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18. Im Eisgeschiebe

Gegen Mitternacht wurde Normann von einem Stoß aufgeweckt, der den ›Erik‹ vom Vorder- bis zum Hintersteven erschütterte. Er sprang aus der Koje und steckte den Kopf durch die Pfortluke. Ein Eisklumpen von der Größe eines Fleischfasses klirrte vorüber und fiel platschend in die See.

»Müssen auf was gestoßen sein!« rief er und stürzte sich auf alle Fälle in Hosen und Stiefel. Laufende Schritte dröhnten oben, und Kommandorufe klangen von der Brücke herunter.

Er war nicht überrascht, als Olsen in der Tür erschien und ihn im Auftrage Menons auf Deck rief.

Ein wilder Anblick bot sich ihm. So weit das Auge reichte, breitete sich das Eis. Ein heulender Sturm fegte vom Nordwesten herunter; aber sein Pfeifen wurde vom Krachen und Mahlen der Schollen überdröhnt. Zum Glück waren keine Berge in unmittelbarer Nähe. Nur große, dicke Schollen, von ein paar Faden bis zu Hunderten Yards Durchmesser, rasten aufeinander los, wie eine Unzahl weißer Stiere, die in tödlichem Kampf die Hörner verschränken. Hier und da, wo das schwarze Wasser sichtbar wurde, packte der Sturm schäumenden Gischt und jagte ihn in schmalen Streifen über den furchtbaren Aufruhr dahin.

»Gehen Sie nach vorne,« brüllte Menon, um sich im Sturm verständlich zu machen, »und sehen Sie zu, daß Sie den Bugspriet klar bekommen!«

»Volldampf voraus!« kam es von der Brücke. Das Schiff erzitterte. Mit ganzer Wucht drückte der Dampf auf die Maschinen. Obgleich die Mannschaft sich fest hielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, warf der Stoß sie doch fast um.

Normann sprang an die Reling und befreite das Schiff von der Klüverleiter, die als einzige noch den Bug gefährdete.

»Alles klar, Sir!« meldete er. »Und offenes Wasser vor uns!« Wie durch einen Akt der Vorsehung öffnete sich vor dem Steven ein schwarzer, gezackter Riß. Nur rascheste Flucht konnte den ›Erik‹ retten.

»Gib ihr, was du hast!« brüllte der erste Offizier ins Mikrophon. Seine Augen fielen mit einem Male auf die beiden Heizer, die gefesselt an der Reling hockten. »Binden Sie sie los, Normann,« schrie er, »und schicken Sie sie hinunter!« In dieser verzweifelten Lage brauchte er nichts zu fürchten, wenn er diese widersetzlichen Burschen für ihre Arbeit frei gab.

Schwarzer Rauch quoll aus dem Schornstein. Als wären ausgehungerte Wölfe hinter ihm her, so raste das kleine Schiff davon. Und es waren auch Wölfe, weiße Wölfe, diese scharfen, bissigen Schollen, die durch die Fahrtrinne heranschossen und aufeinander krachten. Unmittelbar hinter dem Schiff war die Fahrtrinne bereits von ihnen verstopft.

Aber der ›Erik‹ hatte das Glück auf seiner Seite. Unversehrt kam er heraus und rollte schon eine Stunde später leicht auf dem offenen Wasser im Luv des Eisfeldes. Die ganze Nacht hindurch und auch noch den nächsten Tag über heulte und pfiff der Sturm. Schneeschauer gingen nieder. Aber der eigentlichen Gefahr waren sie entronnen. Und als der Wind sich schließlich legte, ließ sich noch an dem Fehlen der Bughölzer erkennen, wie gewaltig der Orkan getobt hatte.

Normann belauschte unfreiwillig in seinem Zimmer eine leise geführte Unterhaltung zwischen Menon und dem Chef, aus der hervorging, daß der Rumpf beschädigt worden sei.

»Zieht Backbord Wasser,« hatte er ganz genau gehört.

»Können wir's ihnen jetzt zeigen?« war Menons Antwort gewesen.

»Wann Sie wollen.« Und dann waren beide auf Deck gegangen.

»Das ist doch sonderbar,« dachte Normann. »Wir haben nur den einen Stoß auf den Bug abbekommen, und sonst war der Druck gar nicht stark genug, um eine von den Nähten zu öffnen, das weiß ich positiv.« Er wußte genau, was ein Schiff wie der ›Erik‹ aushalten mußte. Er gab sich deshalb nicht zufrieden.

»Werde mal selbst nachsehen,« dachte er, machte seinen versteckten Ausgang auf und kroch durch den Ventilationsschacht hinunter. Er untersuchte den Rumpf auf beiden Seiten jeden Zoll breit genau und stellte überrascht fest, daß durch keine der Nähte Wasser eindrang, ja daß überhaupt keine Ausbuchtung zu sehen war, aus der man auf einen Schaden hätte schließen können. »Das wird also wohl mit zu ihren Schlichen gehören,« dachte er. »Weiß der Himmel, was für Lügen sie noch ausdenken werden.«

Er war noch nicht lange in seinen Raum zurückgekommen, als Menon eintrat und die aufregende Nachricht mitbrachte, daß im Rumpf das Wasser rapide im Steigen begriffen sei, und daß die Pumpen kaum Schritt halten könnten. »Kommen Sie rauf und sehen Sie sich's mal an,« schlug er vor.

Mißtrauisch folgte ihm Normann.

Außer den Gefangenen, die wieder gefesselt worden waren, hatte die ganze Mannschaft sich an der Luke zum Maschinenraum versammelt. Der Chef stand mit besorgter Miene am Lukensüll. Olsen und der Steuermannsmaat waren wie eine Leibwache dicht hinter ihm, für den Fall, daß etwas Unerwartetes geschehen sollte.

Einige Mann beugten sich neugierig über die Luke und fluchten unterdrückt über das Eis. »Meine Pumpen können's jetzt gerade noch schaffen.«

Normann bahnte sich einen Weg durch die Mannschaft und sah hinunter. Die Bodenplatten im Maschinenraum waren abgehoben worden, so daß man den Schiffsboden sehen konnte. Schwarzes, öliges Wasser stand unten. Vom Flach floß ein Gerinnsel nach Backbord hinunter; offenbar hatte das Schiff ein böses Leck.

»Sehen Sie, Normann?« fragte der Chef.

Vor Überraschung konnte Normann nicht antworten. »Wie ist das nur möglich?« überlegte er. »Wo soll denn dieses Leck sein; ich habe doch gerade die Bordwände untersucht und alles intakt gefunden?«

»Hören Sie es pumpen?« fragte der Chef weiter.

Normann horchte einen Augenblick auf das Schlucken der Maschine. »Natürlich hör' ich's,« sagte er verwundert.

Plötzlich mußte er grinsen, daß ihm der Mund fast bis an die Ohren reichte. An der Speisepumpe in der Ecke war ein Messingrohr angebracht worden, das hinter das Schott an der Außenwand des Raumes führte. Normann hatte genügend Maschinenkenntnisse, um sich das Rätsel sofort erklären zu können. Diese schluckende Pumpe holte ganz einfach das Wasser vom Flach herauf und spritzte es durch das Messingrohr weiter oben wieder aus, und so entstand das Rinnsal, das aus dem angeblichen Leck in der Bordwand kam.

»Da soll mich doch der Teufel holen,« schimpfte er vor sich hin, als er wieder in seiner Kajüte war. »Von blinden Petroleumquellen habe ich schon gehört und von blinden Goldminen, aber von einem blinden Leck noch nie! Was, verflucht noch einmal, soll das eigentlich bedeuten?« Eine ganze Stunde saß er da und riet an diesem Rätsel herum.

Ein entfernter Lärm vom Deck weckte ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken. Da die Tür verschlossen war und der Spektakel von vorne zu kommen schien, ging er wie gewöhnlich durch den Rumpf zum Backschott. Das Rufen und Schreien war hier deutlicher zu hören; aber die Kambüse war leer, und so hatte es keinen Sinn, daß er sein Geheimnis nutzlos gefährdete. Er kehrte um und kletterte zu seiner Kajüte zurück.

Zu seinem Entsetzen war die Tür weit offen. In seiner Abwesenheit war jemand da gewesen und wieder gegangen. Aber wer konnte es gewesen sein?

Er brauchte nicht lange zu warten, um sicher zu sein, daß sein Geheimnis verraten war. Bevor er Zeit gehabt hatte, seine Gedanken zu sammeln und irgendeine Ausrede zu erfinden, kam Menon die Kajütleiter heruntergestürmt und sprang hinter den Tisch.

»Das ist also Ihr Dank dafür, daß ich so freundlich bin, Ihnen Freiheit auf dem Schiff zu geben, was? Haben uns überall herum ausspioniert, he?« Das schlechte Gewissen sprach aus Menon.

»Kommen Sie mit!« Der erste Offizier führte ihn durch die Kapitänskajüte zu einer kleinen Tür, die am Kopfende der Koje in das Schott eingelassen war. Er ließ Normann hineingehen. »Sie sind zu gefährlich, als daß man Ihnen über den Weg trauen dürfte!« Mit diesen Worten schmiß er die Tür zu und verriegelte sie von außen.

Normann tastete seine Zelle im Finstern ringsum ab. Außer einem schwachen Schein, der durch einen Spalt in der Tür hereinfiel, war es ganz dunkel. Schwere Schiffshölzer, die an zwei Stellen über den Boden liefen, boten eine Art Sitzgelegenheit. Sonst war der Raum vollkommen leer und kahl.

»Einzelhaft!« lachte Normann, fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

In regelmäßigen Abständen brachte der Steuermannsmaat ihm Essen und Wasser. Der Mann war gar nicht besonders unfreundlich, im Gegenteil, er hielt sich immer einige Minuten auf, um mit dem Gefangenen zu schwatzen.

Am zweiten Tag dieses elenden Daseins hörte Normann deutlich das schwache Puffen eines Motorboots durch die Bordwand. Er legte das Ohr an die Eichenbohlen und war überrascht, wie klar alle Geräusche durchkamen. Er hörte Menon schreien:

»›Polarstern‹, ahoi!« An der antwortenden Stimme erkannte er Reggie: »Komme Bord an Bord, Sir. Bin allein!«

Normanns Neugier wurde einigermaßen befriedigt, als der Steuermannsmaat ihm das Mittagessen brachte. »Ist die Barkasse nicht zurückgekommen?« fragte er, so gleichgültig er konnte.

»Ja, Sir,« rief der Matrose. »Mr. Caverly ist mit ihr zurückgekommen. Hat auch gute Nachrichten gebracht.«

»Was denn?« fragte Normann eifrig.

»Also, 's ist 'ne Botschaft vom Skipper,« erklärte der Steuermannsmaat. »Mr. Caverly sagt, er hat sich entschlossen, mit den Leuten vom ›Polarstern‹ weiter nach Westen zu gehen und mit den Eskimos zu reisen. Sie haben ein feines Lager auf der anderen Seite von der Halbinsel gehabt und jetzt sind sie wahrscheinlich schon ein gutes Stück unterwegs nach Westen. Kapitän Pike hat Mr. Menon Nachricht geschickt, er soll das Schiff nach Süden führen.«

»Das ist eine Lüge!« fuhr Normann los. »Eine ganz hundsgemeine, niederträchtige Lüge!«

Ganz entsetzt lief der Maat wieder nach oben.


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