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12. Zweifel

Noch nie in seinem Leben war Rudd gezwungen gewesen, so schnell zu denken. So mancher wäre in dieser fürchterlichen Lage zu bestürzt gewesen, um überhaupt handeln zu können. Aber Rudd konnte der Gefahr ins Auge sehen, ohne die Nerven zu verlieren. Sein Hirn schien in Flammen zu stehen. Blitzartig erfaßte er, was für entsetzliche Folgen ein Verlieren der Barkasse nach sich ziehen mußte.

Im Augenblick hatte er die Entfernung zwischen ihm und dem Motorboot abgeschätzt. »Zirka vierhundert Yards,« murmelte er und klappte den Aufsatz auf. Der ›Polarstern‹ bewegte sich noch nicht vorwärts, Reggie stand am Rad und manövrierte an der Kupplung. Dies und das wirbelnde Wasser unterm Heck bewiesen, daß er bemüht war, das Boot zu wenden und den Bug gegen die offene See zu richten.

Verzweifelt schwankte Rudd. Auf diese Entfernung konnte er Caverly schwer verwunden oder sogar töten. Und der Gedanke, einen Mitmenschen zu morden, war ihm unerträglich.

»Es ist, um die anderen zu retten,« drängte ihn eine innere Stimme.

»Aber wenn er das Boot in Wirklichkeit doch nicht stehlen will,« flüsterte sein Gewissen.

Reggie hatte sichtlich Schwierigkeiten mit der Kupplung. Er beugte sich hinunter, bis nur noch seine Schulter über dem Süll des Bootes zu sehen war. Rudd blickte zurück, um zu sehen, wie es um Dr. Barlow stand. Der vorderste Bulle war keine zwanzig Yards mehr von ihm entfernt. Der Doktor hatte sich aufgestellt und sah der Gefahr unerschütterlich ins Auge. Rudd nahm das Gewehr an die Wange, holte tief Atem und nahm Caverlys Schulter aufs Korn. Seine Hand war so ruhig, als schösse er im Stand auf die Scheibe. Sein heruntergezogenes Lid zitterte nicht. Dann gab er Feuer. Sofort schob er eine andere Patrone in die Kammer. Noch ein Schuß, dachte er, und selbst wenn er nicht traf, würde der ohnedies furchtsame Reggie von seinem törichten Beginnen ablassen. Aber als er zum zweiten Schuß anlegen wollte, sah er, wie der Junge im Boot sich langsam aufrichtete, seine Hand auf die Schulter schleuderte und dann in die Kockpitt zusammenbrach. Die Kugel hatte ihr Ziel nicht verfehlt.

»Getroffen!« rief Rudd, während er sich umdrehte, um sich an seine zweite Aufgabe zu machen. »Hoffentlich geht's mit dem nächsten Schuß ebensogut.«

Wieder stellte er den Aufsatz, diesmal auf tausend Yards. Der erste der Bullen war jetzt so nahe an Dr. Barlow, daß es sehr gefährlich war zu schießen. Rudd durfte nur hoffen, den Angriff so lange aufzuhalten, bis er vorgelaufen war und die anderen Tiere auf eine kürzere Distanz erledigen konnte.

Er warf sich in den Schnee und wandte wieder seine erprobte Methode an, tief Atem holen, die Luft anhalten und eher mit einem Zusammenziehen der ganzen Hand zu feuern als richtig abzudrücken. Unmittelbar nach dem Schuß hob er sein Glas an die Augen und konstatierte mit Freude, daß der attackierende Bulle den Schädel hochwarf, wahrscheinlich durch das Pfeifen der vorbeisausenden Kugel aufgeschreckt – dann spritzte dicht neben dem Tier Schneestaub auf.

Rudd sprang auf und raste den Abhang hinunter. Bevor er zweihundert Yards gemacht hatte, wandte der Bulle seine Aufmerksamkeit wieder Dr. Barlow zu. Diesmal hatte er die drei anderen bei sich, denen die Unerschrockenheit ihres Führers Mut gemacht hatte. Zweimal mußte Rudd noch nieder und feuern, bevor er wirklich gut zu Schuß kommen konnte. Das Sausen der Kugeln und die mit jeder Minute näherkommenden Explosionen begannen mittlerweile die Aufmerksamkeit der Herde in einem Grade zu beschäftigen, daß es Dr. Barlow möglich wurde, an einen Rückzug zu denken. Das einzige in der Nähe, was einige Sicherheit bot, war ein Felsblock. Er lief hin und kletterte hinauf.

Rudd zählte, während er vorwärts lief. »Vier – fünf – verdammt, jetzt wird's ernst – ich hab' nur drei Schuß!«

Es hatte gar keinen Sinn mehr, eine Deckung zu suchen. Die Bullen hatten ihn gesichtet. Aber noch gingen sie nicht auf Rudd los, sie standen schnaubend da und stießen mit ihren häßlichen Hörnern in die Luft.

»Sorgfältig, mein Junge!« rief der Doktor, als Rudd auf dreihundert Yards an die gefährliche Gruppe herangekommen war. »Die Kühe tun nichts, aber die Teufel sind wild auf Blut!«

»Ich hab' nur noch drei Patronen,« rief Rudd zurück, ohne die Bullen einen Augenblick aus den Augen zu lassen, »ich muß sie kriegen – oder sie kriegen mich und Sie dazu!«

»Wu–u–f! Wa–af!« mischte sich der kräftige Leitbüffel in diese Unterhaltung.

Bei fünfzig Yards hielt Rudd an und kniete nieder. Die Geschosse verließen wohl den Gewehrlauf mit einer Geschwindigkeit von dreitausend Fuß in der Sekunde, aber er wußte auch, daß das Gehirn des Bisamochsen nur ein ganz kleiner Klumpen hinter einem dicken Knochenpanzer ist. Jeder Schuß mußte sitzen und töten, oder er war verloren.

»Genau über das Auge!« rief der Doktor warnend herüber. Rudd druckte ab. Das Leittier drehte sich um sich, seine mächtigen zottigen Schultern schienen sich einen Augenblick auszudehnen, dann fiel er mit einem dumpfen Ton auf den Eisboden.

Der Doktor winkte mit dem Arm und rief: »Fabelhaft!«

Wieder feuerte Rudd; und das zweite Tier rollte unter Zuckungen neben seinen Bruder, den Schnee mit seinem Blut rötend.

Rudd schob die dritte Patrone ein. Der dritte Bulle stand trotzig da, ein schwarzer Krieger der Wildnis, bereit, den Tod seiner Gefährten zu rächen. Einen Augenblick war er unschlüssig. Er schien zu lauschen; der Blutgeruch war ihm in die Nüstern gekrochen. Als Kalb hatte ihn seine Mutter diesen Blutgeruch fürchten gelehrt. Jetzt machte er sein Herz erzittern. Er bedeutete Tod; und mit einem wilden Entsetzen fürchtete das Tier instinktiv den Tod. Rudd konnte seine kleinen, eng beieinander stehenden Augen sehen, die vor Wut blutunterlaufen waren.

»Vorsicht!« gellte der Doktor. Aber noch bevor das Wort seine Lippen verlassen hatte, setzte der Bulle zum Sprung an. Rudd verlor nicht die Nerven. Er zielte, bevor er schoß. Aber die ganz besondere Spannung des Moments im Verein mit der rapiden Bewegung des Bullen mußten einen guten Schuß als ein Wunder erscheinen lassen.

Mit einem wilden Schnaufen hielt das Tier im Laufe an und biß nach seiner Brust, wo das Projektil eingedrungen war. Ein paar Sekunden lang sah es danach aus, als ob er erledigt wäre. Er sprang vor Schmerz zur Seite und schien den Feind vergessen zu haben. Dann stürzte er sich mit fast menschlich klingendem Wehlaut wieder auf Rudd.

Der sprang auf und nahm sein leeres, rauchendes Gewehr wie eine Keule in die Hände. »Also los!« stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hatte keine Ahnung, wie prachtvoll er in diesem Augenblick aussah – die Beine weit auseinandergespreizt, den Kopf hochgeworfen, im grimmigen Gesicht den Entschluß, mutig zu sterben, wenn er schon sterben mußte.

Der Bulle rannte an, den Schädel nur einen Fuß über der Erde. So konnte er seine Hörner gut unter sein Opfer kriegen, um es nicht nur zu durchbohren, sondern außerdem zur Seite zu schleudern und damit Zeit zu erneutem Angriff zu gewinnen. Auf diese Weise konnte sogar der behende Wolf manchmal gefaßt werden. Aber Rudd dachte nicht daran, sich fassen zu lassen, solange er es vermeiden konnte. Filme von Stierkämpfen hatten ihm gezeigt, daß man unter solchen Umständen schnell genug zur Seite springen konnte, um dem Bullen zu entgehen.

Es mißlang. Er konnte den heißen Atem der Bestie auf seinen Händen spüren, als er zuschlug. Aber die Wucht, mit der er das Gewehr auf den Schädel des Angreifers hatte niedersausen lassen, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sein Fuß glitt im Schnee aus, und er konnte sich nur noch so weit auf die Seite wirbeln, daß er den dolchspitzen Hörnern auswich, bevor die haarige Masse aus lebendem Fleisch und Knochen auf ihn niederprallte.

Wild schlug er um sich, um wieder auf die Füße zu kommen. Eine Riesenlast schien seine Füße festzuhalten. Über seine Achsel konnte er sehen, daß das schwere Tier ebenfalls gestrauchelt war und mit der Hinterhand auf seinen Knien lag. Rudd mußte fürchten, daß der Bulle sich in der nächsten Sekunde über ihn wälzen und ihn zu Brei zerdrücken würde. Deshalb wand er sich soweit herum, daß er sein Gewehr über den Kopf heben konnte. Aber zu seiner Überraschung rührte das Tier sich nicht. Nur ein konvulsivisches Zucken lief durch seinen riesigen Leib.

Eine fröhliche Stimme schlug an Rudds Ohr. »Na, wie war der Schuß?« Es war Dr. Barlow.

»Sie wollen doch nicht sagen ...« keuchte Rudd.

»O doch. Schon als ich Sie kommen sah, dachte ich mir, daß Sie in so eine Lage geraten könnten. Sie waren viel zu beschäftigt, um zu bemerken, daß ich die ganze Zeit, die Sie schossen, an meinem Schießeisen herumgearbeitet habe. Der Auswerfer ist mir zerbrochen, und ich mußte die Patrone rausbekommen. Das Malheur war nur, daß ich ganz genau wußte, ich kann nicht mehr als einen Schuß reinbekommen, und da habe ich eben gewartet, bis er gebraucht wurde.«

Rudd stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Der wurde gebraucht; das kann man wohl sagen.«

»All right!« Der Doktor nahm seine Hand. »Sagen wir, wir sind quitt. Wir haben einander das Leben gerettet, und bei der Gelegenheit haben wir einen netten Vorrat von Fleisch und Häuten geschafft – so an die dreitausend Pfund schätze ich. Die Kühe da können wir uns auch noch bei Gelegenheit holen. Die werden hier in der Nähe bleiben.«

Rudd begann gleich sein Magazin zu füllen. »Ich will ...,« setzte er an. »Nein!« unterbrach er sich. »Wir dürfen uns nicht aufhalten. Ich habe es Ihnen noch nicht gesagt, ich habe auf Reggie geschossen.« Er packte Dr. Barlow und suchte ihn zum Hafen zu schleppen. »Ich habe ihn vielleicht umgebracht,« klagte er. »Schnell!«


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