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24. Das Rennen beginnt

Die überraschende Mitteilung des Skippers, daß er noch tausend Gallonen Petroleum an Bord des ›Erik‹ habe, verlangte sofortige Aufklärung.

»Als Dinger Brothers mir das Kommando anboten,« sagte Pike, »bestand ich darauf, einen Süßwassertank direkt unter meiner Kajüte zu bekommen. Da damals die Mannschaft noch nicht beisammen war, hatte keiner von meinen Leuten eine Ahnung von der Existenz dieses Tanks. Ich habe ihn mit Petroleum gefüllt und ein Schloß aus Schmiedestahl davor machen lassen. Den Schlüssel dazu trage ich um den Hals.« Der Skipper griff in sein Flanellhemd und holte einen langen Schlüssel hervor. »Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft, meine Herren!«

»Und zu Menons Schicksal,« rief der Doktor.

Von diesem dramatischen Augenblick an herrschte emsigste Tätigkeit und fieberhafteste Eile. Der »Süßwassertank« war voll. Sein Inhalt wurde teils in verschiedene Behälter abgezogen, teils in die Hundertgallonentrommel des ›Polarstern‹ gefüllt.

»Jede Minute ist kostbar,« war die Losung, die der Doktor ausgegeben hatte.

Normann und Rudd verluden in aller Eile Proviant. Nur konzentrierteste Nahrung durfte mitgenommen werden. Schokolade, Pemmikan, Zwieback bildeten im wesentlichen die Diät. Es galt ein Rennen. Die Möglichkeit, auf dem halben Wege in der Passage überwintern zu müssen, hieß es mit in Kauf nehmen.

»Wenn wir stecken bleiben, werden wir eben von der Hilfe der Eskimos abhängen,« erklärte Dr. Barlow. »Wir dürfen jetzt nur an die Geschwindigkeit denken.«

In nicht ganz vierundzwanzig Stunden war der ›Polarstern‹ startbereit. Ein neues Segel war aus dem Leinwandvorrat des ›Erik‹ geschnitten worden, und ein Reservemast lag an der Reling angetäut. Die Kajüte war mit Petroleumkanistern angefüllt. Jeder verfügbare Zoll auf Deck war mit Pemmikankisten und Ausrüstungsgegenständen bedeckt. Jedermann hatte eine Reservegarnitur Kleidung. Nicht eine Unze mehr befand sich an Bord, als unentbehrlich war. Sogar die Navigationsausrüstung des Skippers bestand nur aus einem kleinen Sextanten und ein paar nautischen Tabellen. Die Apotheke des Doktors war gefährlich sparsam bemessen. Boggs wurde zu seinem Leidwesen gezwungen, ein schönes Paar Walroßhauer, das er aufgehoben hatte, zurückzulassen.

Der Skipper bestand noch darauf, daß vor der Abfahrt alle Vorsichtsmaßregeln zur Sicherung des ›Erik‹ getroffen wurden. Mittels eines Wurfankers wurde er gewarpt, bis er auf dem hier ganz weichen Sandboden aufsaß. Da um diese Zeit Ebbe war, konnte er dann leicht reiten; und das seichte Wasser gab einige Gewähr dafür, daß nicht Eis auf ihn treiben würde. Reserveleinen wurden von großen Felsblöcken am Strand zu den Dwarssalings gezogen für den Fall, daß er vom Wintereis Schub bekommen sollte. Alle Ventile wurden einzeln visitiert und die Maschinenteile gut geschmiert.

»Es ist möglich, daß wir zurückkommen,« sagte der Skipper ein wenig nachdenklich.

Um Mitternacht war alles an Bord.

Boggs ließ seine Maschine anspringen; Rudd hievte die Leinen ein; und der ›Polarstern‹ sauste los. Mit seinem neuen Propeller hatte er im Nu gewendet, und fünf Minuten später fuhr er durch das Felsentor des ›Erik‹-Hafens.

Gegen Morgen sprang eine scharfe Brise auf, gerade als der ›Polarstern‹ in die Viktoriastraße einfuhr. Zum Glück war die See offen. Dem bißchen Eis, das da war, konnte leicht aus dem Wege gegangen werden. Sofort wurde der Motor abgestoppt und Segel gesetzt. Das weiße Segel füllte und blähte sich, und der ›Polarstern‹ sprang vorwärts, als wäre er ein lebendiges Wesen.

»Haut ab wie ein Torpedoboot,« schrie Rudd voller Bewunderung.

Tag für Tag, eine ganze Woche lang, blies der starke Wink brausend aus Nordost. Und Tag und Nacht fegte der ›Polarstern‹ vorwärts. Halt wurde nicht einmal zum Süßwasserholen gemacht. Der schmale Vorrat in den Bootsfässern mußte schließlich in sehr kleine Rationen geteilt werden. Kein Halt wurde gemacht, Fleisch zu erjagen, obgleich man fast allstündlich Seehunde und Walrosse auf treibenden Schollen sichtete. Kein Halt wurde gemacht, die von dem unaufhörlich über das ganze Boot spritzenden Gischt durchnäßten Kleider oder die schimmelnden Kojen und Kasten in der Kabine oder die Wasser saugende große Zwiebackkiste zu trocknen. Ihr Inhalt wurde so, wie er war, vom unerbittlichen Doktor seinen Gefährten ausgeteilt, und sie verschlangen den Fraß voller Ekel. Grimmige Entschlossenheit war die einzige Möglichkeit, das Rennen durchzuhalten und zu gewinnen.

»Man kann nie sicher sein,« wiederholte der Doktor immer und immer wieder. »Vielleicht schon heute – vielleicht erst morgen – jeden Augenblick kann der herrliche Wind abflauen. Eis kann kommen. Dann müssen wir still liegen und warten. Die Sekunden wahrnehmen, Herrschaften! Die Sekunden wahrnehmen!«

»Ja, Doktor, ja!« murmelten sie durch die Zähne, die sie aufeinander bissen, um sie nicht klappern zu lassen. Rudd bediente das Rad mit Händen, deren Knöchel vor Kälte und Anstrengung weiß waren. Boggs lag als ein nasser, bewußtloser Klumpen auf der Leeseite, wo er nach einer harten Nacht des Steuerns ein wenig Schlaf suchte.

Die Passage durch den Coronation-Golf war voller Eis. Glücklicherweise aber hatten die Nordwinde schon das Feld zum größten Teil nach Süden zusammengeschoben, wodurch eine schmale Fahrtrinne entstanden war, und durch diese raste der ›Polarstern‹, als wären alle Eskimoteufel des Nordlands hinter ihm her. Die Einfahrt in den Coronation-Golf wurde mit einem Aufenthalt zum Süßwassereinnehmen gefeiert. Normann schoß bei der Gelegenheit ein Renntier, und so konnte zum erstenmal seit der Abfahrt vom ›Erik‹-Hafen in aller Bequemlichkeit ein warmes Essen verzehrt werden.

»Ich hoffe das allerbeste,« sagte Dr. Barlow. »Wir sind bis jetzt so schnell vorwärtsgekommen, daß es schon fast an ein Wunder grenzt.«

Ein Eisschub am Ausgang des Golfs setzte der Fahrt des ›Polarstern‹ fast ein Ende. Der Bleiflicken, mit dem Rudd den ›Polarstern‹ seinerzeit wieder in Ordnung gebracht hatte, mußte erneuert werden, und das Bettzeug in der Kajüte war voll Wasser gelaufen. Aber die vielen harten und entbehrungsreichen Wochen hatten die Reisenden gelehrt, jeden Unglücksfall in Ruhe hinzunehmen. Der Schaden wurde ohne überflüssige Worte und ohne Aufregung wieder gut gemacht und das Boot wieder weitergejagt.

An einem der nächsten Tage erwachte Rudd mit einem eigenartigen Schwindelgefühl. »Na ja, kein Wunder bei der Schufterei!« war sein erster Gedanke. In der Tat, die Wochen nicht endender Plackerei und Entbehrungen hätten eine weniger kräftige Gesundheit als seine längst schon unterminiert.

Da steckte Dr. Barlow den Kopf durch die Luke und rief: »Raus, Herrschaften, und seht euch das Polarmeer an.«

Der ›Polarstern‹ war endlich aus dem gefährlichen Irrgarten des Archipels herausgekommen und hatte nun die letzte Etappe seines großen Rennens vor sich. Nach Norden dehnte sich, so weit das Auge reichte, offenes Wasser. Im Süden lag die niedrige, öde Küste Nordamerikas, eine Wildnis von Tundren und wirrem Gebüsch. An vereinzelten Stellen standen untersetzte Baumstämme – verkrüppelte Sendboten ihrer größeren, stärkeren Brüder weiter unten im Süden.

Kapitän Pike schüttelte dem Doktor die Hand und rief: »Barlow, Sie sind ein großer Mann. Das heißt, daß wir in einer einzigen Saison durch die Nordwestpassage gekommen sind, was bisher noch keinem lebenden Menschen gelungen ist. Sogar Amundsen, der sie entdeckt hat, mußte auf halbem Wege überwintern.«

Der Doktor lachte. Sie hatten das offene Meer vor sich und sahen nichts, was sie hindern konnte, den Rest der Reise schnell und sicher zurückzulegen. Hinter Point Barrow mußte der ›Polarstern‹ bestimmt einem Zollkutter oder einem Walfischfänger begegnen, der sie aufnehmen und nach Süden bringen würde. Und für den Fall, daß es nicht so kam, blieb ihnen die Möglichkeit, in einer der nördlichen Handelsniederlassungen soviel Brennstoff zu kaufen, daß sie bis Skagway hinunterkommen und dort den Herbstdampfer nach Seattle erreichen konnten.

»Stellen Sie sich nun vor, Normann, wir werden am Anlegeplatz warten, wenn Menon einfährt.«

Normann grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Ich darf mir das nicht zu lebhaft vorstellen, sonst explodiere ich noch vor lauter Freude.«

Alles ging einige Tage lang gut weiter, bis man Kap Bathurst umfahren hatte. Dann erhob der Wind sich wieder. Aber diesmal war es keine starke, hilfreiche Brise, sondern eine Reihe von Wintersturmstößen, die das Meer in riesige, schäumende Wellen zerpeitschte.

»Wir müssen beidrehen,« entschied der Doktor, und der Kapitän war einverstanden.

Aber die Küste im Süden lag unter dem Winde. Sie war kaum zehn Meilen entfernt und bot mit ihrem schnurgeraden Kiesstrand nirgends Schutz. Daher wurde aus dem Reservemast, den zwei Riemen und Leinwand schnell ein Seeanker zurecht gemacht. Die ganze Nacht durch ritt der ›Polarstern‹ Bug zur See vor dem Anker.

Normann hatte am nächsten Morgen gerade die Vormittagswache übernommen, als Dr. Barlow den Skipper am Arm packte und erregt gegen den Wind deutete. »Eis!« Er mußte schreien, um durch den Wind gehört zu werden.

Ein Rudel kleiner, aber gefährlicher Schollen, die der Sturm von dem großen Polarpack heruntergetrieben hatte, fegte auf das hilflose Boot los. Nach einer Stunde hatten sie die Seeankerleine zerschnitten.

»Los, Boggs!« gellte der Doktor.

Der Motor sprang an, und der ›Polarstern‹ riß vor der Schar weißer Teufel aus.

Kapitän Pike schüttelte den Kopf. »Es ist das einzige, was wir tun können: nach Westen laufen und zu entkommen suchen. Aber wir haben verdammt wenig Aussicht.«

Fast noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, wurde das tiefe Dröhnen der Brandung durch das Heulen des Sturmes und das Krachen des Eises hörbar. Näher und näher trieb das kleine Boot zur Küste, verfolgt von den Eisschollen. Um es noch schlimmer zu machen, jagten mit jeder schweren Bö Schneeschauer herunter, die See und Land den Augen verbargen. Die Wut des Sturmes schien sich mit jedem Stoß zu verdoppeln. Schwarze Wogen, zweimal so hoch als der Mast der Barkasse, türmten sich auf.

Plötzlich krängte der ›Polarstern‹ nach Backbord und schien sich senkrecht auf die Nase zu stellen. Hölzer krachten, er war gestrandet.

»Springen!« gellte eine Stimme. Der Doktor konnte sich gerade noch rechtzeitig vom Rad wegschleudern, um der nächsten berghohen See zu entgehen, die ihn gegen das Wrack gepreßt und zermalmt hätte.

Rudd machte einen verzweifelten Versuch abzuspringen, aber die Welle hatte ihn schon gepackt. Die Lungen mit einem letzten wilden Atemzug zum Bersten gefüllt, sank er. Eine Ewigkeit wurde er hilflos zappelnd im Maelstrom der Brandung umhergewirbelt und gezerrt. Endlich fanden seine Füße Grund. Er bohrte die Fußspitzen ein und hielt sich gegen die zurückflutenden Wassermengen. Einen Augenblick später hatte er Kopf und Rumpf frei. Er stand auf und stolperte den Strand hinauf. Noch zweimal begruben ihn schwere Seen unter sich. Aber er kämpfte tapfer und schließlich fiel er nahezu bewußtlos vor Kälte und Erschöpfung auf den kahlen, schneebedeckten Strand. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben, sondern blieb betäubt und zitternd in dem nassen Schlick liegen.


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