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10. Kein Entrinnen

»Los!« sagte Rudd schauernd. »Was sein muß, muß sein!« Er watete einige Schritte hinaus und warf sich dann heroisch in das eisige Bad. Der erste Moment wirkte auf ihn wie eine Dynamitexplosion. Jeder Nerv in seinem Körper zuckte unter der Berührung mit der fürchterlichen Kälte zusammen, seine Muskeln brannten vor Kälte.

Der arme Boggs stand am Strand und rang die Hände. Rudd war seine einzige Hoffnung auf ein Entrinnen aus den Schrecken der Arktis.

Schließlich sah er Rudd die Jolle erreichen. Daß der Junge ziemlich erledigt war, ging aus seinen vergeblichen Anstrengungen hervor, sich an Bord zu hissen.

»Nochmal! Feste!« heulte Boggs plötzlich. »Hat ihm!«

Dieser ermutigende Zuruf hatte den gewünschten Erfolg. Mit einem verzweifelten Ruck hob Rudd seinen froststarren Körper hoch genug, um ihn auf das Heck der Jolle stützen zu können. In der nächsten Sekunde war er oben, füßestampfend und die Arme wie Windmühlenflügel um seinen eisüberzogenen Kopf schwingend.

Sowie er sein Blut in Hände und Füße zurückfluten fühlte, ruderte er die Jolle vor und kletterte auf den ›Polarstern‹. Er war ganz sicher, jemand an Bord zu finden. Wie sollte denn die Jolle sonst hier sein? Sie war die einzige Möglichkeit, an Land zu gehen.

Die Kajüte war leer. Auf seinen Ruf kam keine Antwort aus dem dunklen Maschinenraum. Aber als er schon zur Kabine zurückklettern wollte, entdeckte er etwas Weißes an der Maschinenraumleiter. Als er sich bückte, sah er, daß es eine ausgebrannte Kerze war. Der Docht war in eine tropfende Paraffinpfütze gefallen.

»Teufel!« rief er aus. »Das ganze Boot hätte verbrennen können. Das ist doch ...« Er zündete ein Streichholz an. »Na, ich will ver...« Er verstummte und schüttelte sich, nicht vor Kälte, sondern vor Bestürzung. Zu seinen Füßen, über die Maschine gestreckt, lag Reginald Caverlys Leib. Aus einer Wunde an seiner Schläfe tropfte Blut und rann in schauerlich roten Streifen über sein bleiches Gesicht.

Rudd griff nach seinem Handgelenk – kein Puls!

Plötzlich überkam ihn Schwäche. Zu seiner eigenen Überraschung konnte er sich nur mit Mühe aus dem Maschinenraum schleppen. Auf Deck kam er in der frischen Luft wieder so weit zu Kräften, daß er in die Kajüte gehen konnte, um sich seiner triefenden Hosen zu entledigen und trockene Kleider anzuziehen. Er zündete den Primus an und setzte Teewasser auf. Dann kehrte er zu Reggie zurück. »Ich kann den armen Jungen nicht dort liegen lassen,« sagte er sich und suchte seine Scheu vor dem Anfassen des Leichnams zu überwinden.

So leicht Caverly auch war, es fiel Rudd ziemlich schwer, ihn durch die enge Luke herauszubekommen. Als es ihm endlich gelungen war, hatte er wieder dasselbe Schwächegefühl wie kurz vorher. »Nanu, das ist nicht vom Schwimmen,« rief er aus. »Da unten muß was los sein.« Er hielt die Nase über die Luke. »Teufel, und ob da was los ist!« Scharfe Dämpfe, die aus einem umgestürzten Feuerlöscher kamen, bissen ihn in der Nase.

Nach dieser Entdeckung schob er Reggies Hemd auseinander und preßte das Ohr an die Brust. »Lebt!«, und er schleppte den bewußtlosen Körper nach hinten. In der Kajüte zog er Caverly die Stiefel aus und legte ihn in eine Koje. Was für Behandlung nun nötig war, wußte er nicht genau. Die Wunde an der Schläfe war, wie er jetzt sah, ein ungefährlicher Schnitt, den Reggie sich wohl bei seinem Sturz zugezogen hatte.

»Übrigens,« überlegte Rudd, »was hat er denn überhaupt dort zu tun gehabt?« Seine Freude darüber, daß sein Schiffskamerad noch lebte, fand ein schnelles Ende, als er sich klar darüber wurde, wie verdächtig es war, daß der Bursche sich im Maschinenraum zu schaffen gemacht hatte.

Mit Hilfe einer Laterne untersuchte er den Motor. Schnell fand er den Feuerlöscher und schleuderte ihn auf Deck. Er machte die Luke weit auf, so daß die giftigen Dünste entweichen und wieder reine Luft einströmen konnte.

»Aha!« Er sah einen Schraubenschlüssel und Flachzangen neben dem Vergaser liegen. »Wolltest ihn in Schuß bringen, was?«

Er beugte sich vor, um besser sehen zu können, und hob den anscheinend nur lose aufliegenden Vergaserdeckel ab. Zu seiner Überraschung war der Schwimmer da und an seinem Platz.

»Du Lügenaas!« fluchte er.

Dann begann sein Gehirn zu arbeiten. Er hatte schon den an Caverly adressierten Brief. Und jetzt hatte er den endgültigen Beweis, mit dem der Schurke überführt werden konnte. Mit Umsicht und Klugheit konnte man vielleicht an Hand dieser beiden Tatsachen hinter das Geheimnis kommen.

Ein Schuß unterbrach seine Überlegungen. Er steckte den Kopf durch die Luke und sah Kapitän Pike und Dr. Barlow um die kleine Felsnase am Nordrand der Bucht kommen.

»Hallo, Jungens, wieder da?« rief der Skipper.

»Eben gekommen,« antwortete Boggs in wehmütigem Ton, der die Melancholie seiner Seele nicht verbarg.

Eiligst sprang Rudd in die Jolle und ruderte zum Strand.

»Und das Schiff?« fragte Dr. Barlow. »Habt ihr den Schwimmer mitgebracht?«

»Die sind weg!« schrie Boggs, bevor Rudd sprechen konnte. »Haben uns dagelassen, damit wir im Eis verrecken. Weg sind sie, die ...« Ein Schwall von Seemannsflüchen und Beschimpfungen folgte, der seine Zuhörer überzeugen mußte, daß der ›Erik‹ nach Hause gefahren sei.

»Ach, er wird schon zurückkommen,« brummte der Skipper. »Der Idiot von Menon hat wahrscheinlich, als der Sturm losging, den jungen Normann überredet, mit dem Schiff auszufahren. Sobald das Wetter es zuläßt, wird er es auch wieder zurückbringen.«

»Und der Brief?« protestierte Rudd und zog den leeren Umschlag aus der Tasche. »Was ist damit?« Er war entschlossen, seine Trümpfe nacheinander auszuspielen.

»Das erklärt es ja gerade,« behauptete Dr. Barlow, der ebenso wie Kapitän Pike Rudds Theorie, daß der ›Erik‹ nicht wiederkommen würde, nicht annehmen wollte.

Jetzt zeigte Rudd die Papierfetzen mit den Fragmenten: »der ›Erik‹ unglücklicherweise zermalmt«, und »fürchterliches Schicksal«.

»Das stimmt ja,« lachte Dr. Barlow. »Der Sturm wird große Schollen in den Hafen getrieben und gegen den Strand gedrängt haben. Damit das Schiff nicht zertrümmert wird, hat Menon es auf See genommen. Der Teil mit dem ›fürchterlichen Schicksal‹ bezieht sich auf uns: was aus uns wird, wenn der ›Erik‹ nicht zurückkommt und wir ohne Lebensmittel hier bleiben müssen.«

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»Das ist übrigens die Handschrift vom Ingenieur,« warf der Kapitän ein. »Er ist auch der einzige, der sich's erlauben kann, Skipper zu mir zu sagen. Außerdem würde er bestimmt nicht geschrieben haben, wenn nicht alles sauber wäre. Wir kennen uns seit vierzig Jahren und sind immer wie Brüder gewesen.«

Rudd machte ein langes Gesicht. Was sollte er nur tun, um sie zu überzeugen, daß sie die Betrogenen waren? Ja natürlich, dem untrügerischen Beweis, den er für Caverlys Schuld in Händen hatte, mußten sie Glauben schenken.

Er berichtete Dr. Barlow über Reggies Unfall und fügte hinzu: »Bevor Sie zu ihm gehen, möchte ich noch hören, was Sie über diesen zweiten Brief, der an Reggie adressiert ist, denken. Ich schlage vor, daß einer von uns dabei ist, wenn er aufgemacht wird, damit wir sicher sein können, daß er keine Geheimnisse enthält.«

Dr. Barlow lächelte nur.

Reggies Übelbefinden erwies sich als vorübergehend und keineswegs ernsthaft. Es war ein leichter Anfall von Bewußtlosigkeit infolge der Dämpfe, die er im Maschinenraum eingeatmet hatte. Seine ersten Worte, als er wieder zu sich kam, galten der Freude, den Schwimmer gefunden zu haben.

»Ich kann gar nicht begreifen, wieso wir ihn nicht schon am ersten Tag gesehen haben,« sagte er schwach.

»Wo haben Sie'n gefunden?« fragte Boggs.

Reggie zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Ja ... mm ... rechts, in dem Reserveteilkasten, wo wir ihn von Anfang an vermutet haben.«

»Nu aber,« staunte Boggs. »Das ist komisch – ich habe gleich, wie der Schwimmer gefehlt hat, alles, Stück für Stück, aus dem Kasten rausgenommen.«

»Ich auch,« wollte Rudd schon sagen. Aber er hielt an sich und schwieg.

»Das ist ja jetzt ganz egal,« unterbrach Dr. Barlow. »Übrigens – Rudd hat bei den Vorräten, die der ›Erik‹ ausgeschifft hat, einen an Sie adressierten Brief gefunden. Wir möchten gern wissen, was darin steht.«

Reggie nahm das Kuvert und sah in die vier Gesichter, die er vor sich hatte.

»Ist ... ist es eilig?« fragte er hilflos, zu Rudds größter Freude.

»Eilig?« Dr. Barlow schien nicht zu verstehen. »Los, machen Sie ihn auf, mein Junge, damit wir wissen, wie wir dran sind.«

Reggie wurde bleich. Er zog das Papier heraus, als stünde sein Todesurteil darauf – was in der Tat auch möglich wäre, dachte Rudd. Sein ganzes Aussehen änderte sich im Nu, als er las:

 

»R.-C.

Hoffentlich hetzen Sie nicht die
Furien auf uns wegen der Abreise. –

M.«

 

»Lassen Sie mich sehen,« verlangte der Skipper. »Das ist die Handschrift von dem Schuft ›Menon‹.« Er sah sich das Blatt Papier an. »Scheint soweit in Ordnung zu sein. Möchte nur wissen, was er sich dabei gedacht hat, wie er ›Furien‹ mit großen Buchstaben geschrieben hat. Was hat das zu bedeuten, Caverly?«

»Ein Scherz, glaube ich.« Reggie lachte nervös. Die Reaktion auf den eben ausgestandenen Schrecken war offenbar zu groß.


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