Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Der ›Polarstern‹

Auf dem Deck des ›Erik‹ war mitschiffs unmittelbar vor dem Brückenstreben ein großes Motorboot festgemacht, das die Regierung dem Schiff zur Aufklärungsarbeit in den Untiefen und engen Passagen mitgegeben hatte.

Der ›Polarstern‹ – so hieß das Boot – war eine vierzig Fuß lange verdeckte Barkasse, deren Bau genau dem des ›Erik‹ entsprach. Ihr plumper, stumpf geschweifter Bug, das massive Verdeck und der kräftige Rumpf machten sie wirklich zum kleineren Ebenbild des Walfischfängers. Sie war mit einer starken Zwölfzylindermaschine ausgerüstet, die sowohl mit Gasolin, als auch mit Petroleum betrieben werden konnte. Ein kurzer Mast im Vorschiff ermöglichte es, Segel zu setzen für den Fall, daß die Maschine versagen sollte, oder um dem kleinen Fahrzeug bei schwerer See ruhigeren Gang zu geben.

Als Rudd wieder aufs Schiff kam, wurden Vorbereitungen getroffen, um den ›Polarstern‹ aufs Wasser bringen zu können, sobald man die Fahrstraßen nach dem Westen erreicht hätte. Man hatte vor, die Baffin-Bai zu durchqueren, dem Lancaster-Sund zu, der die Einfahrt zu einem wirren Inseldurcheinander, dem arktischen Archipel, bildet.

Rudds Wut über das Gespräch, das er vor dem Eskimozelt belauscht hatte, verdoppelte sich, als er sah, wie herzlich Dr. Barlow Menon und Reggie bei ihrer Rückkunft begrüßte. Der Doktor war viel zu anständig, um an dem Komplott teilzunehmen, das Rudd argwöhnte; aber er war den beiden Schurken ins Garn gegangen, und Rudd sah ein, daß es ganz aussichtslos wäre, es noch einmal mit ihm zu versuchen. Boggs auszufragen, war natürlich ganz unmöglich, er war vom ersten Offizier zu sehr eingeschüchtert. Professor Deal ging seit der Ankunft vor Kap York ganz in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf, und Normann hätte wahrscheinlich Menon als seinen Vorgesetzten unter allen Umständen zu decken versucht.

Blieb also nur Kapitän Pike. Rudd war überzeugt, daß der Skipper ihn wenigstens anhören würde. Gleich nach dem Abendessen ging er in die Kajüte, wo er ihn über den Karten fand.

»Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen, Kapitän?«

Der Skipper nahm seine Brille ab und starrte Rudd an. »Heilige Buline, haben Sie auch Halluzinationen?« Dann wurde er ernst. »Raus damit, mein Junge!«

Rudd erzählte, was er wußte.

»Ich hörte Boggs zu Mr. Menon sagen, daß er in Dr. Barlows Zimmer die Karten gesucht hätte, um nachzusehen, ob wir durch die Nordwestpassage kommen können oder nicht. Ich bin überzeugt, Mr. Menon will eine Meuterei an Bord des ›Erik‹ in Gang bringen und uns so daran hindern, die Fahrt zu Ende zu bringen.«

Kapitän Pike sah dem jungen Mann forschend in die Augen. »Rudd, kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Das können Sie, Kapitän.«

»Dann will ich Ihnen sagen, daß Ihre Vermutung falsch ist. Ich habe in der Mannschaft einige Leute, die schon viele Jahre unter mir fahren. Die würden für mich durch Höllenfeuer gehen. Diesen Leuten sind jedem tausend Dollar angeboten worden, aber nicht zum Meutern, sondern damit sie blind allen Befehlen, die sie bekommen, gehorchen.«

»Von Ihnen bekommen, Kapitän?« fragte Rudd verdutzt.

»Ja, Befehle von mir. Das Rätselhafte dabei ist, daß nicht ich das Angebot gemacht habe. Mr. Menon hat es gemacht. Der Schuft!« Kapitän Pike ließ seine riesige Faust so schwer auf den Tisch niederfahren, daß die Karten ein paar Zoll hoch in die Luft sprangen. »Glaubt er, daß er mich dazu bringen kann, an einer Gaunerei teilzunehmen?«

»Aber was war denn sein Plan dabei?«

»Dahinter kann ich nicht kommen. Meuterei würde keinen Zweck haben, wenigstens keinen vernünftigen. Für eine erfolgreiche Goldsuche ist das Schiff nicht ausgerüstet, für Handelszwecke auch nicht, obwohl dieser Mr. Menon vielleicht die großartige Idee gehabt hat, daß er durch Ausbeuten der Eskimos zu 'nem schönen Stück Geld kommen kann. Aber auch das würde ihn lange noch nicht instand setzen, meinen Leuten einige zwanzigtausend Dollar bar anzubieten.«

»Sie wollen also zunächst nichts in der Sache unternehmen, Kapitän?« fragte Rudd, aber in so geärgertem Ton, daß Kapitän Pike wieder in sein lärmendes Gelächter ausbrach.

»Doch, doch, mein Junge. Mancher Kapitän hätte sich 'n Topp Plackereien erspart, wenn er den Sturm vor Losbrechen erkannt hätte. Ich werde Dr. Barlow seine vorläufige Untersuchung des Lancaster-Sund beschleunigen lassen. Dann werde ich die Mannschaft achtern versammeln und ihnen die Verhältnisse so erklären, daß sie verstehen müssen. Ich selbst werde auf dem ›Polarstern‹ nach dem Eis aussehen. Die Leute haben Vertrauen zu mir. Wenn ich ihnen sage, wir kommen durch, so gehen sie mit mir, und wenn ihnen der verdammte Kerl, der Menon, eine Million anbietet. Sie wissen, daß er schon faule Sachen hinter sich hat, und daß er noch einmal ins Kittchen fliegen kann, wenn er so weiter macht.«

Rudd fühlte sich durch die Worte des Skippers sehr beruhigt; es schien ihm, als müßte alles gut gehen, wenn man Kapitän Pike an Bord hatte. Sein ganzes Leben lang hatte der mit Stürmen gekämpft; er hatte Meutereien niedergeschlagen; er hatte Schiffbruch erlitten; fünfmal war er schon als verschollen gemeldet! Kein Wunder, daß er dem »verdammten Hund«, wie er seinen ersten Offizier nannte, über war.

Deshalb behielt Rudd auch seine Ruhe, als er Caverly sah, der auf dem Verdeck des ›Polarstern‹ saß.

»Hallo, Reggie!« rief er.

Aber Caverly merkte kaum, daß er angerufen wurde. Er war ganz von irgendeinem Vorgang im Innern des Motorbootes gefesselt. Er starrte angestrengt in den kleinen Maschinenraum, als wollte er die Wirkungsweise des Motors studieren.

Ein paar Minuten später tauchte Menon aus dem Bootsinneren auf und wischte sich die Hände an einem Fetzen ab. Als er Rudd erblickte, grinste er etwas albern und sagte: »Hübsches Boot, was? Habe gerade Caverly gezeigt, was für 'ne saubere Maschinenanlage es hat.«

Die Baffin-Bai zeigte sich bei der Überfahrt völlig eisfrei. Nach sechsunddreißig Stunden auf glasiger See war der ›Erik‹ am Eingang des Lancaster-Sundes. Hier erwiesen sich die Eisverhältnisse wieder als so günstig, daß nach einer Konferenz zwischen Dr. Barlow und Kapitän Pike der Beschluß gefaßt wurde, so weit vorzudringen, als das offene Wasser es zulassen würde.

Erst am Nordende der Boothia-Felix-Halbinsel hinderte etwas den ›Erik‹ ernsthaft am Weiterkommen. Hier, wo Amundsen vor vielen Jahren überwintert hatte, gab es einen kleinen geschützten Hafen, in dem der ›Erik‹ vor Anker gehen und seinen Süßwasservorrat erneuern konnte.

Gleich nach dem Ankerwerfen hatte Kapitän Pike die Lademaschine unter Dampf setzen, die Krane auslegen und den ›Polarstern‹ zum Aufwasserbringen anheben lassen. Sein großes Gewicht machte diese Arbeit schwierig und gefahrvoll; aber schließlich lag er auf dem Wasser, schmuck und sauber, zur Ausfahrt klar.

Dr. Barlow rüstete die kleine Expedition aus. Da er und Kapitän Pike sowohl nach Südwesten zur Viktoriastraße als nach Nordwesten zum Mc Clintoc-Kanal wollten, waren Vorräte für mindestens eine Woche erforderlich.

Der Proviant bestand zum größten Teil aus Pemmican und hartem Zwieback. Pemmican ist eine Konserve aus Rindfleisch und Talg, mit Zucker und Rosinen gewürzt. Das einzige Getränk sollte Tee sein.

Kapitän Pike, Dr. Barlow und Rudd waren zur Fahrt bestimmt. Boggs bat, als Maschinist mitgenommen zu werden, wohl weil er Angst davor hatte, mit Menon auf dem Schiff zu bleiben. Dieser sollte eigentlich auch mit, und Kapitän Pike hätte auch darauf bestanden, trotz der schweren Erkältung, an welcher der erste Offizier zu leiden behauptete, aber nachdem Dr. Barlow ausdrücklich gesagt hatte, Menon dürfte sich zunächst keinerlei Strapazen aussetzen, mußte er sich fügen. Schließlich löste der Skipper die Schwierigkeit, indem er anordnete, daß der angebliche Kranke auf die Marodenliste kommen und Normann das Kommando übernehmen sollte.

In letzter Minute kam noch Caverly dazu. Rudd hätte es lieber gesehen, wenn der Zierbengel an Bord geblieben wäre. Aber dieser hatte darauf gedrängt, indem er Dr. Barlow immer wieder erinnerte, wieviel Geld sein Vater zur Verfügung gestellt hätte, so daß man ihm schließlich erlaubte mitzukommen. Rudd tröstete sich mit dem Gedanken, daß Reggie und Menon auf diese Weise wenigstens einige Tage lang getrennt wären; in der letzten Woche hatten sie sehr viele lange und verdächtig heimliche Unterredungen gehabt.

Boggs ließ die Maschine anlaufen, und das Boot schoß davon. Die Mannschaft rief Hurra, als der stämmige, kleine ›Polarstern‹ sich vom ›Erik‹ entfernte, und Normann, der jetzt das Kommando hatte, schwenkte auf der Brücke seine Kappe. Der erste Offizier war nirgends zu sehen. Wenn er sich überhaupt etwas aus der Trennung machte, so zeigte er es nicht.

»Entschieden haben wir eine eisfreie Saison erwischt,« meinte der Skipper, als sie durch die offenen Gewässer im Westen von Boothia-Felix fuhren. »Ich glaube fast, wir hätten ganz ruhig mit dem ›Erik‹ weitermachen können.«

Aber der Skipper täuschte sich. Das sollten die Ereignisse bald beweisen. Rudd war gegen Mitternacht auf Wache, während die anderen schliefen. Obgleich der ›Polarstern‹ ziemlich unter der Küste geankert hatte, bestand die Gefahr, daß eine große Scholle herantreiben und ihn stranden könnte. Rudd war gerade nach vorn gegangen, um sich zu überzeugen, ob der Anker hielt, als ihn eine Bö packte, die ihn fast über Bord geschleudert hätte. Nichts hätte überraschender kommen können. Einen Augenblick vorher noch war die See ganz still gewesen. Jetzt war sie mit weißen Schaumstreifen überzogen. Während er sich noch überlegte, ob er mehr Kette schießen lassen oder den Skipper wecken sollte, sah er eine Sturmbö, die keine tausend Yards entfernt war und sich mit rapider Geschwindigkeit näherte. Sie jagte auf den hilflosen ›'Polarstern‹ zu und trieb ein halbes Hundert gefährlich aussehender Eisfelder vor sich her.

»Alles heraus!« gellte Rudd und stürzte zum Gangspill.

Zehn Minuten später hatten alle mit vereinten Kräften den Anker hoch bekommen, und Boggs brachte seine Maschine in Gang, gerade bevor die Eisschollen das Boot erreichten. Der ›Polarstern‹ wendete und lenkte vor dem Wind, einem typischen Sommersturm der Arktis. Im Norden, ungefähr eine Meile weit, lag ein auf Grund gelaufener Eisberg. Wenn es gelang, hinter ihm in Lee zu kommen, bevor das Boot vollgelaufen war, hatten sie Aussicht, davonzukommen.


 << zurück weiter >>