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9. Verrat!

Eine Menge Vorräte hatte der ›Erik‹ ausgeschifft. Mindestens sechzig Kisten Konserven aller Arten waren da, darunter vier Fässer Salzfleisch und vierzig Kannen Petroleum. Einige Pemmicankisten waren von den Bären aufgebrochen worden, ebenso zwei große Eimer Melasse. Offenbar waren die Bären, als Boggs dazu kam, gerade im besten Zug, das ganze Proviantlager zu demolieren.

»Wie in drei Teufels Namen sind Sie auf die Idee gekommen, ohne Waffe hier herunterzugehen?« fragte Rudd.

Boggs, der von dem eben durchgemachten Schrecken noch ganz zerschlagen war, suchte zu erklären, daß er jemand von der Mannschaft zu sehen geglaubt hatte. »Ich sah, wie sich im Lager was bewegte,« sagte er, »und da dacht ich, es wäre einer von den Jungens, der in derselben Lage ist wie wir. Und wie ich die Kisten rücken hörte, da war ich sicher, daß er sich Abendbrot oder so etwas richtet. Na, und da machte ich hinunter. Ich sprang gerade mitten in die Bestien hinein, fast wär' ich auf dem Rücken der Dame gelandet.«

»Na, sie hat Sie nicht gekriegt,« lachte Rudd. »Wir müssen jetzt ein Verzeichnis von den Sachen da für den Skipper machen, dann werden wir uns ausruhen und sobald als möglich den Rückmarsch antreten. Natürlich müssen wir sorgfältig suchen, ob nicht vielleicht irgendeine Nachricht da ist, aber in dem Durcheinander wird nicht leicht was zu finden sein.«

»Warum haben die uns eigentlich Futter dagelassen, was meinen Sie?« fragte Boggs nachdenklich. »Ich habe gemeint, daß der Hund uns so schnell als möglich krepieren lassen wird, wenn er das Schiff klaut.«

Rudd schüttelte den Kopf. Das Rätsel war größer denn je.

Boggs bückte sich plötzlich und hob etwas aus dem Schnee auf. »Was ist das, Sir?« Er hatte ein zerrissenes Kuvert in der Hand. Rudd griff danach und ließ es dann enttäuscht sinken. »Leer!«

Es war klar, daß in dem Umschlag eine Nachricht gewesen war. Es war an den Kapitän adressiert, und unter seinem Namen stand noch: »Nur vom Skipper zu öffnen!«

»Ich glaube nicht, daß Menon die Unverschämtheit aufbringen würde, ihn per ›Skipper‹ anzureden,« bemerkte Rudd. »Das sieht mir so aus, als ob noch jemand anderes seine Hand im Spiel hätte.«

Neugierig geworden, suchten sie sorgfältig und systematisch alles nach einer Spur des Briefes ab, der in dem Kuvert gewesen sein mußte. Alles, was sie fanden, waren zwei Fetzchen Papier, beide beschrieben. Auf dem einen stand ein halber Satz: » der ›Erik‹ unglückseligerweise zermalmt ...«; auf dem anderen nur die Worte: » fürchterliches Schicksal«.

»Entweder ist das Schiff in irgendwelche Schwierigkeiten geraten,« schloß Rudd aus den Bruchstücken, »oder es handelt sich um einen Schwindel, mit dem das Wegfahren bemäntelt werden soll.«

»Wir können jetzt nichts tun als Lager machen und uns in Form bringen, damit wir zum ›Polarstern‹ zurückgehen können. Häuten Sie den Bären ab, ich werde unterdessen eine Art Hütte aufstellen.«

Während Boggs also das schöne Fell des Bären abzog, machte Rudd aus Kisten vier Wände. Darüber legte er eine Persenning, die wohl ursprünglich über die Vorräte gebreitet worden war. Sie war zwar von den Bären übel zugerichtet, aber da er Nähzeug in seinem Rucksack hatte, konnte er sie provisorisch flicken. Die Persenning beschwerte er mit schweren Steinen, um das Dach gegen Sturm zu sichern.

»Das gibt 'n feines Bett,« sagte Boggs so stolz, als hätte er den Bären selbst geschossen. »Ich hab' schon früher auf solchen Fellen geschlafen, die man verwenden kann, ohne daß immer die Haare ausfallen.«

»Es ist merkwürdig, daß sie uns gar keine Munition dagelassen haben,« bemerkte Rudd. »Von diesem Konservenzeugs allein können wir nicht leben. Wenn wir nicht verhungern, werden wir alle Skorbut haben, bevor der Winter um ist.«

»Vielleicht haben die ... die Mörder geglaubt, wir schießen auf sie, wenn sie zurückkommen.«

»Möglich,« begann Rudd und unterbrach sich gleich. »Nanu, was ist denn das?«

Er hatte ein Kuvert in der Hand, das genau so aussah wie das an Kapitän Pike adressierte; wenn auch vom Schnee feucht geworden, war es doch unverletzt; es war deutlich zu sehen, daß ein zusammengefaltetes Stück Papier darin war. Es war versiegelt und hatte die Aufschrift: »Für Mr. R. Caverly.«

»Bei allen Göttern und Teufeln,« platzte Rudd los, »sie haben die Frechheit gehabt, einen versiegelten Brief für Caverly hier zu lassen; und dazu mußte dieser Menon doch ganz genau wissen, daß ich die Intimität zwischen ihm und dem Burschen beobachtet habe.«

»Sollen wir ihn nicht aufmachen? Vielleicht steht drin, wo das Schiff ist.«

»Kann sein,« sagte Rudd und begann, das Kuvert an einer Ecke aufzureißen. Plötzlich hielt er ein. Es war ihm eingefallen, daß Menon unmöglich so dumm sein könnte. Wenn er Reggie irgendeine Botschaft zukommen lassen wollte, die dem Burschen Vorteile über die anderen Mitglieder in die Hand gab, so würde er es sicherlich nicht in Form eines für alle verständlichen Briefes tun, zu dessen Auslieferung Reggie mit Gewalt gezwungen werden konnte.

»Nein, ich glaube, ich werde lieber warten,« erklärte Rudd. »Von dem Brief können wir nur was haben, wenn wir Caverly beim Lesen zuschauen.«

»Hören Sie mal, junger Herr,« grinste Boggs, »Sie haben ja'n Kopf wie Sherlock Holmes.«

Als sie aufbrachen, war der Himmel bedeckt, und alles wies darauf hin, daß es wieder schneien würde. Aber es war sehr dringend, zu den anderen zurückzukommen, und da sie mehr Proviant mitnehmen konnten, hatten sie die Möglichkeit, im Notfall irgendwo zu übernachten. Boggs baute aus einer der kleinen Kisten einen Schlitten, der sie instand setzte, das halbe Bärenfell und etwas von dem gefrorenen Fleisch mitzunehmen.

Der Rückmarsch verlief ohne Zwischenfall.

Sie fanden den ›Polarstern‹ in dem kleinen Schlupfhafen, in dem sie ihn verlassen hatten. Nichts deutete darauf hin, daß Leben auf ihm war.

»Boot ahoi!« rief Rudd. Das kleine Beiboot – das einzige Mittel, an Bord zu gelangen – war am Hinterteil des ›Polarsterns‹ angetäut.

»He, heraus!« brüllte Boggs. »Wir sind zurück.«

Keine Antwort. Kein Laut der Begrüßung, keine Bewegung auf Deck oder in der Kajüte.

»Also,« sagte Boggs mit scheuer Stimme, »diesmal hat's geschnappt. Wir sind verhext. Die sind weg, die auch, und haben uns im Stich gelassen – gerade uns!«

»Ach, Unsinn,« fuhr ihm Rudd über den Mund und machte sich daran, seine Stiefel auszuziehen. »Ich schwimme hinüber.«

»Was!« japste Boggs entsetzt.


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