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22. Das stille Schiff

Es wurde nicht direkt auf den ›Erik‹ Kurs genommen, sondern auf eine Kette von Eisbergen im Norden.

»Das ist sicherer,« sagte der Doktor. »Wenn wir sie zuerst sehen und uns einen Begriff davon machen können, was sie vorhaben, ist das entschieden ein taktischer Vorteil für uns.«

Normann fügte hinzu, daß es seiner Ansicht nach leichter sei, die Meuterer auf dem Schiff zu überwältigen, als der Doktor glaubte. »Ich weiß nämlich, daß Menon sie weniger strengen Dienst machen läßt als Kapitän Pike.«

»Aha, er will sich beliebt machen!« rief der Skipper.

Normann hatte nicht das geringste Interesse für die philosophische Betrachtungsweise des Doktors und setzte seinen Plan weiter auseinander. »Auf jeden Fall ist damit zu rechnen, daß nur ein Mann auf Wache sein wird, und auch der schläft wahrscheinlich bei der Disziplin, die jetzt an Bord herrscht. Wir können vermutlich bis ans Schiff segeln, ohne gesehen und gehört zu werden. Wenn wir an Bord kommen und die Vorderdeckluke besetzen, bevor die Leute erwachen, haben wir das Schiff in unserer Gewalt.«

Je näher der ›Polarstern‹ an den ›Erik‹ kam, desto günstiger sah es aus. Das Schiff lag nach Norden zu und schien aus irgendeinem Grunde abgestoppt worden zu sein. Südlich von ihm trieb ein unregelmäßiger Haufen Eisberge, deren jeder viel größer war als das kleine Fahrzeug. Ungefähr drei Meilen unterhalb dieses Haufens schwaite der ›Polarstern‹ und nahm Kurs auf das Schiff. Da die Brise gerade stark genug war, die Barkasse steuerfähig zu erhalten, hielt sie mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als drei Knoten auf den ›Erik‹ zu. Das verlegte die Zeit des Angriffs auf ungefähr zwei Uhr früh.

»Gerade richtig,« meinte Dr. Barlow. »Da wird der Bursche, der die Hundewache hat, gut verschlafen sein, und die unten werden in ihren Kojen feste schnarchen.«

»Um ein Uhr dreißig schüren sie Feuer,« sagte Boggs.

»Die haben nicht geschürt, seit ich das Schiff gesehen habe,« knurrte der Skipper. »Nicht ein Rauchwölkchen ist aus dem Schornstein gekommen.«

Rudd fragte: »Halten Sie es für möglich, daß sie das Feuer haben ausgehen lassen?«

Normann schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Auch Menon weiß, daß es zu gefährlich wäre, keinen Dampf im Kessel zu haben, wenn das Eis nicht ganz fünfzig Meilen weit ist. Wenn er eingeschlossen wird, kann er ohne Maschinenkraft nicht raus. Außerdem sind die Leute unten, wie ich Ihnen gesagt habe, nicht für den ersten Offizier. Die besorgen ihre Kessel, ob er sich beliebt machen will oder nicht.«

»Sieht ganz verlassen aus, nicht?« Rudds scharfe Augen suchten jeden Zoll ab, der von Deck, Takelage und Schanzkleid zu sehen war.

»Na ja, wie ich Ihnen gesagt habe. Können Sie den Mann am Ruder sehen?«

»Ja, ich glaube. Nein – das ist etwas wie eine Kiste, die sie neben dem Rad aufgestellt haben.«

»Aha, ein Schutz für den armen Kerl auf Wache. Noch was, um sich beliebt zu machen. Haben ihm eine kleine Kambüse gebaut, damit er drin ein kleines Nickerchen machen kann, während die Sicherheit des Schiffes von ihm abhängt. Feine Sache für einen Seemann – was?« Alle Verachtung, die er nicht in Worte fasten konnte, legte Normann in den Ton der Rede.

Da das Motorboot bald nur noch eine Viertelmeile vom ›Erik‹ entfernt war, wurde nur noch im Flüsterton gesprochen. Mit größter Sorgfalt wurde darauf geachtet, kein Gewehr auf das Deck zu stoßen und auch jeden anderen unnötigen Lärm zu vermeiden, der den ahnungslosen Meuterern das Nahen des ›Polarsterns‹ hätte verraten können.

»Alles fertig halten!« kommandierte der Doktor flüsternd.

Fast ohne die Wasserfläche zu kräuseln, schwamm die Barkasse näher und näher. Die Nacht war ruhig und hell. Im Nordosten flammte tief unten am Horizont das Feuerrad der Mitternachtssonne. Ab und zu erscholl das entfernte Rumpeln eines kenternden Eisberges, oder das Scharren und Kratzen schwerer Schollen, die sich aneinander rieben.

Das Schiff schien ganz tot zu sein. Es machte nicht, wie man auf dem Boot eine Zeitlang vermutet hatte, Fahrt, sondern lag ganz still im Wasser. Der Steuermann schien Gefallen an seiner Schutzkiste gefunden zu haben, denn seit der Ausschau vom Eisberg hatte niemand ihn auch nur einmal herauskommen gesehen. Aber selbst wenn er es getan hätte, war es sehr unwahrscheinlich, daß der ›Polarstern‹ gesichtet worden sei. Er war weiß, und seine Passagiere standen regungslos wie Statuen auf Deck. Jeder, der nicht schon einen Verdacht hatte, mußte ihn für ein Stück schmutziges Treibeis halten.

Hundert Yards vom Schiff gab Dr. Barlow das Zeichen, den Mast auszunehmen. Sofort wurden die Hoftaue gelöst, und Rudd, Normann und Boggs hoben die leichte Spiere aus der Spur. So vorsichtig gingen sie dabei zu Werke, daß nicht ein Schürfen zu hören war, als der Mast niedergelegt und mit einem leichten Zurring an Deck gesichert wurde. Dann nahm Normann den Robbenhautriemen mit dem Harpunenschaft und sie gingen achtern, um nachzuhelfen, falls das Boot vom Schiff abtreiben sollte. Aber das Glück war auf ihrer Seite. Der ›Polarstern‹ schwamm weiter, bis er an der Windvierung des ›Erik‹ war. Rudd stand im Bug und brachte die Barkasse in genau parallele Lage zum Schiff. Bis jetzt kein Ton, kein Lebenszeichen an Deck des ›Erik‹. Im Boot standen alle fertig zum Entern, die Gewehre geladen, die Hähne gespannt. Gleichzeitig aber waren alle Dr. Barlows Instruktionen gemäß bereit, die größte Freundschaftlichkeit an den Tag zu legen, für den Fall, daß die Art ihres Empfanges das erlauben sollte.

Dr. Barlow hob die Hand – das Zeichen für Normann, über die Reling zu gehen. Er hatte die Aufgabe, die Vorderdeckluke zu sperren. Rudd folgte unverzüglich mit seinem und Normanns Gewehr. Dann kamen er und Kapitän Pike. Boggs blieb auf dem ›Polarstern‹, der gesichert bleiben mußte, wenn das bevorstehende Gefecht schwieriger werden sollte, als man voraussah.

Rudd und die beiden anderen blieben im Schutze des Deckhauses, bis Normann mit der Meldung kam, daß die Luke gut verschlossen sei. »Nicht ein Laut von unten!« flüsterte er.

.

»Alles fertig?« fragte der Doktor, seine kleine Entermannschaft musternd. Er blickte in entschlossene Gesichter. »Also los!« kommandierte er leise.

Rudd und Normann stahlen sich nach Steuerbord hinüber. Der Skipper und Dr. Barlow schlichen auf den Fußspitzen Backbord entlang.

Die Brücke war leer. Was sie für eine Art Postenhaus gehalten hatten, war ganz einfach ein Stapel Packkisten.

Schnell gingen die vier Enterer achtern. Unter der Führung Dr. Barlows stiegen sie in die Kajüte hinunter. Wie auf der Brücke war auch hier kein Mensch.

»Maschinenraum untersuchen!« ordnete der Doktor an.

Rudd und Normann sprangen hinaus und kletterten die Leiter hinunter.

Der Maschinen- und der Heizraum waren ebenfalls leer.


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