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Der Salzgries

Unlängst hat einer gefragt, welcher Unterschied zwischen einer Gasse und einer Straße bestehe.

Der Gefragte lächelte listig, blinzelte schlau und antwortete: Beiläufig derselbe wie zwischen konkret und konvex. Ein Dritter hörte das Gespräch der beiden, lächelte nicht und begann zu grübeln. Konkret und konvex – lautähnliche Bezeichnungen grundverschiedener Begriffe! Sind die Begriffe »Gasse« und »Straße« so sehr verschieden? Eine Straße muß ein Fahrweg sein, der Gassen, Plätze, Städte oder Dinge von noch größerer Flächenausdehnung miteinander verbindet. So die kurze Schenkenstraße, die lange Mariahilferstraße und die Straße von Gibraltar. Gassen müssen das nicht: sie können Sackgassen sein, die nur angelegt wurden, damit Häuser erreichbar seien. Brauchen Straßen Häuser? Nein! Die Laxenburgerstraße ist dort am schönsten, wo sie zwischen Feldern liegt. Gibt es Sackstraßen? Nein! Gassen werden in Städten normalerweise durch Häuser und ihre Annexe gebildet, die sie geschaffen haben. Man baut Häuser in einer Gasse und an einer Straße, abgesehen von den domestizierten Straßen, die nur in Städten vorkommen. Auch Städte können an Straßen, niemals aber an Gassen liegen. Gassen leben nur in Städten, in Ortschaften. Straßen ziehen sich weithin durch Wälder und von Ozean zu Ozean. Und der Grübler, er mochte ein guter Deutscher sein, der gern theoretisiert und katalogisiert, dachte: »Theoretisch hat der Mann mit dem ›konkret und konvex‹ nicht ganz unrecht. Zwischen den Begriffen Straße und Gasse bestehen ganz essentielle Unterschiede, insbesondere dann, wenn man die Frage von folkloristisch allgemeinerem und vom etymologisch richtigeren Standpunkt aus ansieht, als Stadtpläne und Stadtväter es tun – übrigens will ich noch einen Juristen fragen.«

Lieber Grübler! Wir haben eine kurze Schenkenstraße, eine lange »Lange Gasse«. Begriffe ändern sich und ihre Bezeichnungen mit ihnen. Ein nachgedunkelter Quabbelmeier wird als Rembrandt erkannt, die Tiara des Saitaphernes wird entlarvt, alles ändert sich, und was früher ein rauschendes Wasser gewesen, ist heute eine gut gepflasterte Geschäftsstraße. Und käme Chidher gefahren, Rückerts Phantasiefigur, die von fünf- zu fünfhundert Jahren dieselbe Gegend besucht, er fände »nach aber fünfhundert Jahren« korrigierte Museumskataloge. Alles fließt und verwandelt sich.

Die Gasse, die sich in Wien im Schneckengang der Jahrhunderte am meisten verändert haben mag, wegen deren auch Chidher sein Haupt schütteln würde, ist der Salzgries. Im Biedermeier-Wien, in der Zeit der Behäbigkeit, in der es ein »Capua der Geister« und ein glückliches Krähwinkel war, gab es viele Solitär-Straßen und Plätze, solche, die ein Individuum, etwas Besonderes und Originelles waren.

Der Salzgries gehörte zu ihnen.

Heute unterscheidet er sich von den meisten andern Straßen nur mehr durch seine Straßenbenennung. Seine Häuser, völlig unindividuell und im Dutzendstil erbaut, haben Allerweltscharakter, und des alten Salzgries Genius loci hat sich in das intime Privatleben, in alte Chroniken und Stadtbeschreibungen zurückgezogen, von wo er uns manchesmal – selten nur – aus einem alten Holzschnitte wehmütig entgegenlächelt. Viele der ältesten Gassen Wiens hatten einen scharf ausgeprägten Charakter, und heute noch wird unsre Phantasie angeregt durch Namen, wie Goldschmiedgasse, Bognergasse, Seilerstätte, und in irgendeinem tief verborgenen reproduktiven Winkel unsres Hirnes schauen wir die Bogenmacher und Pfeilschnitzer in niederen, dämmerigen Werkstätten hinter vergitterten Fenstern die geschnitzten Bogen bemalen und die Armbrustsehnen prüfen.

Vor fünfzig Jahren hatte auch der Salzgries noch seinen besonderen Charakter. Er hätte in Sadagora oder in Tarnopol als Ghetto bestehen können. Männer mit kaftanartigen schwarzen Röcken, mit rauhhaarigen Zylinderhüten und schaukelnden Peies standen vor schmalen Türen schmaler dunkler Geschäftsladen, die so wenig rein waren wie die Häuser, in denen sie sich befanden, wie die Waren, die sie enthielten, und wie die Männer vor ihnen.

Und was für Waren gab es da! Schmutzige, vom Tandelmarkt »abgelegte« Kleider, Trödelkram, grau und runzelig gewordene, gerupfte Fettgänse und andre antikisierende Lebensmittel. Eine Kaffeetaverne – Tschecherl sagt man heute – lockte mit einer rotverglasten Laterne, der zwei Scheiben fehlten, zum Genuß. Ein naiver Student – später ist er Universitätsprofessor geworden – wollte sich dort um fünf Kreuzer an Kaffee erlaben. Im dunkeln Zimmerchen saßen mehrere Juden, die weder Kaffee noch Wasser auf den Tischen hatten und mit den Händen laut sprachen. Die alte Schenkin sagte zum Studenten: »Kaffee wollen Se haben? 's is kaner da. Aber e saures Beuschel is da. Es steht in der Röhr'n.« Und vor diesem Laden standen galizische Handelsleute, die mit denen im Zimmer durch das Fenster und mit vielen vorübergehenden Kommittenten in einer Sprache, die an die deutsche erinnerte. verhandelten. Leute, die auf der Gasse Geschäfte machten, und solche, die auf andre lauerten, mit denen vielleicht Geschäfte zu machen wären, belebten den unteren Teil des Salzgries und redeten zu offenen Fenstern hinauf, aus denen bärtige Männer mit rauhhaarigen Zylindern auf dem Kopfe herabsahen.

Wollte man aber sagen, der Salzgries sei wie ein Ghetto gewesen, wäre das nicht ganz richtig. Er war auch wie eine Straße in Kecskemet oder Kikinda, was das Leben betrifft.

Bauernwagen mit knarrenden Rädern, bestaubt von weiter Fahrt, brachten Körbe mit Eiern, Kisten mit lebenden Gänsen und Butten voll Erdäpfel den Greislern und andern Eßwarenhändlern, und die neuen Frachten wurden vor dem kleinen Verkaufsladen auf den Gehweg gestellt, zu Herings- und Sirupfässern und Obstkörben, welche die Passage bedenklich verengten.

Da keiften Feilschende, schnatterten Gänse und knurrten bissige Hunde. Stroh, das zum Verpacken gedient, und Heu, das die Bauerngäule aus ihrem Futtertrog geworfen, lag allenthalben auf der Straße bei Pferdemist, welken Gemüseblättern, Eierschalen und andern Küchenabfällen. Es hätte einem abgehärteten Straßenkehrer grausen mögen!

Wollte man aber sagen, der Salzgries sei wie eine ungarische Dorfstraße gewesen, wäre das nicht ganz richtig.

Er erinnerte auch an eine Gasse einer ehemaligen Garnisonsstadt.

Die große Kaserne auf der Donauseite des Salzgries hätte in Mantua oder in Verona unser ehemaliges Festungsviereck bewachen helfen können.

Ihre zwei Stockwerke mit den endlosen Arkadenreihen muteten oberitalienisch an, und die Bogengänge waren für die Soldaten Theatergalerien, von denen herab sie ins zivilistische Leben schauten und von wo sie oft mit lautem Beifall das Defilieren üppiger Dienstmädchen und auch andrer betrachteten.

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Wenn aber die Infanteristen in den offenen Gängen Gewehrgriffe übten oder Gelenksübungen machten, wurden sie selbst zu Akteuren, und die Mädel blieben auf der Straße stehen, blinzelten zu ihnen hinauf und unterhielten sich. Ein dankbares Publikum, das mit Liebe zusah und mit Liebe bezahlte ...

Der Salzgries gemahnte nicht nur an ein Ghetto, an eine Marktstraße und an eine Garnisonsstadt von ehemals.

Es lag ein schweigendes, graues Erinnern an längst Vergangenes über ihm.

Ein Erinnern, das an den hohen, grauen, schmutzigen Hauswänden hinschlich, das aus niederen, schwarzen Torwegen und an den Ecken der engen Stiegengäßchen lugte, die zu ihm herabführten.

Vier Stock hoch, unheimlich und fast schwarz stand am unteren Ende des Salzgries auf der Stadtseite eine lange, kahle Mauer, hoch oben nur von wenigen Fenstern unterbrochen. Sie war die hintere Seite des Polizeigefangenenhauses, des ehemaligen Siebenbüchner-Klosters.

Das Haus war alt. Es wurde als Nonnenkloster an der Stelle erbaut, wo früher ein Haus mit dem Schilde »Zu den sieben Büchern« stand. Diesen Schildnamen verdankte es dem Meister Hans von der Selingstat, dem Magister der sieben freien Künste, dem es (1483) zu eigen gewesen. Die Umwandlung des Hauses der freiwillig Verschlossenen zu dem der Polizeigefangenen war leicht, denn Zellen und vergitterte Gänge waren schon vorhanden. Auch als Schuldenarrest wurde das alte Kloster, in dem eine Kaiserin gestorben, später benützt.

Unsre frühere Justitia, erzürnt über die wucherischen Gläubiger, sperrte die Schuldner ein, damit sie nicht durch Gelderwerb ihre hartherzigen Förderer befriedigen konnten.

Die schwarze Mauer des Siebenbüchner-Klosters war ein letztes Echo der Erinnerungen, die noch vor fünfzig Jahren den Salzgries umschwebten.

Für ihn gab es kein Empire, keine Biedermeierzeit.

In der Zeit der eisernen Rüstungen war er jung und wehrhaft, in der Epoche der gepuderten Perücken war er ein freundlicher Greis, und dann kam der Verfall mit allen Gebresten des Alters.

Das dunkle Kloster leitet uns zum alten Salzgries. An der Ecke der Fischerstiege, die durch ein uraltes gotisches Bogentor vom Salzgries abgeschlossen war, stand in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein niederes, freundliches Wirtshaus. Es gehörte dem ehrenfesten Hans Rechberger. Seine Braut, die Tochter des Schloßverwalters im Neugebäude, hieß Berta. Kaiser Maximilian II. hatte im Neugebäude einen großen Tierzwinger angelegt, und ein mächtiger Berberlöwe in ihm war Bertas verhätschelter Liebling. Am Tage ihrer Vermählung betrat Rechbergers Braut, ehe sie ihres Vaters Haus verließ, hochzeitlich geschmückt den Löwenzwinger, wie sie es oft getan. Das Tier erkannte seine Freundin im Brautgewande nicht und erwürgte sie. Die Leute sagten: aus Eifersucht. Das Gedicht »Die Löwenbraut« erzählt uns davon, Bilder stellten das Geschehnis dar, und Rechbergers Haus am Salzgries wurde fortan »Zur Löwenbraut« genannt. Rechberger ließ sein Haus verfallen, und Anno 1651 wurde ein neues Gast- und Einkehrwirtshaus auf der alten Stelle gebaut und »Zum weißen Löwen« beschildert.

Es war ein Treffpunkt der Reisenden, die von der Brünner Gegend ankamen, und gehörte dem Johann Gebhard.

Wenige Häuser aufwärts stand zu Anfang des 18. Jahrhunderts das Einkehrgasthaus »Zum Wolfen in der Au« mit der Hausnummer 435. »Allwo den Fasching hindurch Musik gehalten und man zugleich soupieren kann.« So sagt das Wiener Kommerzialschema vom Jahre 1780, der Vorläufer unsres Lehmann.

Das Schild des Hauses fand seine Entstehung in der Erinnerung an alte Zeiten, in denen nächtlicherweile, wenn die Donau Eis trug und das Land verschneit lag, von der Au im Werd über die Donau das Heulen der Wölfe die Bewohner des Salzgries im Schlafe aufschreckte.

Unweit vom »Wolfen« war das fidele Gasthaus »Zum blauen Hecht« im Hause Nr. 209, und in dessen Nähe Leopold Mangels Gasthaus »Zum grünen Gattern«. Von den kleinen Tavernen und Bettlerspelunken erzählen weder Wolfgang Schmälzl noch andre Chronisten, obwohl manche in ihren Schilderungen so gewissenhaft sind, anzugeben, daß am Salzgries um das Jahr 1780 der »Hosenschneider Anton Wachala« im Hause Nr. 436 gewohnt habe.

Im besten ursächlichen Zusammenhange mit der Gegenwart zahlreicher Gasthäuser ist das Bestehen mehrerer Innungshäuser. Sollten Schuster und Bäcker nicht Durst haben und Schlosser nicht zechen wollen? Zudem war ja der blaue Montag schon lange erfunden – allerdings nicht von Doktoren, Professoren oder der Sippe der Schriftgelehrten.

Die Zeit, die für den Wissenden graues Erinnern über die düstere Gegend bei dem alten Turm mit dem feinen Steinhelm breitet, über die Gegend des Steilrandes der Stadt bei der Donau, sie ließ uns ihre steinernen Spuren am Salzgries bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sehen. Lange nachdem die ältesten, zinnengekrönten Mauern gefallen waren, blieben die Öffnungen in ihnen, von Torbogen und Quaderrahmen umschlossen, bestehen.

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts standen am Fuße des steilen Hügels, an ihn angelehnt, festgebaute niedere Giebelhäuser in langer Zeile von der Mündung des Ottakringer Baches, der durch den tiefen Graben floß, bis zum heutigen Morzinplatz. Vor ihnen lag eine tief zerfahrene Straße, und über ihre spitzen Dächer hinaus ragten die Kirche Maria am Gestade und eine Häuserreihe am oberen Rande des Hügels. Die Straße wurde gegen die Donauseite von der Ringmauer Wiens beschirmt. Kleine spitzbogige Tore, die in feste Türme mit Schießscharten und Pechnasen eingebaut waren, ließen die Donaufahrer und andere reisende Kaufleute in die Stadt, und die Wiener Schiffleute und Fischer und die »behauste Bürgerschaft der Salzer« zum Wasser gelangen.

Gegenüber der heutigen Marienstiege stand der »Werderthurm« und in seiner Nähe, in einen Winkel der Stadtmauer eingebaut, stand so recht als spähender Wächter Meister Petreims Turm. Vor ihm auf dem Anger am Donauufer befand sich die Stange mit dem Vogel, den abzuschießen sich die städtischen Armbrustschützen übten.

Das Werdertor, das seit dem 13. Jahrhundert ritterlich mancher Berennung widerstanden, wurde zu Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Torhöhe abgetragen. Auf dem ehernfesten Unterbau, der die demolierenden Spitzhauen zuschanden gemacht hat, baute Anno 1717 der bekannte Hanswurst J. A. Stranitzky ein drei Stock hohes Zinshaus.

Dem Ritterhelm folgte die Schellenkappe und dieser der Zopf, denn 1798 übernahm das Haus die niederösterreichische Staatsgüteradministration und in der Folge die Lottogefällsdirektion. Wie kräftig klingt neben diesen ärarialischen Bezeichnungen das Wort »Werderthurm«!

Das Interessanteste am Salzgries – unsere Großväter haben es noch gekannt – war der große Passauerhof. Er lag unter der Kirche Maria am Gestade. Das Bistum Passau kaufte Anno 1357 den Besitz des Hanns von Greif »unterhalb der Unseren Frauen Kapelle in der Gstätten auf dem Salzgries«.

Das Stift erbaute da eine seltsame Häusergruppe. Niedrig und arm an Fenstern, im Eindruck ärmlich, stand ein langes Haus an der Straße.

Es hatte aber einen Mittelbau, der dreistöckig mit einem hohen Satteldach emporragte. Hügelansteigende Höfe mit winkeligen Einbauten schlössen sich daran, und in der halben Höhe des Hügels, zu Füßen der Kirche, stand stolz und hoch ein burggleicher Bau, zu dem eine mächtige, zwei Stock hohe Marmorstiege emporführte.

Der Passauerhof zeigte Stärke, behagliche Wohnlichkeit und Pracht, und in seinen jüngeren Jahren beherbergte er oft die Großen des Reiches, des Landes und der Stadt, die da Wichtiges berieten.

Als schmutzige Bettlerherberge siechte er in seinem Alter dahin. Im Jahre 1822 wurde er durch die Marienstiege entzweigeschnitten und hörte auf zu bestehen. In alten Büchern liest man, daß in der Wand des Passauerhofes gegen den Salzgries hin schwere eiserne Ringe angebracht waren, die zum Anbinden der Schiffe dienten, der schweren Trauner, die Salz nach Wien brachten. Gewiß war der Salzgries der Stapelplatz für die Salzfrachten. Sie und das sandige Ufer gaben ihm ja den Namen.

Das Salzamt und die alte Salzgasse zeugen von dem Salzhandel an dieser Stelle. Aber das Bild mit den an der Wand des Passauerhofes vertäuten Schiffen ist gar zu schön venezianisch. Bei Demolierung der Salzgrieskaserne, also auf der anderen Seite der Straße, fand man in der Erde uralte, durch Nässe schwarz gewordene Pfähle und an jedem von ihnen große Eisenringe.

Dort floß die Donau und dort landeten die Schiffe. Zudem brauchte man zum Weiterverfrachten des Salzes eine Straße, die gewiß den Häusern entlang lief.

Es war einmal ein wirklicher Salzgries. Heute gibt es nur einen sogenannten.

Und führte sein Weg Chidher, den ewig Jungen, heute auf den Salzgries, er würde verwundert sein Haupt schütteln und dann nachdenklich sagen: »Und aber nach fünfhundert Jahren will ich desselbigen Weges fahren.«


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