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5. Eskimos

Der Kapitän wußte sofort, daß das Land dort vorne Kap York sein mußte. Die erste Etappe der Fahrt war erreicht.

Dr. Barlow breitete vor Rudd eine Karte auf dem großen Meßtisch aus. »Da! Sie sehen, wir sind hier in fünfundsiebzig Grad nördlicher Breite mehr als zweitausend Meilen nördlich von Neuyork. Grönland ist ein großer Inselkontinent. Es gibt nur wenig Leute, die sich eine richtige Vorstellung von der ungeheueren Ausdehnung der Gebiete hinter den Felsrändern machen können.

Rudd fuhr den Umriß mit dem Finger ab. Die Melville-Bai mit Kap York an ihrem äußersten Ende sah aus wie ein riesiges in den Westrand gefressenes Loch.

»Alle Expeditionen auf dieser Seite Amerikas nehmen erst Kap York,« erklärte der Doktor, »um dem Eisschub, den die Ströme Baffin Lands nach Westen tragen, aus dem Wege zu gehen. Übrigens können wir uns von den Eisverhältnissen, auf die wir stoßen werden, ein Bild machen, wenn wir auf den niedrigen Berg dort gleich hinterm Kap steigen. Mit Booten kann man dort landen.«

»Ich sehe nicht viel Land,« sagte Rudd enttäuscht.

Der Doktor lachte. »Menschenskind, wissen Sie denn nicht, daß neunzig Prozent von Grönland unter einer Eiskappe, die einige tausend Fuß stark ist, begraben liegen?

Rudd wurde ganz feierlich zumute, als er die gigantischen Naturgewalten mit den armseligen Kräften der winzigen Menschen verglich.

Als der ›Erik‹ näher kam, erhob sich das Kap, das zuerst nur ein verschwommener bräunlicher Nebel gewesen war, immer höher über den Horizont und zeigte sich schließlich als Hochland von rötlicher Farbe, das der riesige weiße Eiswall dahinter ins Meer zu drängen schien.

»Na, das Land sieht ja aber völlig kahl aus,« sagte Rudd.

»Allerdings,« stimmte Dr. Barlow zu. »Wir sind jetzt fast tausend Meilen nördlich von der Baumgrenze.«

»Aber wie leben dann hier die Eskimos?« fragte Rudd.

Bevor der Doktor antworten konnte, kam Normann heraufgelaufen, um zu sagen, daß er einige Eingeborenenboote gesichtet hätte, die sich durch das Eis zum Schiff durcharbeiteten. Rudd sprang in die Takelage, um nach ihnen auszuschauen.

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Es waren die berühmten Eskimokayaks, die wohl der merkwürdigste Bootstypus der Welt sind. Das Gerüst eines Kayaks bilden kleine Knochen oder Treibholzstückchen, deren Enden aneinander gelascht werden. Darüber wird eine Seehundhaut gespannt und vernäht. Wenn die Häute dann eingeschrumpft sind, ist Rumpf und Deck steif und wasserdicht geworden. Der Jäger sitzt in einem kleinen Loch in der Mitte des Bootes. Da der Kahn nicht ganz einen Fuß tief ist, liegt der Schwerpunkt des Ruderers unter dem Schwimmpunkt, so daß er sozusagen wie ein Pendel in seinem Kayak hängt, der auch von schweren Seen nicht zum Kentern gebracht werden kann.

Auf die Einladung Kapitän Pikes, der die Jäger schon einige Male bei seinen Nordfahrten mit Peary getroffen hatte, kletterten vier von ihnen an Bord. Nach einer kurzen Begrüßung führte er sie in die Kambüse und befahl dem Koch, ihnen Kaffee zu bringen.

Diese Eskimos waren die sonderbarsten Menschen, die Rudd je zu Gesicht bekommen hatte. Trotz ihrer schmierig fetten, runden Gesichter hatten sie fast zierliche Körper; und so klein waren sie, daß jeder von ihnen unter seinem ausgestreckten Arm hätte durchgehen können, ohne anzustoßen. Sie waren ganz in Häute gekleidet; ihre Beine steckten bis zu den Knien in Stiefeln aus abgeschabter Robbenhaut; die Hosen waren aus weißen Bärenfellen gemacht, die Hemden aus haariger Seehundshaut. Die schwarzen Haare fielen ihnen lang über die Schultern.

Rudd ging nahe an einen heran, um ihn bester sehen zu können. » Shunaqsuak?« fragte der Eskimo mit breitem Grinsen.

Rudd wurde fast ohnmächtig, als er die Ausdünstung des Burschen roch. Der Geruch war für seine zivilisierte Nase so widerlich, daß er Brechreiz verspürte. Sein Gesichtsausdruck mußte den Eingeborenen verraten haben, was er fühlte, sie alle begannen zu lachen und durcheinander zu schnattern.

Kapitän Pike steckte den Kopf über die Brückenreling und horchte. »Sie ziehen über Sie her, Rudd,« lachte er. »Sie sagen, die Nase von dem weißen Mann ist größer als die von einem Eskimo, aber lange nicht so stark. Sie kann nicht einmal den Geruch von einem Iglu aushalten!«

Aber bald hatte Rudd seinen Ekel überwunden. Nach dem Essen fuhr er mit einigen anderen im Walfischboot zu dem Eskimolager, das an einer eisfreien Stelle des Strandes errichtet war. Es bestand aus fünf Tiupiks – so heißen die aus Fellen gemachten Zelte, in denen die Eskimos im Sommer leben, weil die Schnee-Iglus in dieser Jahreszeit zu heiß und zu dunstig sind. Mindestens zweihundert Hunde und zwanzig Kinder aller Altersstufen wimmelten um die Weißen herum. Einige Frauen mit Säuglingen, die in einer Art Beutel in den Lederhemden getragen werden, zeigten sich schüchtern an den Zelteingängen.

Auf dem Rückweg sah Rudd sich eines der Tiupiks an. Es war nichts weiter darin als ein Fellager, eine kleine Tranlampe und ein paar Stückchen verrauchtes Seehundfleisch, das den allen Eskimos eigentümlichen starken Geruch ausströmte. Dieses Mal fand er ihn schon etwas weniger unappetitlich; aber er konnte nicht ahnen, daß ihm noch einmal vor Gier nach diesem verdorbenen Fleisch das Wasser im Mund zusammenlaufen würde.

Bei dem nächsten Tiupik stand eine Frau, die ihn nicht bemerkte, weil sie auf jemand zu warten schien. Rudd folgte ihrem Blick und sah den unglückseligen Boggs zwischen den Felsen herunterturnen. Das Weib ging ihm entgegen, faßte ihn bei der Hand und führte ihn in ihr Zelt.

»Aha,« dachte Rudd, »Boggs hat hier einen Schatz!«

In der Absicht, etwas zu erlauschen, womit er den Heizer dann an Bord aufziehen könnte, wartete Rudd, bis die beiden im Tiupik verschwunden waren, und ging dann an das Zelt heran, um an der dünnen Fellwand zu horchen. Zu seinem Staunen hörte er eine bekannte Stimme.

»Na, Sie Langfinger, ich will's noch einmal mit Ihnen versuchen.«

Es war der erste Offizier.

»Wirklich, Mr. Menon,« jammerte Boggs, »ich wollte nichts verraten.«

»So, was sollte dann Ihr ›Ich mußte rausfinden‹, wie Sie im Zimmer von dem blödsinnigen Doktor erwischt worden sind?«

»Blödsinniger Doktor!« wiederholte Rudd bei sich. »Also, so denkt er im stillen über den Mann, der ihn unterstützt hat.«

»Es war, weil Sie behauptet haben, Herr,« fuhr Boggs eingeschüchtert fort, »daß wir nicht durch die Nordwestpassage durchkönnen, wie die doch wollen.«

»Sie werden auch nicht durchkommen,« knurrte Menon, »mit dem ›Erik‹ wenigstens nicht.«

»Das haben Sie damals auch gesagt, Herr. Und mehr haben Sie mir nicht sagen wollen. Nur das Geld haben Sie mir angeboten, dafür ...«

»Ruhig!« fuhr der Offizier dazwischen. »Ich wünsche nicht, daß Sie von meinem Angebot reden, auch nicht, wenn wir unter uns sind. Jetzt sagen Sie mir, was Sie im Zimmer vom Doktor gesucht haben. Aber schnellstens, ich möchte nicht hier mit Ihnen gesehen werden –«

»Ich wollte ne Karte haben, Herr. Ich wollte nur sehen, ob's wirklich nicht geht, daß man mit einem Schiff nach Alaska durchkommen kann, um die Nordspitze von Amerika rum.«

Eine schnelle Bewegung und ein Geräusch, als würde die Tranlampe zerschlagen. Dann hörte er den Offizier schreien. »Hast gedacht, ich lüge, was!« Und Boggs stürzte aus dem Zelt heraus und raste Hals über Kopf zum Boot, das am Strand lag.


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