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Die Rotgasse

Wege sind älter als die Häuser, zu denen sie leiten, Straßen sind älter als die Städte, zu denen sie führen. Bauten schießen wie kantige Kristalle an die Linien der Straßen – am liebsten an gerade – und das Bleibende im langsamen steten Wechsel der Bilder einer Stadt sind nicht die massigen, hochragenden Gebäude mit felsenartiger Rustika, nicht Kirchen und Paläste, sondern das Unmaterielle, das Stofflose, das zwischen den Häuserzeilen liegt, die Straße.

Wie wir in einem jugendlichen, einem Knabengesichte die Züge der Ahnen des Kindes zu erkennen vermögen, so können wir im Bilde einer Stadt tausendjährige Straßenzüge zwischen jugendlichen, modernen Häusern finden.

Wir erkennen noch das uralte Wien, nicht an seinen Häusern, aber an seinen Straßen.

Eine der ältesten der nachrömischen Zeit ist die Rotgasse. Sie hat heute als Gasse keine praktische Bedeutung, keine Existenzberechtigung. Sie entlastet die nahe Rotenturmstraße nicht bezüglich des Wagenverkehres, weil sie schmal ist, sie nimmt vom Gedränge der Fußgänger in jener Straße nichts auf sich, weil das Geschäftsleben in ihr zu unbedeutend ist, und sie verbindet keine bedeutsame Anfangstelle mit einem Zielpunkte von öffentlicher Wichtigkeit.

Die Rotgasse hat uns vor kurzer Zeit noch angemutet wie ein rüstiger Greis, ein Großvater im Austragstübchen, der mit zitternden Händen noch geschäftig ist.

Jetzt hat man dem Greis neue Kleider angelegt, aber sie passen nicht überall.

Die Rotgasse ist eine Erbschaft aus alter Zeit, die den Architekten fast eine Verlegenheit bedeutet. Wir haben sie als Erbstück aus Römerhänden übernommen, und doch hat keiner der Bewohner des Castrum Romanum auf dem späteren »Hohen Markt« sie gesehen.

Das römische Standlager wurde gegen Südosten von einer starken Festungsmauer begrenzt, die mit der heutigen Rotgasse parallel lief.

Die Häuser, die auf der Seite des Hohen Marktes die Rotgasse bilden, sind auf dem Fundament der Festungsmauer erstanden. Als die Römer bauten, war das Terrain anders als heute. Hügelböschungen waren nicht abgeschliffen, die Steilheit der Wege nicht durch Regulierungen gemäßigt, und die Donau floß in breitem Zuge am Fuße des hohen Hügels, auf dem das Castrum stand, dort, wo heute die Kohlmessergasse ist. Der Hafen der römischen Donauflottille schnitt tief ins Gestade ein, und seine Wasser bespülten die Stellen, wo heute der Hafnersteig und der Fuß des Laurenzerbergs ist.

Und wo man den »Doppelschlag« im Kaffeehause Siller bekommt, haben vor 2000 Jahren die römischen Widderschiffe geankert ...

Die Straße, die vom Hafen aufwärts führte – heute heißt sie Rotenturmstraße – hatte zu ihrer rechten Seite den jäh aufsteigenden Festungshügel, der an seinem Steilrande die massige Schutzmauer des Lagersteiges trug, und links von ihr breitete sich ödes, baumloses Gelände, das schußfreie Glacis der Römerburg, aus, das von den Zenturien und Kohorten als militärischer Übungsplatz benützt wurde.

Aber an der andern Seite der Straße, unter der Wallmauer, sorgten verständnisvolle Geschäftsleute, wie der alte Jude Elimelech, für des Gaumens Notdurft derer, die des steilen Weges wandelten. Da hatten Händler ihre Hütten und Verkaufsstände und boten gebratene Fische, Roggen- und Weizenbrote feil, verkauften Obst und hatten für zahlungskräftigere Feinschmecker Wein, der in langen Wagenzügen vom Süden in das Standlager geführt wurde.

Da stand der alte Jude Elimelech in seinem Zelte und neben ihm ein Assyrer, der Honigkuchen feilbot, und da standen römische Invalide, die sich von den Soldaten der Flottille erzählen ließen, was Neues sich in Sirmium und Carnuntum ereignete.

Die Verkaufsstände nahe der Lagermauer waren die ersten Bauten in der jetzigen Rotenturmstraße, und ihnen folgten nach dem Abzuge der Römer, aber vor der ersten Erweiterung der nie ganz verödeten Stadt, feste Wohnhäuser.

Ihre Fenster waren nach der alten Straße gerichtet, und ihre baulich primitiven, gerümpelreichen Rückseiten sahen auf die ganz nahe Böschung des Stadtplateaus und auf die Mauer, die nun die Grenz- und Wallmauer einer Christenstadt geworden war.

Als Herzog Jasomirgott beiläufig um das Jahr 1170 Wiens Grenze bis zur heutigen Riemergasse und dem jetzigen Dominikanerplatz hinausschob und dort eine neue Stadtmauer baute, wurde die römische Mauer am Hügelrande niedergerissen.

Da wurde die Rotgasse geboren.

Die hinteren Teile der Häuser in der (späteren) Rotenturmstraße wurden zu Fassaden gemacht oder an sie neue Häuser angebaut, deren Stirnseiten nach der nunmehrigen Altstadt sahen.

So war die eine Seite der Rotgasse hergestellt.

Die Bauten auf der andern, der Altstadtseite, wurden hügelaufwärts gebaut, und so kam es, daß man in einem dieser Häuser von der Rotgasse aus auf einer schmalen, finsteren Stiege zwei Stockwerke hoch hinansteigen konnte, um dann in einen altertümlichen Hof des Gebäudes hinauszutreten.

Es war dies unter anderm der Dreifaltigkeitshof hinter der Ruprechtskirche, beziehungsweise das Haus des berühmten Dr. Wolfgang Laz, der Lazenhof.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, wie einige Wien-Forscher es getan, daß die Rotgasse eine Wallgasse gewesen sei. Wallstraßen begleiteten die Stadtmauern immer an deren inneren Seiten, dort, wo in mittelalterlichen Städten der hölzerne Wehr- oder Mordgang es den Bogen- und Armbrustschützen ermöglichte, durch die Schießscharten an der Zinne der Stadtmauer den Feind zu beschießen.

Das konnte man in der Rotgasse nie, weil sie nicht im Castrum vindobonense lag und weil sie erst durch die Demolierung der römischen Festungsmauer tief unter dem Niveau des Castrum entstand.

Der alte Jude Elimelech, der an der Straße Brot feilbot, mag alttestamentarisch angemutet haben; die Soldaten schrieben ihm absonderliches Können zu, und seinen Volksgenossen war er unheimlich. An einem Morgen – so erzählt eine alte Sage –, es war ein besonderer Morgen, der Morgen des Tages, an dem Christus geboren ward, opferte die Römerin Livia, das schöne Weib des Präfekten, als sie in der rauhen Fremde, wo graue Nebel durch düstere Wälder zogen, hinwelkte, den Hausgöttern.

Ihr Favoritpenate war eine kleine chryselephantine Statue, ein Bild ihres Großvaters.

Livia sah, daß das goldene Schwert der Hand des elfenbeinernen Kriegers entfallen war. Ein böses Omen! Livia erschrak. Der Auguren Erklärung befriedigte sie nicht; Livia befahl, Elimelech, den alten Wahrsager, zu holen und ihn durch eine kleine Pforte im Hinterhaus insgeheim zu ihr zu führen. Es geschah. Bald stand der Alte vor der schönen Römerin. Livia befragte ihn um die Bedeutung des Vorfalles, der sie erschreckt hatte. Ohne nachzudenken antwortete Elimelech: »Stern, der über den kalten Wäldern funkelt, höre deinen niedrigsten Knecht! Bleiche Perle im Haarreifen der Venus! Vernimm die Worte deines niedrigsten Knechtes. Heute ist Großes geschehen! Der unbekannte Gott ist geboren worden aus dem Geschlechte Davids, des Juden.« Livia lächelte mit welken Lippen: »Was könnte der Unbekannte, das Kind, den Penaten anhaben? Wessen Schwert könnte Götter bekriegen?«

»Kein Schwert. Des neuen Gottes Liebe wird Götter, wird Jahrtausende besiegen, und der Sieger wird Jesus heißen.«

Am nächsten Tage wurde Elimelech hinter seinem Verkaufszelte an die äußere Seite der Halbmauer genagelt und starb. Seine Lippen sollen das Wort »Jesus« geflüstert haben. Daß Livia und Elimelech gelebt haben und daß er an die Mauer genagelt wurde, mag ja wahr sein. Die Sage aber schuf im ältesten Wien die Redensart: »Wo der Jud' Jesus sagt«, eine Phrase, die als Kritik gebraucht wurde, wenn jemand von einem Orte gar zu Unwahrscheinliches erzählte ...

Im 15. Jahrhundert war an einer Ecke des Lichtensteges (die »am Brezeneck« genannt wurde) und der Rotgasse ein kleines, sehr schmales Gäßchen, das die Reffel-Luke hieß und das bei der Straßenregulierung 1475 verschwand.

Die Reffler handelten mit den verschiedensten Kleinwaren, mit hölzernen Schaufeln, Rechen, Sieben, Werkzeugen für Schuhflickereien, die sie auf einem hölzernen Traggestell mit kleinen Fächern und Haken zum Aufhängen allerhand kleiner Geräte feilboten. Das heute noch gangbare wienerische Wort »Graffelwerk« kommt von der Bezeichnung dieser Ware her, die man kurzweg auch Gereffel benannte.

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Ein Haus, das gut in die Rotgasse paßte und ihr eine altertümliche und gemütliche Stimmung gab, war das Taschnerhaus, das am Eingange der Rotgasse in der Nähe der Reffel-Luke stand und, weit in den Straßenraum des Lichtenstegs vorstehend, die Passage arg beengte. Es wurde 1842 abgebrochen. In seinem Erdgeschoß waren vier kleine Verkaufsgewölbe und im ersten Stockwerke zwischen zwei breiten Erkern ein rotes, weit vorspringendes Blechdach.

An seiner Front gegen den Lichtensteg aber trug das Haus im zweiten Stockwerk eine Steinskulptur, ein Wahrzeichen Wiens: den oft abgebildeten Engel mit den zwei Wappenschildern.

Heute können wir ihn an einer Ecke des alten Rathauses sehen. Das Steinbild dürfte um 1430 entstanden sein. Es gliedert sich weder der Rathausecke harmonisch an, noch war es mit der Architektur des Taschnerhauses gut verwoben, und es ist anzunehmen, daß die Skulptur für einen uns unbekannten Zweck und Ort geschaffen worden ist. Das Wappen Wiens und das des Landesfürsten erscheinen vom Engel behütet und mit ehernen Ketten aneinandergeschlossen, auf ewig verbunden. Es ist zu verwundern, daß zur sinnigen Zeit, in der die Postkasten grau gestrichen wurden, nicht gefühlvolle Ikonoklasten die beiden Wappen voneinander trennten!

Am Haarmarkte, mit dem Hinterhaus gegen die Rotgasse gelegen, war die seinerzeit berühmte, vielmehr berüchtigte Badestube der behäbigen Frau Berliebin. Dieser Badestube wird bereits um 1309 Erwähnung getan, und es wird berichtet, daß schon im Jahre 1342 ein Schöpfwerk, welches das Bad mit Wasser versorgte – ein Radbrunnen – gegen die Radgasse hin gelegen war.

Die Rotgasse hieß nämlich damals nach dem Rade des Brunnens Radgasse, ein Name, der später in Rotgasse verdorben wurde.

Solche Brunnen mit großen Rädern, wie man sie zum Beispiel im Waldviertel jetzt noch findet, scheinen damals in Wien sehr selten gewesen zu sein.

Die Radgasse, beziehungsweise Rotgasse führte übrigens nur in ihrem unteren Teil (vom Fischhof bis zum Bergl) diesen Namen, während der obere Teil dieses Verkehrsweges bis gegen den Lichtensteg zu nach einer dort bestandenen Auskocherei lange Zeit hindurch Kochgassel genannt wurde.

Was Chronisten nicht sagen, sagen Steine, und was Steine nicht sagen, sagt die Phantasie. Sie ist eine schlechte Wahrsagerin, aber sie sagt Wahres, wenn sie Anzeichen von Vergangenem recht benützt und Imponderabilien richtig empfindet. Klio stößt nicht immer in ihre Tuba, sie raunt zuweilen.

Sie schreibt nicht immer mit großen Lapidarbuchstaben; oft kritzelt sie mit krauser Doktorenschrift. Dann ist Phantasie allein imstande, die Geschichtsindizien wahrzunehmen, sie richtig zu deuten.

Mit ihrer Hilfe können wir aus Klios geheimnisvollem Flüstern vernehmen, wie alte Straßen entstanden sind.


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