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19. Normanns Flucht

Während Rudd zum Strande vorlief, um den herantorkelnden Normann aufzufangen, kam ihm zu Bewußtsein, daß von allen Überraschungen, die sie erwartet hatte, diese doch die unwahrscheinlichste war. Sowohl er wie der Dr. Barlow hatten es für möglich gehalten, daß Caverly zugrunde gegangen wäre, oder daß der ›Polarstern‹ Schiffbruch erlitten hätte, ja sogar, daß der ›Erik‹ vom Eis zermalmt längst auf dem Grunde des Meeres läge. Aber niemals hätten sie gedacht, Normann auftauchen zu sehen, taumelnd, als wär' er betrunken, mit Schmutz überzogen, kurz, ganz wie ein Schiffbrüchiger, der die unsäglichsten Leiden erduldet hat, bevor er sich retten konnte.

»Sie armer Kerl!« rief Rudd und breitete die Arme aus, den Wankenden aufzufangen, gerade noch zur rechten Zeit, bevor Normann zusammenbrach und auf den Kies fiel. Rudd dachte, welches Glück, daß wir gerade jetzt hierhergekommen sind! Noch eine Stunde, und Normann wäre seiner Schwäche erlegen.

»Stecken Sie ihn in Ihren Schlafsack!« ordnete der Doktor an. »Und ich werde inzwischen eine Brühe machen.« Er maß Normann die Temperatur, um ganz sicher zu sein, daß es nichts anderes als die außerordentliche Erschöpfung war, die es ihm unmöglich machte zu sprechen. »Vor allem braucht er jetzt Schlaf und trockene Kleider.«

»Na, der sieht tatsächlich aus, als ob er einiges hinter sich hätte,« meinte Rudd.

Der Doktor setzte den Primus in Betrieb und warf Tee in den Topf, bevor er antwortete. »Ja, wirklich. Tatsächlich habe ich diesen Normann von Anfang an für einen der vertrauenswürdigsten Männer gehalten, die wir an Bord hatten. Daß er jetzt in diesem Zustande zurückgekommen ist, beweist, daß die bösen Elemente auf dem ›Erik‹ die Oberhand haben.«

»Haben Sie seine Handgelenke gesehen?«

»Ja. Bös zugerichtet, ganz geschwollen. Sie müssen behandelt werden, sobald er aufgewacht ist. Was, meinen Sie, kann die Ursache sein? Es sieht aus wie von Riemen.«

»Sie meinen, er ist gefesselt gewesen.«

»Ja, und geknebelt auch. Seine Wangen haben Striemen, die fast bis an die Ohren reichen.«

Normann bewegte sich unruhig in seinem Schlafsack und rief: »Ich will nicht. Ich will nicht. Los, du Hund, wenn du's riskierst!«

Dr. Barlow lächelte. »Er kämpft sogar in seinen Träumen, Rudd. Er lebt die letzten Tage noch einmal durch, der arme Teufel.«

Als Rudd am nächsten Tag Normann wieder auf den Beinen sah, wollte ihm nicht recht in den Kopf, wie ein Mann, der am Abend vorher noch in einem so fürchterlichen Zustand gewesen war, sich so schnell hatte erholen können.

»Wenn man jung und gesund ist, geht das sehr schnell,« bemerkte der Doktor. »Jetzt erzählen Sie uns, Normann.«

»Da ist nicht viel zu erzählen,« war die bescheidene Antwort. »Menon bemächtigte sich des ›Erik‹ und wollte mich für einen Plan gewinnen, den ich nie ganz verstanden habe. Dann kam Reggie Caverly mit dem ›Polarstern‹ zurück. Ich konnte auf dem Boot entkommen, strandete, und jetzt bin ich da.«

Die Geschichte klang ganz einfach, aber sie erklärte nicht den Zustand, in dem er entkommen war. Sowohl Rudd wie Dr. Barlow bestanden darauf, Einzelheiten zu hören.

»Haben sich die Leute freiwillig auf Menons Seite gestellt?« fragte Rudd. »Ich wußte, daß er ziemlich beliebt bei ihnen war, aber ich hätte nie gedacht, daß die ganze Mannschaft einen so feinen Skipper verraten würde.«

»Alle haben's ja auch nicht getan. Fünf wollten bei der Meuterei nicht mitmachen. Zuerst wurden sie an Deck an die Reling gebunden. Als dann Caverly zurück war, wurden sie auf den ›Polarstern‹ gesteckt, ohne Wasser und ohne Decken, und geschleppt. Einmal am Tag wurde ihnen eine kleine Ration rohes Salzfleisch und hartes Brot hinübergeseilt. Das Schiff schleppte sie; in welchem Zustande die armen Kerls waren, können Sie sich vorstellen. Nach dem ersten Tag ergaben sich alle bis auf einen. Der hielt es noch vierundzwanzig Stunden aus, dann verstand er sich ebenfalls dazu, dasselbe zu tun wie die anderen – eine Art Vertrag zu unterschreiben, der alle Handlungen Menons als Recht anerkannte.«

»Am schlimmsten war es,« fuhr Normann fort, »als sie dahinterkamen, daß ich aus der Kajüte herauskonnte. Menon sperrte mich in ein Loch, das nicht einmal eine Pfortenöffnung hatte. Dort blieb ich drei Tage, und ich wäre noch heute drin, wenn nicht Caverly um ein paar Karten in die Kajüte gekommen wäre, als mir gerade mein Essen gebracht wurde. Der Steuermannsmaat hatte vergessen, Wasser in den Napf zu tun, und bat Reggie, auf mich achtzugeben, während er in die Kambüse zurückging.

Ich fragte Reggie, was für Kurs wir hätten.

›Nach Hause,‹ sagte er mit einem Grinsen, das mich in Wut brachte.

Ich konnte ihm ansehen, wie er sich freute, mich so in der Patsche zu finden. Ich glaube, ich war nach dem langen Eingesperrtsein überhaupt nicht recht bei mir. Ich sprang also direkt in die Kajüte hinaus und erzählte ihm, was ich von ihm und seinen verdammten Freunden dachte.

›Na schön, und was wollen Sie denn da machen?‹ fragte er.

›Das!‹ Ich sprang auf ihn zu und gab ihm einen Schlag aufs Kinn, daß er alle Engel singen hörte. Er riß das Maul auf, um Hilfe zu brüllen. Aber bevor er einen Ton von sich geben konnte, hatte ich das Kissen aus der Koje gerissen und ihm um den Kopf gewickelt.«

»Schade, daß Sie ihn nicht noch tüchtig verdroschen haben!« rief Rudd, aus dem jetzt die ganze Wut losbrach, die er seit dem Durchbrennen des ›Polarsterns‹ gegen Caverly in sich aufgestapelt hatte.

»Ich weiß nicht, aber vielleicht hab' ich ihn auch verprügelt,« erzählte Normann weiter; »aber dann kam der Steuermannsmaat zurück. Er schmiß mir Wasser, Krug und alles, was er in den Händen hatte, ins Genick und ging mit beiden Fäusten auf mich los. Ich war so verrückt vor Wut, daß ich fast mit allen beiden fertig geworden wäre; aber ich war aus der Übung und nicht ganz bei Kräften, und so hatten sie mich nach ein paar Minuten untergekriegt und banden mir Hände und Füße mit einem Bindsel aus dem Schlafsack vom Skipper.«

Er machte eine Pause und sah sich wehmütig seine Handgelenke an, die der Doktor verbunden hatte.

»Sie können von Glück sagen, daß sie Sie nicht gelyncht haben,« warf Rudd ein. »Ich glaube jetzt, daß sie vor nichts zurückscheuen.«

»Nein,« sagte Dr. Barlow, »solange sie es vermeiden können, werden sie nicht Blut vergießen. Alles hängt für sie davon ab, daß die Mannschaft im Glauben bleibt, sie hätten alles Recht auf ihrer Seite. Und was sie auch für eine Erklärung geben werden, wenn der ›Erik‹ in die Staaten zurückkommt, Sie können sich darauf verlassen, daß unsere Freunde alles vollständig in Ordnung finden werden.«

»Was, Sie meinen, daß man uns keinen Entsatz schicken wird?«

»Keineswegs. Ich halte Menon für tüchtig genug, sich eine absolut wasserdichte Geschichte auszudenken. Und wenn ich auch nicht weiß, was er davon hat, daß er das Schiff stiehlt, auf jeden Fall rechnet er damit, noch rechtzeitig nach Hause kommen und sich aus dem Staub machen zu können, bevor wir zurück sind. Das ist es ja, was mich am meisten ärgert. Wenn wir Schwein hätten und ihn überholen könnten, würden wir ihn im Kittchen haben, bevor auch nur einer von seinen Leuten entwischen kann.«

»Ich bin ganz derselben Meinung wie Sie, Doktor,« sagte Normann. »Nicht einmal der Steuermannsmaat und Olsen, die doch zu seinem engsten Gefolge gehören, hatten eine Ahnung, daß etwas nicht stimmte. Ich glaube, sie hatten so eine vage Vorstellung, daß Ihr Vorhaben, durch die Nordwestpassage zu kommen, wahnsinnig wäre, und daß Kapitän Pike Unrecht täte, Ihnen zu folgen. Das Geld, das Menon ihnen versprochen hatte, sagte mir Olsen, sollte von der Gesellschaft für die Rettung des Schiffes gegeben werden. Der Rest der Mannschaft glaubt wahrscheinlich dasselbe.«

»Erzählen Sie weiter,« unterbrach ihn Rudd, »was geschah, nachdem sie Sie in der Kajüte gefesselt hatten. Ich begreife noch immer nicht, wie Sie entfliehen konnten.«

Normann lachte. »Ich bin nicht eigentlich geflohen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, mich davonzumachen.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß man Sie wirklich hat laufen lassen?«

»Na, es kommt fast auf das heraus. Menon war so wütend, daß er befahl, mich auf den ›Polarstern‹ zu bringen. Olsen verdoppelte meine Fesseln, bevor ich hinübergebracht wurde. Natürlich geschah das, während die Mannschaft schlief und nur der Steuermannsmaat und Olsen Wache hatten. Ich wurde auch geknebelt, damit ich nicht schreien und so jemand darauf aufmerksam machen konnte, daß ich in der Barkasse war.«

»Und dann – –?« Rudd ballte die Fäuste vor Wut.

»Zu allererst dachte ich daran, wie schnell ich meine Kraft verlieren mußte. Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und das war auch nur ein bißchen Robbenfleisch gewesen. Das Bindsel um meine Gelenke war so fest, daß das Fleisch anzuschwellen anfing, und nach einer Stunde war der Schmerz so groß, daß mir von ihm und dem würgenden Knebel ganz schwindlig wurde. Ich lag unten in der Kajüte vom ›Polarstern‹. Ich versuchte zu rollen, um zu sehen, ob ich mich nicht zur Luke wälzen und vielleicht hinauskommen könnte, um eventuell von einem Matrosen gesehen zu werden, der mir dann vielleicht ein Messer oder so was herüberwerfen würde. Als ich es das viertemal versuchte, machte das Boot einen Ruck. Der reichte gerade aus, um mich aufs Gesicht fallen zu lassen. Aus dieser Stellung konnte ich mich auf die Knie rappeln und Mich dann vorwärts bewegen, bis ich ans vordere Ende der Kajüte kam, bis zur Klinke am Messerschrank. Vielleicht erinnern Sie sich, daß diese Klinke eine scharfe Kante hat. Und dann arbeitete ich eben mit meinen Handfesseln an der Kante solange hin und her, bis ich sie zerschnitten hatte. Dann nahm ich mir den Knebel aus dem Munde und löste die Fesseln an meinen Füßen.«

»Verdammt noch einmal! Da müssen Sie aber nachher erledigt gewesen sein!« rief Rudd bewundernd aus. »Kein Wunder, daß Sie so erschöpft aussahen, als wir Sie fanden.«

Normann lächelte. »Das war noch die leichteste Arbeit vom Ganzen gewesen. Ich war kaum meine Fesseln los, als ich Stimmen auf dem Deck oben hörte. Anscheinend kam jemand, um nach mir zu sehen. Eine Minute lang wußte ich nicht: sollte ich warten und versuchen, sie zu überwältigen, oder sollte ich mir die Riemen wieder umlegen und so tun, als wäre ich noch gefesselt. Ich entschloß mich zu dem zweiten als dem sicherern, legte mir schnell die Bindsel um die Gelenke und steckte den Knebel in den Mund.

Als ich mich wieder auf den Boden geworfen hatte, war auch schon Menon mit Caverly und dem Steuermannsmaat da. ›Normann,‹ sagte er, ›ich habe Mr. Caverly mit herübergebracht, damit Sie aus seinem eigenen Mund hören können, daß der Skipper mit Dr. Barlow nach Westen marschiert und mir den Auftrag geschickt hat, den ›Erik‹ nach Hause zu führen.‹ Dann nahm er mir den Knebel aus dem Mund und fragte: ›Haben Sie was zu sagen?‹

›Nichts weiter, als was ich schon gesagt habe: daß ich Caverly für einen Lügner halte; und was ich von Ihnen denke, will ich lieber verschweigen.‹

»Das war gut!« platzte Rudd heraus. »Da wird er wohl gewußt haben, wie er dran ist.«

.

»Das will ich meinen. Er war so wütend, daß er ein paar Minuten überhaupt kein Wort herausbringen konnte. Der süße Reggie war dafür, mich an Deck bringen und mich irgendwie bestrafen zu lassen – ich glaube, er dachte an die gute alte neunschwänzige Katze. Aber Menon beherrschte sich und knebelte mich schließlich doppelt so fest als vorher. ›Er muß noch ein bißchen behandelt werden,‹ sagte er zu Caverly, und dann gingen sie. Ich wartete, bis sie auf Deck waren, und warf die Fesseln wieder ab. Ich überzeugte mich davon, daß zirka dreißig Gallonen Petroleum im Tank waren. Das war genug, um zurückzukommen, sobald ich das Boot frei kriegte. Als alles still war, kappte ich die Leine. Da der ›Erik‹ so an die sechs Knoten machte, fiel ich ziemlich schnell ab. Aber es war ganz windstill, und deshalb traute ich mich nicht, den Motor anzuwerfen, weil sie das gehört hätten. Dann begann es zu schneien. Ich ließ die Maschine anlaufen und nahm Kurs auf den ›Erik‹-Hafen. Aber da der Kompaß fast ganz im Blink war, kam ich zu weit nach Norden und hatte Mühe, mich zu orientieren. Ich kehrte um und fuhr die Küste hinunter, bis ich in der richtigen Höhe zu sein glaubte, und drehte bei. Dann fing's zu blasen und zu triften an, daß ich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Schließlich lief ich hier auf die Felsen. Das Petroleum war auch gerade ausgegangen, mir blieb also nichts übrig, als an Land zu waten. Mich niederzulegen und zu schlafen, durfte ich nicht wagen. Menon hatte alle Decken vom ›Polarstern‹ entfernen lassen. Ich wäre erfroren, wenn ich am Strand geblieben wäre; andererseits war es an Bord des aufgelaufenen ›Polarstern‹ sehr unsicher. Das einzige, was ich tun konnte, war, zum Proviantlager zu gehen, um eventuell einen von euch zu finden. Als ihr auftauchtet, war ich gerade vom Hügel zurückgekommen, auf dem ich nach einer Spur gesucht hatte.«

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Als diese lange Erzählung beendet war, lehnte Dr. Barlow sich vor und streckte die Hand aus. »Normann,« sagte er, »Sie sind ein Prachtkerl.«

Rudd schüttelte ihm ebenfalls die Hand. »Ganz meine Ansicht, alter Junge,« rief er, »und wir werden die Aasbande schon noch kriegen, darauf können Sie sich verlassen!«


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