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Wo die Rotenturmstraße ihren Ursprung fand

In mittelalterlichen Städten gab es zweierlei Stellen von hauptsächlicher Bedeutung. Das waren Plätze, in die schmale, dämmerige Gassen mündeten und auf denen Kirchen standen, die nahe den Wolken wohnten, morgens mit jubelnder Schalmei die Stadt wachriefen, und wenn die Sonne zur Rüste ging, Schlaflieder über die steilen Dächer und hohen Rauchfänge hinbliesen. Da gab es Plätze, auf denen Sonnenschein über Marktzelten und Krämerbuden flimmerte, auf denen Weihrauchduft durch gotische Kirchenpforten drang und wo es nach Fischen, Fleisch und Gewürzen roch. Da mischte sich das Gezeter der Marktweiber und die hellen Stimmen der Feilschenden mit heiligen Orgeltönen, die durch gemalte Bogenfenster drangen. Da war kreischendes Leben und stillfromme Mystik.

Und andere Stellen gab es, an denen ängstliche Wachsamkeit wohnte und das Lauern hinter engen Schießscharten und in dunklen Torwinkeln lag. Da standen die Türme mit den Stadttoren, da wohnten geharnischte Bogenschützen, bezogen gewappnete Bürger mit scharfspitzigen Speeren die Wache, und Klirren von Schwertern rief in gewölbten Hallen eisernes Echo wach. Das waren die Kardinalstellen einer alten Stadt.

Auch Wien besaß sie.

Sahen die Wiener mit Ehrfurcht auf ihren Stephansdom, so sahen sie mit der stolzen Ruhe eines Kriegers, der hinter seinem festen Setzschilde den Feind erwartet, auf ihren lieben Rothen Thurm.

Viele Türme standen groß und stark in der Stadtmauer, die Wien schützte. Von ihren vielen war keiner so volkstümlich als der Rothe Thurm, der Liebling der Wiener, und nach keinem andern der Stadttürme ist eine Straße benannt worden, und nur dieser gab der Straße, die von ihm bis zur Mitte der Stadt führte, seinen Namen.

In der ältesten Zeit des nachrömischen Wien reichte die jetzige Rotenturmstraße nur so weit, als des Turmes Schatten in der Morgensonne fiel, nur bis zum Fleischmarkt. Weiter hinauf bis zum Lichtensteg hieß sie »Haarmarkt« und von da bis zum Stephansplatz, beziehungsweise zum St. Stephans-Freythof »Bischofsgasse«.

Lange nachdem der Taktschritt römischer Kohorten verhallt und ihr schreckliches Marschlied: »Mille decollavimus« Tausende haben wir erschlagen (geköpft). verklungen, war es still vor den Trümmern der Wehrmauer des römischen Standlagers, und die wenigen Häuschen, die den Grundstock der jetzigen Rotgasse bildeten, waren öde.

Wo Vindobona gestanden, war ein Kreuzweg für die Völker auf ihrer großen, langen Wanderung gegen Westen und Süden geworden, und das Drängen und sich Hinschieben wilder Kriegerhorden mit ihrem Troß, mit Frauen, Vieh und Wagen, ging jahrhundertelang über die Stelle hin, an der schon Wiens Wiege stand.

Und da, wo Händler und Krämer und Kauffahrer von ihren Donauschiffen an das Land stiegen, wo manche Abenteuerfahrt auf dem Wasser im verlassenen römischen Hafen ihr Ziel fand, entstanden Neubesiedlungen, Warenniederlagen und Wirtschaftshilfe, die vorwiegend von den Franken gegründet wurden.

Das alte Castrum, die Urstadt Wiens, war schon bis zum späteren Graben, der jetzigen Bognergasse und dem Tiefen Graben erweitert und mauerumgürtet worden, als diese Siedlung an der Donau vor der Stadtmauer groß wurde. Leopold der Glorreiche umgab zu Ende des 12. Jahrhunderts auch diesen neuen Stadtteil mit Mauern, und wo der alte Weg, der von der Donau aufwärts führte, das Ufergelände verließ, wurde ein fester Torturm in die Mauer gestellt. Was der Stephansdom unter den Kirchen, das wurde nun jener unter den Stadttürmen: ein Wahrzeichen Wiens. Fünf Stockwerke hoch, war er massig und fest. Sein hohes Ziegeldach hatte die Form des Daches der historischen Kirche in Perchtoldsdorf, und seine Wände waren mit großen, hochroten Gevierten auf blaßrotem Grunde bemalt. So stand er da, wie ein ritterlicher Wächter, angetan mit rotem Panzer, und sah hinaus auf Fluß und Au, von wannen Feinde kommen konnten.

Bald erschien den Wienern ihr Wächter zu schmucklos. Sie setzten ihm unter dem Dache, an den vier Mauerkanten, spitze Türmchen an.

Vor vierhundert Jahren war das modern und kokett, so etwa, wie wenn man heute einem Schoßhündchen ein rosafarbiges Halsband mit einer großen Masche umbindet. Und wie man vor fünfzig Jahren noch auf das saffianlederne Halsband eines Lieblingshundes schrieb: »Ich heiße Ami«, schmückten die Wiener den Turm mit heraldisch bunten Wappen, deren fünf sie an seiner Front unter dem Dachgesimse malen ließen. Wie Kämpen alterssiech werden, so wurde es auch der Rothe Thurm. Und alt geworden, stand er dem jungen Volke im Wege. An seine Stelle kam ein Rother-Thurm-Ersatz, ein kleiner, der nicht leuchten durfte, ein Turm, der weniger ritterlich, der mehr demokratisch war. Ober seinem Tor aber wurden fein säuberlich fünf Wappenschilder gemalt, und zu ihnen kamen noch Banderolen und gemalte Ritter. Ohne ein wenig Heraldik ging es doch nicht!

Später wurde unweit des jungen Turmes ein Rother-Thurm-Surrogatchen gebaut ...

Der Torbogen des alten Turmes barg noch etwas den Wienern Wichtiges: das Probemaß für Weinstecken. Schon im 13. Jahrhundert war in Wien der Weinbau die Ursache des Wohlstandes und – der Wohlbeleibtheit. Wer Wein schenkte, der trank ihn auch, fast jeder fünfte Hausherr war Leutgeb, und die Weinrieden lagen in großem grünen Kranze um die Stadtmauer.

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Im Tore des Rothen Thurmes hing eine Zeitlang, es war im 16. Jahrhundert, ein Kuriosum – ein Erziehungsmittel für Erwachsene. Es war dies eine große, mächtige Speckseite. Es war verlautbart, daß jener Ehemann, der daheim selber das Hausregiment führe und nicht unter seines Weibes Fuchtel stünde, den Bachen Aus dem mittelhochdeutschen Bache, Mutterschwein, Speckseite. (Pachen) von der Mauer herunternehmen und als sein Eigentum nach Hause tragen dürfe. Die Speckseite war gewissermaßen eine Belohnung für tapferes Verhalten vor dem Feinde und ein Ansporn für Ehemänner, das akrobatenhaft-schwierige Kunststück zu erlernen, die Hose selber anzubehalten. Naive Ehemänner, die durch das Tor gingen, warfen schweigend einen Blick begehrender Sehnsucht nach dem Bachen; abgehärtete aber gingen unter dem Spitzbogengewölbe durch, taten ganz gleichgültig, als wüßten sie von nichts, und blickten gar nicht nach der Speckseite.

»Es sind,« sagt eine alte Chronik, »während der Bachen im Thore hing, weniger Ehen denn sonst geschlossen worden, und die hohe Klerisei war sehr bekümmert. Viele, so verlobt gewesen, sind in Zwietracht auseinandergegangen, und die Weiber sind ohne Maß zanksüchtig und hoffärtig geworden ...«

Und an den alten Hagestolzen, die Wien damals aufwies, soll diabolische Heiterkeit bemerkt worden sein, und sie sollen beim Leutgeb nächst dem Rothen Thurme greulich gesungen und gezecht haben.

Da ließen sich Stimmen im Volke vernehmen, die fragten warum denn keiner von den Ratsherren, die doch den Bachen aufhängen ließen, ihn herabgeholt habe.

Und endlich wollten sie die Speckseite ohne jegliche Zeremonie nächtlicherweile von der Wand nehmen lassen, »zu dem sich denn doch ein ganz junger Bogenschütze von der Torwache hergegeben«, der die Speckseite von dem Tor entfernte, durch das einst der grimme Hagen und die Nibelungen geritten.

Die Wiener raunten nachher, daß manch Weib eines Ratsherrn ein Stückchen der Schwarte als Amulett unterm Busentuch trage. Die Speckseite war eine Apotheose der Macht der Frauen. Lange Zeit noch rumorte die Erinnerung an sie in den Gemütern der Wiener. Sagen rankten sich um sie, und später wurde zum Andenken an den Bachen – wohl auf Anstiftung der Weiber – eine Speckseite aus Holz geschnitzt, realistisch bemalt und an Stelle der echten gehängt.

Der Spaß mit der Speckseite – als solcher wurde er angesehen – war nicht Wiener Monopol. Hans Sachs erwähnt eines Bachens, der im Deutschordenshause zu Nürnberg hing, und in der Bretagne und in Essex finden wir feiste Speckseiten, mit Heiratsgedanken zart durchwoben, an Wänden hängen.

Woher diese Sitte stammt und welche Bedeutung ihr zukommt, ist bislang nicht restlos aufgeklärt; sie dürfte in das vorchristliche Altertum zurückreichen.

Es ist selbstverständlich, daß sich nahe dem Landungsplatze der Schiffe, die von oben kamen, Einkehrwirtshäuser auftaten, und es fanden die Wienfahrer unweit vom Rothen Thurm mehrere gastliche Stätten. Das bedeutendste Gasthaus war der »Steyrerhoff«, an Stelle jenes Hauses, das jetzt noch diesen Namen trägt. Er gehörte 1421 dem Sohne Ulrichs von Steyer und 1476 dem Jörg und der Margarethe Prewes. Am 12. Juni 1495 war der Steyrerhoff der Schauplatz eines Gefechtes, das abgedankte Soldaten inszenierten. Der Stadtrat mußte Sturm läuten lassen und die Dämpfung des Exzesses durch Waffengewalt herbeiführen. Unweit des Steyrerhofs stand das Haus »Zur goldenen Sonne«, ein hohes, schmales Haus, in dem ein beliebter Bierschank war. Am 16. September 1590 warf ein Erdbeben das Haus nieder, und ein Knecht, der unter dem Dachboden schlief, fiel in seinem Bette ins Erdgeschoß. Der Wackere blieb unversehrt und »es geschah ihm kein Leid«.

Ein interessantes Haus – es hieß »Zum güldenen Hirschen« – stand an der Ecke des Fleischmarktes und des Haarmarktes, das Haus des Ratsherrn Matthias Heuperger. Darinnen wohnte einst Paul Khölbl, der Krakauer Steinmetz und Erbauer des Augustinerganges in Wien. Er beherbergte einen illustren Freund, den Doktor Faust, und in der Wohnung Khölbls soll das sagenumwobene »spukhafte Bankett« stattgefunden haben.

Die Gegend bei dem Rothen Thurm und die älteste Rothethurmstraße, deren erster Name, ihrer Steilheit wegen, »Am Steig« lautete, boten ein reizvolles Bild mittelalterlicher Bauweise.

Warum gerade der Rothe Thurm vor allen andern den Wienern so lieb war?

Bei ihm hatte sich nichts Wichtigeres ereignet als bei den andern Türmen. Diese hielten den Feinden öfter Stand als er und sahen mehr Kämpfe, bei denen es sich um das Wohl oder Wehe der Stadt handelte. »Kleider machen Leute«, und der Turm an der Donau trug ein rotes Wams.

Nicht das Rot der Henkerstracht, nicht das politische Parteirot gefiel den Wienern. Was den Rothen Thurm volkstümlich machte, war das helle Rot, das Nerven erregt, das Rot der Ostereier und der Zentifolie. Es strahlte Freude in naive Gemüter.

Daß wir doch auch noch solche hätten!


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