aber kamst du in so heimlicher, scheuer Weise? Die Schande spürst du nicht, deine Mutter wird dir das Geld geben, also –«

»Ich bin in Gefahr –«

»Ist es also schon zu spät zum Gutmachen des Kassenmangels?«

»Auch dazu ist es zu spät. Heute früh hätte ich's noch vertuschen können. Aber das ist das wenigste –«

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß ich möglicherweise in den Verdacht komme, einen Mord verübt zu haben.«

Fassungslos starrte Tilgner seinen Schwager an.

Dieser zog eine Zeitung aus der Tasche seines hellen Überrockes. Er zeigte auf eine gewisse Stelle.

Tilgner las. Er mußte sich einen Stuhl herbeiziehen, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr. Seine Augen flimmerten, seine Pulse flogen zum Zerspringen.

Endlich schob er die Zeitung von sich und fragte mit merkwürdig trockener Stimme: »Es handelt sich da um die Tante von Ottos Braut?«

»Ja.«

»Und was hast du damit zu tun?«

»Nichts.«

»Nichts? Fritz, sei in diesem schrecklichen Augenblick wahr!«

»Nichts!« schrie Fritz qualvoll auf.

Im nächsten Augenblick lag er schluchzend zu seines Schwagers Füßen. Er glich einem Verzweifelnden.

Tilgner fühlte, daß der junge Mensch in diesem Augenblick keine Täuschung beabsichtigte.

»Joseph,« schrie Fritz, »ich bin schlecht, und ich bin ehrlos geworden, aber so tief gesunken bin ich nicht! Um Gottes Barmherzigkeit willen, glaube mir – ein Raubmörder bin ich nicht!«

»Steh auf, ich glaube dir ja. Aber was fürchtest du? Besinne dich! Irgend etwas mußt du doch damit zu tun haben. Woher sonst deine Angst?«

»Otto war – vielleicht eine halbe Stunde, ehe die Schubert ermordet wurde – in meiner Angelegenheit bei ihr. Ich selber forderte ihn auf, von der alten Frau das Geld zu borgen. Er sträubte sich lange. Erst als er überall abgewiesen wurde, sagte er, daß er nun doch zur Schubert gehen wolle. Ich sollte ihn an der nächsten Straßenecke erwarten. Meine Ungeduld trieb mich aber dazu, bis zum Hause zu gehen, in dem Otto verschwunden war. Dort drückte ich mich in einen Winkel der Haustornische. Es war dichter Nebel. Eine Frau, die an mir vorbeikam, schaute mich scharf an, dann ging sie ins Haus. Mir war es sehr unbehaglich geworden. Ich ging wieder an die Straßenecke. Nun weißt du, warum ich in Angst bin. Die Beschreibung des Mörders, die dort in der Zeitung steht, paßt genau auf mich. Es wird herauskommen, daß Otto für mich Geld zusammenborgte und daß er auch bei der Schubert war. Und mich hat man nun auch dort gesehen. Weißt du jetzt, warum ich mich verbergen muß, bis der wahre Mörder gefunden ist? Seit gestern früh bin ich aus Wien verschwunden. Es war zu dumm von mir, daß ich schon so frühzeitig das Haus verließ. Aber ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, ich hatte den Kopf verloren. Gegen neun Uhr mußte im Geschäft der Kassendefekt entdeckt sein, da hatte ich dann meine Verhaftung zu gewärtigen. Ich wollte also schon weit weg von Wien sein. Dem Otto wollte ich das Geld, das ich noch besaß, schicken und mich erschießen. Dort in meiner Tasche ist der Revolver.«

»Der unbenützte!« konnte Tilgner zu sagen sich nicht enthalten.

Fritz zuckte zusammen und fuhr dann heiser fort: »Ich hatte nicht den Mut dazu. Und so kam ich hierher.«

»Nachdem du Kenntnis davon bekamst, daß ein Mann von deinem Äußeren die entsetzliche Tat begangen haben soll, hättest du sofort umkehren und dich selbst stellen müssen.«

»Bist du verrückt?«

»Weder in meinem Kopf noch in meinem Gewissen.«

»Ich sollte mich selber der Schande ausliefern?«

»Du hast dich der Schande schon durch deine Tat ausgeliefert. Man wird dich suchen und auch finden.«

»Wirst du mich fortschicken?«

Tilgner zuckte ungeduldig die Schultern. »Werde nur nicht theatralisch!« sagte er kühl. »Ich werde dich nicht zwingen, zu gehen, denn das wird nicht notwendig sein. Wenn du ruhig nachgedacht hast, wirst du selbst dieses Haus verlassen, denn du wirst einsehen, daß man dich zuallererst hier suchen wird.«

Fritz Stegmann sah seinen Schwager erschrocken an, dann legte er den Kopf auf den Tisch und fing herzerbrechend zu weinen an.

Da ging Tilgners Verachtung in Mitleid unter. Er sagte gütig: »Fritz, entschließ dich zu dem einzig Richtigen. Laß es nicht darauf ankommen, daß man dich gewaltsam nach Wien bringt. Geh selbst! Es wird der beste Beweis für deine Schuldlosigkeit in bezug auf jenes größere Verbrechen sein. Ermanne dich, Fritz – büße und mach damit deine Seele wieder frei! Wenn dir die Selbststellung dadurch leichter wird, fahre ich gern mit dir nach Wien und –«

Tilgner hielt inne. Fritz hatte den Kopf erhoben. Beide lauschten.

»Die Mutter!« murmelte Fritz und sah scheu nach der Tür, hinter welcher man das Sprechen zweier Frauenstimmen hörte.

Schon wurde die Tür aufgerissen, und die alte Frau Stegmann kam, so schnell ihre Schwerfälligkeit es zuließ, hereingestürzt. »Fritz – Fritz!« schrie sie. »Was ist geschehen? Und diese roten Flecken in deinem Gesicht! Bist du gestürzt?«

»Nein, ich schlug ihn,« sagte Tilgner.

»Sie schlugen ihn!« kreischte die alte Frau. – »Und du hast dir das gefallen lassen?« wandte sie sich an ihren Sohn.

»Er wird sich noch mehr gefallen lassen müssen,« sagte Tilgner schroff.

Hanna stand totenbleich und bebend an der Tür. Ihre Mutter war ebenfalls auf einen Stuhl gesunken, aber wütende Blicke konnte sie doch noch versenden. »Schweigen Sie!« zischte sie ihren Schwiegersohn an. »Von Fritz will ich hören, was geschehen ist. – Fritz, mein Junge, komm mit mir. Diese beiden haben ja kein Herz für dich.«

Sie hatte sich erhoben.

Als Fritz das gleiche tun wollte, sagte Tilgner streng: »Du bleibst hier. Solange du unter meinem Dache bist, gibt es keine Heimlichkeiten. So – und jetzt red.«

»Sag du es!« stieß Fritz heraus.

Tilgner machte die beiden Frauen mit dem Geschehenen bekannt und schloß seine Erklärung mit den Worten: »Vernünftigerweise ist Fritz entschlossen, sich dem Gericht zu stellen.«

Frau Stegmann hatte ihm wie entgeistert zugehört. Schrill auflachend schrie sie jetzt: »Dazu haben natürlich Sie ihn überredet. Aber das geschieht nicht!«

»Es wird geschehen, und Sie werden nichts anderes dabei zu tun haben, als daß Sie die unterschlagene und die verspielte Summe ersetzen. Ich weiß, daß Sie in der Lage sind, dieses Opfer bringen zu können, während Otto, der immer von Ihnen Zurückgesetzte, keine Ursache hat, jahrelang Schulden zu schleppen, die dieser hier gemacht hat.«

»Was ich mit meinem Gelde mache, geht niemanden etwas an,« schrie Frau Stegmann. »Fritz wird aber selbstverständlich Geld von mir erhalten, damit er fliehen kann.«

»Wenn er sich wirklich dazu von Ihnen verleiten läßt, geht er augenblicklich aus meinem Hause.«

»Mitten in der Nacht?« schrie die Alte.

»Jetzt, mitten in der Nacht,« sagte Tilgner mit eisiger Ruhe.

»Pfui – pfui!«

»Aber Mutter!« rief Hanna empört.

Tilgner winkte ihr beruhigend zu. »Laß sie nur!« sagte er. »Heute wollen wir nichts von ihr erwarten, was auch sonst schon gegen ihre Natur geht. – Fritz,« wandte er sich dann an seinen Schwager, »erkläre dich jetzt. Wir müssen schon bald aufbrechen, wenn wir zum Frühzug noch zurechtkommen wollen.«

Frau Stegmann rang die Hände.

Fritz hatte sich erhoben. Sein hübsches Gesicht war sehr blaß und sehr ernst. Er richtete sich stramm auf, schaute seinem Schwager und dann seiner Schwester fest ins Auge und sagte: »Ich will nach Wien zurück. Joseph, Hanna, verzeiht mir die Schande, die ich euch mache. Ich glaube, daß ich von heute an ein anderer sein werde. So – und jetzt laßt mich allein.«

Da stürzte seine Mutter auf ihn zu und umklammerte ihn. »Ich lasse dich nicht allein. Du tust dir etwas an!« wimmerte sie.

Er machte sich von ihr frei. »Geh, Mutter, sonst könnte ich im Guten und Wahren wieder schwankend werden,« murmelte er und kehrte sich ab.

Da sank die alte Frau vor ihm auf die Kniee. Es war, als ob etwas gebrochen wäre in ihr. Schluchzend wiederholte sie immer wieder: »Also im Guten und Wahren würde ich ihn schwankend machen! Im Guten und Wahren! – Fritz, wie kannst du mich so verurteilen!«

Hanna weinte laut und hob die alte Frau auf.

Frau Stegmann aber ließ sich nicht halten. Sie machte sich heftig frei und ging hinaus.

Hanna wollte ihr nach. Ihr Mann aber winkte ihr, das sein zu lassen.

»Fritz wird jetzt eine Stunde ruhen,« sagte er. »Dann mach uns Tee. Ich begleite ihn bis Wien, wenn ihm das die Fahrt leichter macht.«

»Ich bitte dich darum,« murmelte der Unselige.

Tilgner ging in dem Gang, der vor der Küche lag, auf und nieder. Nur von hier aus konnte man in das Wohnzimmer gelangen. Er bewachte den Eingang. Er war fest entschlossen, seine Schwiegermutter mit Fritz nicht allein zu lassen.

Aber sie kam nicht wieder zum Vorschein. Erst kurz vor dem Aufbruch hörten sie sie die Treppe herunterkommen.

»Hier ist, was ich habe,« murmelte sie. »Mein Kopf ist ganz wirr. Nehmen Sie, was gebraucht wird, heraus.« Sie hielt Tilgner eine alte lederne Tasche hin.

Er schraubte die Lampe höher und legte, was in der Tasche war, auf die Platte des Küchentisches. Es war mehr, als er und Hanna vorausgesetzt hatten. Neben Gold- und Papiergeld kam ein Umschlag zum Vorschein, der etwa ein Dutzend Wertpapiere umschloß.

An diese hielt sich Tilgner. Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb die Nummern von sieben dieser Wertpapiere auf, deren Verkauf ein wenig mehr ergeben würde, als man zur Ordnung der Angelegenheit bedurfte. Dann mußte Frau Stegmann schriftlich bescheinigen, wozu der Erlös der Papiere dienen sollte.

Man war eben damit fertig, und die alte Frau hatte alles, was übrig blieb, gerade wieder in die Tasche getan, als sich die Zimmertür öffnete, und Fritz fragte, ob man noch nicht bald gehen müsse.

Er sah recht elend, immerhin aber ruhiger als vorher aus.

Hanna fiel ihrem Bruder um den Hals, zerdrückte ihn schier und schluchzte herzzerbrechend. Frau Stegmann aber, die jetzt, da sie Geld hergegeben, ihren Trotz und ihren Hochmut wiedergefunden hatte, fand Worte genug.

»Freiwillig gehst du, mein Kind, mein teures Kind!« deklamierte sie. »Wie bist du trotz deiner ja entschuldbaren Verirrung besser als manch anderer, der sich für wer weiß was hält!«

»Seine Verirrungen sind nicht entschuldbar,« verbesserte Tilgner die Worte der heuchlerischen Frau, die sogar jetzt um sich biß.

Als die beiden Männer das Schulhaus verließen, schlug es auf dem Dorfkirchturm gerade zwölf Uhr.

Hanna schaute ihnen nach, bis sie im Walde verschwanden. Viel sah sie allerdings nicht, denn ihre Augen schwammen in Tränen.

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